Dass sich so schnell ein Termin für das Interview finden ließ, kann einen fast schon wundern: Am frühen Morgen habe er in Berlin den Flieger nach Luxemburg genommen und am nächsten Tag will er schon weiter nach Barcelona. Dafür wirkt er sehr entspannt. Sonne, Terrasse, Espresso.
Er fühle sich in vielen Städten zu Hause, sagt Francesco Tristano Schlimé, in Luxemburg und Barcelona natürlich, zwischen denen er hin und her pendelt, dann New York, wo er von 1998 bis 2002 an der Juilliard School studiert hat. Vor kurzem hat er einen Monat in Japan verbracht, erzählt begeistert von der Verbindung zwischen Traditionsbewusstsein und rasanter technologischer Entwicklung, von Tokyo und Osaka, von der schieren Größe dieser Städte. Da gäbe es erst einmal nichts, woran man sich halten könne, man verstehe die Sprache nicht, man habe kein Gefüge, auf das man zurückgreifen könne, um sich zurechtzufinden.
Ob man sich da nicht sehr verloren vorkäme, will ich wissen. Doch, sagt er ohne zu zögern, aber das sei ja gerade das Faszinierende daran. Die Beziehungen zu seiner Umwelt müsse man ganz aus sich heraus herstellen, diese Beziehungen seien dafür „ehrlich“.
Fast könne man meinen, er habe schon angefangen, über seine Musik zu sprechen, sage ich, über die Art nämlich, wie er klassische und elektronische Musik miteinander verbindet, in seinem Lebenslauf als Ganzem, aber im Einzelnen vor allem auch in seinem Solo-Projekt mit eigenen Kompositionen, die er unter dem Namen „Francesco Tristano“ beim französischen Label Infiné herausbringt. Kurz scheint er sich über diese Beobachtung zu wundern, und ich rechne schon mit Zustimmung –, doch dann lässt er mir die Kategorisierung doch nicht durchgehen. Die Bezeichnung „klassische“ Musik findet er suspekt. Genreunterscheidungen seien ja weniger in der Sache begründet; da handele es sich vielmehr um rein pragmatische Differenzierungen. „Klassische“ Musik werde in gewisser Hinsicht zeitgenössisch dadurch, dass man sie sich in der Interpretation aneigne und sie verinnerliche. Man solle „klassische“ Musik nicht als „Museumsmusik“ betrachten, als etwas Unantastbares, eine Vorgabe wie hinter Glas, die der Interpret nur stumpf auszuführen hätte.
Er gerät über diesem Bild ein wenig ins Dozieren –, vermutlich ein unvermeidbarer Nebeneffekt einer Interviewroutine, die man ihm durchaus anmerkt; eine heitere Gelassenheit, ein sehr bestimmtes Gefühl für das, was er sagen will. Über die Kategorien zum Beispiel, mit denen ich ihn traktiere: der Frage nicht nur nach seinem Verhältnis zu verschiedenen Genres, sondern auch nach den Facetten seines Daseins als Musiker, nach Komposition und Interpretation (er ergänzt: und Variaion). Die Trennung zwischen diesen Bereichen interessiert ihn nicht, sagt er; er empfindet sie als künstlich. Die sogenannten „klassischen“ Stücke gehe er mit genau der gleichen Haltung an wie seine eigenen.
Dass das keine Lippenbekenntnisse sind, erkennt man mit einem Blick auf die Liste seiner Aufnahmen als Pianist (allein und mit Orchester), als Dirigent und Pianist mit seinem Ensemble The New Bach Players, als Solokünstler mit eigenen Kompositionen und als Mitglied der Formation Aufgang: Ganz viel Bach („Bach ist immer dabei“), Haydn, Ravel, Prokofjew, Strawinsky, Debussy und Berio sogar systematisch, dann die unvermeidlichen Referenzen auf Glenn Gould und das ganze weite Feld der elektronischen Musik –; man wäre versucht, seine musikalische Ausrichtung als „eklektisch“ zu bezeichnen, wenn diese Bezeichnung nicht wieder eine ursprüngliche Trennung zwischen diesen einzelnen Interessen und thematischen Gewichtungen voraussetzen würde.
Hier geht es nicht um Erbsenzählerei. Das Problem mit diesen behelfsmäßigen Aufteilungen liegt darin, dass sie Grenzen ziehen, wo nicht notwendig Grenzen bestehen, dass sie die Freiheit sowohl im Schaffen als auch in der Interpretation (ganz zu schweigen von der Rezeption) erheblich beeinträchtigen können. An diesem großen Wort, an der Freiheit, liegt ihm viel. Sie ist das Hauptargument in seiner Abwehrhaltung gegen Partituren der Romantik, die dem Klavierspieler vorschreiben, mit welchem Gefühl er ein Stück zu spielen hat. Interpretation, sagt er, sei die Gestaltung eines Moments. Darin, dass sie offene Partituren hätten, glichen seine Stücke denen des Barock; sie schrieben eben nicht alles bis ins letzte Detail fest. „Spielanweisungen“, nennt er sie, die eine Vorstellung davon geben, wie das Stück klingen soll, dabei aber Raum für die jeweilige Vortragssituation lassen.
Mit der Einschränkung, dass die Partitur selbst nicht immer so viel Freiraum lässt, gilt das auch für die Interpretation „klassischer“ Stücke. Man darf nicht nachspielen, sagt er, man darf dem Publikum nicht einfach das geben, woran es gewöhnt ist. Die historische Interpretation lehnt er ab. Da gäbe es kein Richtig oder Falsch; Interpretationen sollten vor allem „ehrlich“ sein. Wieder dieses Wort. „Ehrlich“ meint, glaube ich: unverfälscht, eigenständig, authentisch. Hier blitzt die Kehrseite der für den Vortrag geforderten Freiheit auf: die Verantwortung, die der Interpret mit jeder Aufführung oder Einspielung eines Stücks übernimmt, der Anspruch und die Herausforderung, etwas Neues und Eigenes damit zu schaffen.
Er schüttelt den Kopf über Leute, die es bereits als Skandal empfänden, Bach auf dem Klavier zu spielen, statt auf dem Cembalo. Bach könne man auf jedem Instrument spielen.
Sentimentalitäten sind seine Sache nicht (oder vielleicht eher: die Darstellung von Sentimentalitäten). Schon während wir uns über seinen Werdegang unterhalten, meint er, aus nostalgischen Rückblicken könne man nicht viel lernen, unterbricht sich dann aber, als er im Erzählen über New York unversehens ins Schwärmen gerät, muss über sich selbst lachen, weil er ja jetzt doch ganz nostalgisch wird.
Über das Klavier spricht er die meiste Zeit betont sachlich, fast schon salopp: Das Klavier sei eine „super Maschine“ sagt er zum Beispiel, ein „enormer Kasten“, der viel mehr zu bieten habe als die Klänge seiner achtundachtzig Tasten. Er nennt es auch ein „technologisches Instrument“, das eine rasante Entwicklung bis hin zum Synthesizer und zur elektronischen Musik mitgemacht habe. Die Verbindung von „Klavier und Electronics“ steht im Mittelpunkt seiner eigenen Musik, die Rekontextualisierung des Klaviers, wenn man so will. Das ist keine Metapher. Seine Auftritte mit Aufgang etwa setzen den Versuch, eine organische Einheit zwischen Klavier und elektronisch erzeugten Klängen auch szenisch um: ein Klavier auf der Bühne eines Nightclubs.
Francesco Tristano Schlimé wird in der Saison 2010/11 acht Konzerte als „Artist in Residence“ bei den Hamburger Symphonikern geben. Auf dem Programm stehen Kammermusik, eigene Stücke, eine Gegenüberstellung von Bach und John Cage. Sein drittes Album als Solokünstler erscheint im November. Der Titel: Idiosynkrasia – die ganz persönliche Mischung.