Der Mathematiker Kurt Gödel, einer der größten Logiker aller Zeiten, bewies in seiner Doktorarbeit und in der Folge, Anfang der 1930-er Jahre, dass jedes axiomatische System immer Aussagen erlaubt, deren Gültigkeit man nicht aus den Axiomen ableiten kann. Die Mathematik ist also nicht vollständig, es gibt immer Sätze, deren Wahrheit nicht beweisbar ist. Man kann sich gut vorstellen, was für eine Revolution diese Erkenntnis Gödels nicht nur in der Mathematik, sondern in der Wissenschaftstheorie im allgemeinen hervorrief. Der Traum, alles beweisen zu können, wurde für immer als nicht verwirklichbar abgelegt.
Kurz nach dem letzten Weltkrieg beantragte Gödel, der wie Albert Einstein in Princeton am Institute of Advanced Studies tätig war, die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Als er am Ende des Verfahrens vom Richter gefragt wurde, ob er das amerikanische Grundgesetz kenne, antwortete Gödel, er habe es sorgfältig gelesen, aber auch bewiesen, dass es zumindest unvollständig und vielleicht sogar inkohärent sei.
Einstein, der schon seit geraumer Zeit eine weltweit bekannte Persönlichkeit war und Gödel, dessen bemerkenswerte Unfähigkeit, sich selbst zu verteidigen, er gut kannte, begleitete, konnte den Richter davon überzeugen, dass Gödel das gar nicht so gemeint hätte und seine Aussage nur einen akademisch-realitätsfremden Wert habe. So dass Gödel letztendlich, wie beantragt, amerikanisch naturalisiert wurde. In unserem kollektiven Gedächtnis aber ist hängengeblieben, dass Grundgesetze oft nicht logisch vollkommen sind und sogar inkohärent sein können.
In den Nachkriegsjahren wurden auch die Vereinten Nationen gegründet. Fast 20 Jahre später konnte man im Dezember 1966 (also vor 50 Jahren) im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, kurz „UN-Zivilpakt“ genannt, in Artikel 26 lesen:
„All persons are equal before the law and are entitled without any discrimination to the equal protection of the law. In this respect, the law shall prohibit any discrimination and guarantee to all persons equal and effective protection against discrimination on any ground such as race, colour, sex, language, religion, political or other opinion, national or social origin, property, birth or other status.“
Das ist die seitdem in allen Demokratien anerkannte Nicht-Diskriminierungsklausel, die sich zumindest teilweise auch in den meisten Grundgesetzen wiederfindet. Die Liste in Artikel 26 des UN-Zivilpakts enthält aber Konzepte, die nicht vergleichbar sind, die nicht in die gleiche Kategorie gehören. Man kann Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, nationale oder soziale Herkunft nicht wählen, nicht ändern1. Man ist für sie nicht verantwortlich, kann es nicht sein. Dagegen ist eine freie erwachsene Person für ihre Religion und ihre politische Meinung verantwortlich, da sie diese im Prinzip frei wählen und auch ändern kann.
Die beiden Gruppen gehören also nicht zusammen, denn es kann sein, dass auf Grund des Glaubens oder der politischen Meinung die Nicht-Diskriminierung der ersten Gruppe verletzt wird. So ist es, wenn zum Beispiel ein Universitätsprofessor einer öffentlichen Hochschule auf Grund seines Glaubens nicht Doktorvater einer Frau sein will oder auf Grund seiner politischen Meinung nicht Doktorvater eines Arabers sein will. Auf Grund der ersten Gruppe von Eigenschaften darf man nie diskriminieren. Bei der zweiten soll es nur bedingt so sein, und zwar solange der Glaube und die politische Meinung nicht selbst die Diskriminierung der ersten Gruppe von Eigenschaften beinhalten. Sonst ist das Ganze inkohärent und dadurch weder glaubhaft noch überzeugend. Denn selbstverständlich würde ich, wenn es mir bekannt wäre, nicht einen Professor ernennen, der sich weigert, Doktorvater von Frauen oder Arabern zu sein; ich würde ihn deswegen diskriminieren2.
Warum ist dieser unmissverständliche und offenkundige Widerspruch nicht behoben worden, wo es doch so leicht gewesen wäre? Gab es dafür keinen Konsens? Erlaubten politische und religiöse Lobbygruppen es nicht? Handelt es sich ganz einfach um ein weiteres Beispiel der leider allgemeinen Hypokrisie? Für Gödel wäre es ein Kinderspiel gewesen, diese Inkohärenz und die Unvollständigkeit dieses UN-Textes zu beweisen.
Nach der Jahrtausendwende wurde ich Mitglied eines Ausschusses der Europäischen Kommission, der External Advisory Group for Human Resources and Mobility. Der Ausschuss arbeitete unter anderem den European Charter for Researchers aus. In dem im Jahre 2005 veröffentlichen Text steht unter „Non-discrimination“:
„Employers and/or funders of researchers will not discriminate against researchers in any way on the basis of gender, age, ethnic, national or social origin, religion or belief, sexual orientation, language, disability, political opinion, social or economic condition.“
Das entspricht sehr genau dem alten UN-Text, nur mit den heute gängigen Konzepten und Ausdrücken. Ich habe damals verschiedentlich versucht, meine Kollegen von der Inkohärenz der Liste zu überzeugen, aber ohne Erfolg. Der letztendlich immer angegebene Grund war: „Aber das ist doch die Liste der Vereinten Nationen!“
Wie sieht es bei uns aus? Das Luxemburger Grundgesetz sagt in seinem Artikel 11(2): „Les femmes et les hommes sont égaux en droits et en devoirs“, so wie es sein soll. In Artikel 19 liest man: „La liberté des cultes, celle de leur exercice public, ainsi que la liberté de manifester ses opinions religieuses, sont garanties, sauf la répression des délits commis à l’occasion de l’usage de ces libertés“, so wie es nur bedingt sein sollte, und zwar solange die religiöse Meinung nicht die Frauen als zweitrangig oder untergeordnet darstellt, sondern klar und ohne Zweifel den Artikel 11(2) achtet.
Wenn das nicht der Fall ist, dann muss die Freiheit, diese Meinungen zu äußern, gestrichen werden, denn sonst bedeutet Artikel 11(2) wenig oder eigentlich gar nichts. Die Lösung des Widerspruches wäre einfach. Man fügt folgenden Nebensatz ein: „pourvu que l’expression de ces libertés respecte l’Art. 11(2) de cette Constitution“.
Mit dieser minimalen Änderung würde nicht nur Gödel zufrieden sein. Ich denke, auch alle Frauen und viele Männer wären es, und Luxemburg würde als Vorreiter unter den Demokratien dastehen, da die meisten Grundgesetze den gleichen Widerspruch enthalten. Auch wäre es „nation branding at its best“ und wir würden stolz auf unser Land sein.
Wenn ich aber hier in Luxemburg mit Freunden und Bekannten manchmal über dieses Thema spreche und diesen Vorschlag mache, sagt man mir zu oft, dass in unserem eher traditionell gesinnten Land trotz der Klarheit der Argumentation nichts passieren würde. Manche sagen mir: „Vergiss nicht, dass Päpste, katholische Priester, Rabbiner, Kalifen und Imame alle Männer sein müssen und dass deshalb eigentlich der größte Teil der in Europa wichtigen Religionen Art 11(2) verletzen.“
Das ist richtig, aber ich bin überzeugt, dass irgendwann so eine Änderung des Nicht-Diskriminierungstextes kommen wird, weil die Religionen, wie Christentum und Judentum, die nach über 300 Jahren Aufklärung, industrieller Revolution, wissenschaftlicher Entdeckungen, technologischen Fortschrittes und kritischen und selbstkritischen Denkens sich glücklicherweise an einen demokratischen Gedankenrahmen angepasst haben, es auch weiterhin so und noch mehr tun werden. Deshalb ist diese Diskriminierung der Frauen in diesen Religionen explizit nur noch in ihren Organisationen und Hierarchien erkennbar3. Religionen wie der Islam, denen diese 300 Jahre philosophischer, wissenschaftlicher und technologischer Aufklärung fehlen und bei denen deshalb die Diskriminierung der Frauen gesellschaftsdeckend ist, sind sowieso zu weit von diesen hier erörterten Gedankengängen entfernt, um sie in Betracht zu ziehen. Aber noch einmal 300 Jahre wollen die Frauen und viele Männer nicht warten, wenigstens nicht hier!
Versuchen wir es also jetzt schon! Ich möchte glauben, dass die Mehrheit sehr wahrscheinlich dafür ist. Sonst können wir uns immer mit Titus Livius, angemessen übersetzt, trösten: Die Mehrheit hat wieder gegen die, die Recht haben, gewonnen!