Am Wochenende wurde die älteste und vielleicht wichtigste Zeitschrift des Landes in ihrer bisherigen Form eingestellt, das MEMORIAL. Journal Officiel du Grand-Duché de Luxembourg, das Amtsblatt, das allen gesetzlichen Bestimmungen mittels des Buchdrucks eine unveränderliche Textgrundlage verlieh, sie veröffentlichte und ihnen dadurch Rechtsgültigkeit gab. Das Parlament hatte drei Wochen zuvor beschlossen, das einst in Stein gemeißelte Gesetz und das Memorial in Zygmunt Baumans „liquid modernity“ zu „dematerialisieren“ und ab dem 1. Januar 2017 Gesetze nur noch im Internet zu veröffentlichen.
Anders als Berichterstatter André Bauler (DP) und Minister Fernand Etgen (DP) behaupteten, geht das Memorial nicht erst auf das Jahr 1842 zurück, sondern wurde schon 1814 gegründet und erhielt 1816 seinen endgültigen Titel. Doch schon zwei Jahrhunderte vor dem Erscheinen des Memorial wurden hierzulande Rechtstexte gedruckt, um sie bekannt zu machen. Dabei handelte es sich um Verordnungen der spanischen und französischen Könige oder der österreichischen Kaiser, die auf Flugblättern an die lokale Verwaltung und die Gemeinden gingen, heute aber auch im Nachlass von Anwälten und Notaren zu finden sind. Manche Verordnungen wurden innerhalb von Jahren oder Jahrzehnten mehrmals veröffentlicht, weil sie nicht umgesetzt und beachtet worden waren. Auch der Absolutismus ist leichter gesagt als getan.
Im Ancien Régime fand weder eine systematische Veröffentlichung statt, noch waren der Druck und die Veröffentlichung der Verordnungen Voraussetzung, damit sie Rechtskraft erhielten. Seit Anfang des 17. Jahrhunderts wurden rechtliche Bestimmungen als Landrechte gesammelt und veröffentlicht. 1623 ließ der Präsident des Provinzialrats Jean der Benninck (ca. 1567-1632) erstmals eine Sammlung von COVSTVMES GENERALES DES PAYS DVCHE DE Luxembourg & Conté de Chiny. DECRETEES Par LE ROY nostre Sire. A LVXEMBOVRG, Chez HVBERT REVLANDT en l’An M.D. C.XXIII. in französischer Sprache drucken sowie in deutscher Übersetzung. Das aktualisierte Werk, das auf Tilmannus von Bartringens Handschrift über das Landrecht von 1449 zurückging, wurde anderthalb Jahrhunderte lang, bis zur Französischen Revolution, immer wieder neu aufgelegt.
Versammelte Jean der Benninck in seiner 86 Seiten dünnen Schrift vor allem die rechtlichen Privilegien des Adels und des Klerus, so veröffentlichte der Generalstaatsanwalt des Provinzialrats Jean Léonard, baron de Bourcier (1649-1724) 1691 einen weit umfangreicheren, 459 Seiten starken RECUEIL D’EDITS, ORDONNANCES, DECLARATIONS ET REGLEMENTS, Concernant le Duché de Luxem-bourg & Comté de Chiny. A Luxembourg, Chés ANDRE’ CHEVALIER, Imprimeur & Libraire ordinaire du Roy. M. DC. XCI.
Insbesondere die josephinistischen Reformen im späten 18. Jahrhundert produzierten eine wachsende Zahl von Druckschriften mit Verordnungen. Für die hauptstädtische Druckerei der Witwe Kleber wurden sie wohl zur wichtigsten Einnahmequelle. Viele Verordnungen erschienen in einer französischen und einer deutschen, selten in einer doppelspaltigen zweisprachigen Ausgabe, in Antiqua- und Frakturschrift. Gleichzeitig begann der feudale Staat, die Bekanntmachung von Erlassen zu regeln, etwa mit der DÉCLARATION DE L’EMPEREUR, CONCERNANT LA PUBLICATION DES Edits & Ordonnances, ainsi que le Port des ordonnances & des Mandemens pour le Service, dans la Province de Luxembourg. Darin wurde unter anderem bestimmt, wie die Leute arbeiten und bezahlt wurden, die Verordnungen zur Bekanntmachung in die Gemeinden trugen.
Die französische Revolution schuf die Voraussetzungen für den bürgerlichen Staat im 19. Jahrhundert. Aus den willkürlichen Verordnungen der absoluten Monarchen wurden parlamentarisch legitimierte Gesetze. Man war auf Rechtssicherheit bedacht, die durch eine zeitliche und räumliche Vereinheitlichung des Rechts geschaffen wurde, um keinen Kaufmann in den entlegensten Ecken des Landes gegenüber Konkurrenten zu benachteiligen, die schneller und ausführlicher über neue Gesetze unterrichtet würden.
Der 1804 eingeführte napoleonische Code civil des Français verfügte in seinem ersten Artikel über die Gesetze: „La promulgation faite par le Premier Consul sera réputée connue dans le département où siégera le Gouvernement, un jour après celui de la promulgation et dans chacun des autres départemens après l’expiration du même délai augmenté d‘autant de jours qu’il y aura de fois dix myriamètres [environ vingt lieues anciennes] entre la ville où la promulgation en aura été faite, et le chef-lieu de chaque département.“
Sieht man von einem möglichen Vorläufer, den inzwischen unauffindbaren Affiches, annonces et avis divers de la ville de Luxembourg von 1813, ab, so erschien fünf Monate nach der Eroberung der Festung durch die antinapoleonische Koalition am 20. Mai 1814 das erste eigenständige Amtsblatt hierzulande, das Offizielles Journal des Wälder=Departements. JOURNAL OFFICIEL DU DÉPARTEMENT DES FORÊTS. Es war zweisprachig, links eine Spalte mit dem französischen, rechts eine Spalte mit dem deutschen Text. Es wurde von der Druckerei Lamort gedruckt, deren Nachfolgefirma Victor Buck auch an der Produktion der letzten Ausgabe vor einer Woche beteiligt war.
Nur Tage nach einer Einigung auf dem Wiener Kongress über die Zukunft Luxemburgs änderte das Journal des Wälderdepartements seinen Titel und erschien am 31. Mai 1815 als JOURNAL OFFICIEL DU GRAND=DUCHE DE LUXEMBOURG. Auf der Grundlage eines königlich-großherzoglichen Beschlusses vom 29. Juni 1816 heißt es dann seit dem 1. Juli 1816 MÉMORIAL ADMINISTRATIF DU GRAND-DUCHÉ DE LUXEMBOURG. Verwaltungs=Memorial des Groß=Herzogthums Lützemburg.
Während der belgischen Revolution schlug sich das ganze Land auf die Seite des demokratischen und liberalen Belgiens – mit Ausnahme der von einer preußischen Garnison kontrollierten Hauptstadt. Während dieser Zeit erschienen zwei Amtsblätter gleichzeitig: das MÉMORIAL ADMINISTRATIF DE LA PROVINCE DE LUXEMBOURG. Verwaltungs=Memorial der Provinz Lützemburg in Arlon, und das MÉMORIAL ADMINISTRATIF DU GRAND-DUCHÉ DE LUXEMBOURG. Verwaltungs=Memorial des Groß=Herzogthums Lützemburg in der Festung Luxemburg, wobei auch die Arloner Ausgabe zweisprachig war.
Nach der Restauration veröffentlichte Großherzog Wilhelm II. eine neue Verfügung vom 22. Oktober 1842 „réglant le mode de publication des lois“. Darin heißt es: „La collection connue sous le titre de Mémorial législatif et administratif servira de Journal officiel pour le Grand-Duché de Luxembourg et contiendra nommément tous les actes législatifs émanés de Notre pouvoir souverain.“ Die Gesetze sollten drei Tage nach ihrer Veröffentlichung im Memorial rechtskräftig werden und „[l]’insertion au Mémorial sera constatée par un certificat mis à la suite de l’acte par le secrétaire général du Conseil de gouvernement, et inscrit dans un registre à ce destiné“.
Durch königlich-großherzoglichen Beschluss vom 20. April 1854 wurde das Memorial in zwei geteilt, eine Serie mit Gesetzen und allgemeingültigen Vorschriften und eine mit lokalen, befristeten und amtlichen Vorschriften, die Memorial A und B. Das Gesetz vom 20. April 1923 regelte die vorgeschriebene Inserierung von Firmen- und Vereinsbeschlüssen im Memorial, die einen solchen Umfang erreichte, dass durch einen großherzoglichen Beschluss vom 9. Januar 1961 zum Memorial A und B auch noch das eigenständige Memorial C hinzukam, das „Recueil spécial des sociétés et associations“.
Während des Ersten Weltkriegs, als die deutschen Besatzer Regierung, Parlament und Verwaltung im Amt ließen, erschien das Memorial zweisprachig weiter. Anders im Zweiten Weltkrieg: Am 10. Mai 1940 besetzte die deutsche Wehrmacht Luxemburg. Noch am gleichen Tag erschien die erste Ausgabe des Verordnungsblatt für das besetzte Gebiet des Großherzogtums Luxemburg. Herausgegeben von der Heeresgruppe mit einem „Aufruf an die Bevölkerung Luxemburgs!“ sowie Verordnungen über das Strafrecht, die Lebensmittelabgabe, den Zahlungsverkehr und ein Verbot von Preiserhöhungen. Nach zehn Ausgaben folgte im Juni 1940 dann das Verordnungsblatt des Militärbefehlshabers in Belgien und Nordfrankreich. Mit der Einrichtung der Zivilverwaltung wurde es schließlich am 1. September 1940 vom Verordnungsblatt für Luxemburg. Herausgegeben vom Chef der Zivilverwaltung in Luxemburg abgelöst, dessen erste Verordnung jene „über den Gebrauch der deutschen Sprache im Lande Luxemburg“ war. Es erschien im Schnitt zweimal wöchentlich mit der ganzen Reglementierungswut der faschistischen Diktatur und den wachsenden Zwängen der Kriegswirtschaft. Als Vorläufer des Memorial C erschien zudem ein Öffentlicher Anzeiger. Anzeiger zum Verordnungsblatt mit firmenrechtlichen Mitteilungen. Das letzte Verordnungsblatt erschien am 24. August 1944, die letzte dort veröffentliche Bekanntmachung betraf „höchstzulässige Preise für Schuhausbesserungen“, eine Woche später flüchtete Gauleiter Gustav Simon.
Am 12. September 1944 erschien wieder das noch immer zweisprachige Memorial mit einem großherzoglichen Beschluss über den Belagerungszustand. In der dritten Nummer vom 18. September folgte die „Reproduction des Numéros du Mémorial imprimées en Angleterre resp. au Canada“. Ab dieser Nummer hörte das Memorial nach über 100 Jahren auf, streng zweisprachig zu sein; nach wenigen Wochen erschienen nur noch sporadisch Bestimmungen in deutscher Sprache und Frakturschrift – für Landwirte oder über Kriegsverbrechen.
Je mehr der Nachkriegsstaat die Gesellschaft und die Wirtschaft leitete und regelte, desto umfangreicher wurden die Gesetzgebung und das Memorial. Von etwa einer Ausgabe wöchentlich ausgehend, erschien das Memorial A nun im Durchschnitt an jedem Wochentag, das Memorial B seltener. Doch mit der wachsenden Zahl von Briefkastenfirmen wurde vor allem das Memorial C immer umfangreicher. Im Rekordjahr 2014 erreichte es 4 027 Ausgaben, etwa 15 täglich, mit insgesamt Seiten 193 296 Seiten; die Herstellung kostete den Staat jährlich vier Millionen Euro.
Mit dem Gesetz vom 27. Mai 2016 wurde das Memorial C als erstes „dematerialisiert“ und durch das elektronische Handelsregister Resa ersetzt. Wie es sich für den neoliberalen Wettbewerbsstaat gehört, war der Gesetzentwurf zur Abschaffung des Firmen-Memorial 50 Seiten lang und das Parlament beschäftigte sich anderthalb Jahre damit, der Entwurf zur Abschaffung des Gesetzes-Memorial war 15 Seiten lang, das Parlament arbeitete zwei Monate daran.