In den kommenden Wochen will das Parlament sich auf Anfrage der CSV mit der „ambulanten Wende“ befassen, die bereits unter Gesundheitsministerin Lydia Mutsch in die Wege geleitet und von ihrem Nachfolger Étienne Schneider (LSAP) 2018 in das Koalitionsabkommen der blau-rot-grünen Regierung eingeschrieben wurde. Laut dem Abkommen sollen „Alternativen zum klassischen Krankenhausaufenthalt“, „finanzielle Anreize zugunsten der Gesundheitsdienstleister und der Patienten“ und „unterstützende Pflegeeinrichtungen“ geschaffen werden, um die Aufenthaltsdauer im Krankenhaus zu verkürzen. Mit einem Aktionsplan Out of hospital will die Regierung die „Angebote der häuslichen Pflege oder der Aufenthalte in anderen intermediären und kostengünstigeren Einrichtungen“ stärken. Vereinfacht ausgedrückt, geht es längerfristig darum, nur noch die schweren Krankheitsfälle stationär in den Krankenhäusern zu behandeln. Leichtere Operationen und andere Untersuchungen oder Behandlungen sollen in außerklinischen Strukturen durchgeführt werden können. Die Dauer der Krankenhausaufenthalte und die Anzahl der Akutbetten soll reduziert werden. Vorrangiges Ziel der ambulanten Wende ist es, das Gesundheitssystem – auch mit der Hilfe digitaler Technologien – effektiver zu gestalten und die Krankenkasse finanziell zu entlasten.
Allerdings ist noch unklar, wie diese „ambulante Wende“ konkret umgesetzt werden soll. Der Ärzteverband AMMD wirbt seit über zwei Jahren aggressiv für die Gründung privater Gesellschaften zur Betreibung von Gemeinschaftspraxen, die bestimmte Dienste anbieten, die bislang den Spitälern vorbehalten sind. Politische Unterstützung erhielt die AMMD bislang von der CSV, die die ambulante Wende in ihrem Wahlprogramm 2018 als Auslagerung von Untersuchungen und Behandlungen in dezentrale Diagnostik- und Behandlungszentren versteht. Diese Wende hätte laut CSV den Vorteil, dass Patienten für „einfache diagnostische Maßnahmen wie Röntgen, CT oder MRT, aber auch einfache Endoskopien“ nicht mehr ins Krankenhaus fahren müssten, sondern sie könnten in einer ausgelagerten Struktur nah an ihrem Wohnort durchgeführt werden. „Sogar Behandlungen wie kleinere chirurgische Eingriffe wären möglich“, schrieb die CSV in ihr Wahlprogramm.
Bereits vor der Coronakrise und noch vor Beginn des von Étienne Schneider initiierten Gesondheetsdësch hatte die CSV im Juli 2019 erstmals eine Orientierungsdebatte zur ambulanten Wende im Parlament beantragt. Wegen der Coronakrise wurde diese Orientierungsdebatte immer wieder verschoben. Am Mittwoch hat die parlamentarische Gesundheitskommission nun beschlossen, die Debatte in den kommenden Wochen vorzubereiten. Am 23. Februar soll Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) den Abgeordneten eine erste Zwischenbilanz der am Gesondheetsdësch geführten Gespräche vorlegen. Parallel dazu wollen die im Parlament vertretenen Fraktionen und politischen Gruppierungen eigene Konzepte und Vorstellungen zur ambulanten Wende ausarbeiten. Denn bislang scheint noch kaum eine Partei genau zu wissen, was sie sich konkret unter dem Begriff vorstellen soll.
Selbst die CSV hat während der Coronakrise ihr Verständnis von der ambulanten Wende offenbar überdacht. Zwar will sie noch immer weg von der „Hospitalo-Zentraliséierung“, wie es der Abgeordnete Claude Wiseler ausdrückt, doch sie will nicht vorrangig darüber reden, was Ärzte in Privatpraxen dürfen und was nicht. Stattdessen will die CSV nach den Erfahrungen in der Coronakrise die Patientenbetreuung zuhause durch Pflegenetzwerke wie Help oder Hëllef Doheem weiter fördern. Davon betroffen wären insbesondere Patient/innen, die im Krankenhaus operiert und nach einem stationären Kurzaufenthalt zuhause betreut werden. Die Zusammenarbeit zwischen den Pflegenetzwerken und den Ärzten in den Krankenhäusern müsse geregelt und das System der Telemedizin zur elektronischen Überwachung der Patient/innen ausgebaut werden, fordert Wiseler. Auch müssten in Abstimmung mit der CNS einheitliche Tarife eingeführt werden.
Die LSAP will ihrerseits den Stellenwert des Hausarztes weiter aufwerten und neue Formen der Proximitätsmedizin unterstützen, sagt der frühere Gesundheitsminister und Vorsitzende des Gesundheitsausschusses, Mars Di Bartolomeo. Dabei sollen auch die „Maisons médicales“ eine andere Ausrichtung bekommen. Eine Privatisierung oder „Merkantilisierung“ des ambulanten Bereichs lehnt die LSAP ab. Die CSV spricht sich laut Wiseler gegen eine „Zweiklassenmedizin“ aus. Auch déi Gréng und déi Lénk wollen sich für den Erhalt des solidarischen Gesundheitssystems einsetzen.
Der von Étienne Schneider im Dezember 2018 in Auftrag gegebene und Anfang Oktober 2019 veröffentlichte Lair-Bericht hat auf die hohe Abhängigkeit des Gesundheitssystems von ausländischen Fachkräften hingewiesen und erste Anzeichen eines Ärztemangels festgestellt. Die Auswirkungen sind ein Rückgang der Hausbesuche von Hausärzt/innen und lange Wartezeiten bei manchen Spezialist/innen. Wenn nicht gehandelt werde, könne es wegen des fortgeschrittenen Alters vieler Mediziner/innen in 15 Jahren zu einem reellen Ärztemangel kommen, heißt es in dem Bericht. Als wichtige Maßnahme, um diesem Mangel präventiv entgegenzuwirken, nannten die Autor/innen die Einrichtung multiprofessioneller Gesundheitszentren, die in Zusammenarbeit mit den Gemeinden überall im Land entstehen sollen. Neben Allgemeinmediziner/innen und Fachärzten sollten laut Bericht auch Assistant(e)s sociales, Ernährungsberater/innen, Ergotherapeut/innen und Krankenpfleger/innen in diese Zentren integriert werden.
Tatsächlich scheint es, als hinke die Politik der Entwicklung auf dem medizinischen Terrain weit hinterher. In den vergangenen Jahren wurden bereits mehrere dezentrale Gesundheitszentren in Luxemburg gegründet. Zwei konkurrierende Modelle sind zu beobachten. Einerseits hat das CHL eigene Praxiszentren in Grevenmacher, Mersch und Steinfort eröffnet, die über das Krankenhausbudget finanziert werden. Andererseits haben in mehreren Gemeinden Allgemeinmediziner/innen und Fachärzt/innen sich in privaten Gesundheitszentren (Kayl, Hesperingen, Clerf) zusammengeschlossen, die je nach Modell entweder von Ärzt/innen oder Privatinvestoren in Eigenregie finanziert oder von der jeweiligen Gemeindeverwaltung unterstützt werden. In diesem Zusammenhang stellte sich lange Zeit die Frage, ob Privatpraxen auch Geräte anschaffen dürfen, die bislang den Krankenhäusern vorbehalten sind. Die CSV, die sich 2018 noch dafür ausgesprochen hatte, will diese Frage zurzeit nicht diskutieren. Wiseler möchte im Parlament eine „unpolitische Debatte“ führen. Allerdings werden die Abgeordneten nicht um die Frage herumkommen. Ein Radiologe aus Hesperingen, der eine Gemeinschaftspraxis im Becca-Viertel „Ban de Gasperich“ eröffnen möchte, hatte im März 2018 Einspruch vor dem Verwaltungstribunal eingelegt, weil die damalige Gesundheitsministerin Lydia Mutsch ihm die Anschaffung eines Magnetresonanztomographen (MRT/IRM) und eines CT-Scanners unter Berufung auf ein großherzogliches Reglement von 1993 verwehrt hatte. Das Tribunal hatte nach einer Anrufung des Verfassungsgerichts geurteilt, dass Mutschs Entscheidung verfassungswidrig war.
Da das Urteil bindend ist, muss jetzt eine politische Lösung gefunden werden. Für déi Gréng geht es darum, Missbräuche bei der Abrechnung zu verhindern. Der Gesetzgeber müsse garantieren, dass MRT oder ähnliche diagnostische Verfahren nur durchgeführt werden, wenn sie wirklich notwendig sind. Auf keinen Fall dürften sie dazu verwendet werden, um die Anschaffung teurer Geräte zu amortisieren oder Profit zu erzielen, betont die grüne Fraktionschefin Josée Lorsché. Auch müsse der Staat darauf achten, dass Patienten mit einer privaten Zusatzversicherung bei der Terminvergabe nicht bevorzugt werden. Freischaffende Ärzt/innen verweisen darauf, dass Vorzugsbehandlungen längst Teil des Gesundheitssystems seien. (Leistungs-)Sportler und Menschen mit guten persönlichen Beziehungen würden seit jeher bei der Terminvergabe favorisiert. Patienten mit einer privaten Zusatzversicherung könnten schon seit Jahren im deutschen Grenzgebiet von einer Vorteilsbehandlung profitieren.
Um diese und andere Fragen zu klären, müssen die Parteien sich in den nächsten Wochen darauf einigen, in welche Richtung die ambulante Wende gehen soll. Ansonsten droht die Politik den Anschluss an die Praxis und die Kontrolle über die Zukunft des Gesundheitswesens zu verlieren.