Was macht eine Sexualassistentin? Dazu wollte das Land eine Person befragen, die in Frankreich ihr Metier gelernt hat und in Luxemburg lebt. Leider hat sie sich dann doch nicht auf ein Interview, auch nicht anonym, eingelassen. Sexualassistent/innen, also Menschen, die Menschen mit einer Behinderung zu sexueller Entfaltung verhelfen, arbeiten in Luxemburg in einer Grauzone: Weil Prostitution toleriert ist, Zuhälterei aber verboten.
Joël Delvaux ist gesprächsfreudiger; er hat sich privat mit der Sexualassistenz auseinandergesetzt: „Als es meiner vorigen Freundin gesundheitlich immer schlechter ging, hätten wir Hilfe beim Sex gebrauchen können. Wir hatten uns damals umgesehen; leider gab es diesbezüglich nichts in Luxemburg“, erzählt der Behindertenbeauftragte des OGBL offen, der wie seine inzwischen verstorbene ehemalige Lebenspartnerin im Rollstuhl sitzt.
Zum einen gibt es keine Angebote, die Sexualassistenz vermitteln wie Corps solidaires in der Schweiz oder Sensis in Deutschland. Nehmen Menschen mit Behinderungen einen Sex-Dienst hierzulande in Anspruch, dann geschieht es unter der Hand. Die Behindertenhilfeorganisation Info-Handicap hat deshalb vergangenes Jahr ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, das prüfen sollte, wo die gesetzlichen Fallstricke liegen und was sich rechtlich ändern müsste, um Sexualassistenz rechtssicher zu machen.
Denn auch hierzulande mehren sich Stimmen, die fordern, sexuelle Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen ernst(er) zu nehmen und (bezahlte) Hilfen, wo nötig, anzubieten. Eine Plattform von Organisationen, wie dem Planning familial, Info-Handicap, der Association des parents d’enfants mentalement handicapés, Cigale oder dem Centre national de référence pour la promotion de la santé affective et sexuelle (Cesas) diskutiert seit fast zwei Jahren darüber, wie das Tabu von Sexualität hinsichtlich Menschen mit Behinderungen gebrochen werden kann und sie besser unterstützt werden können.
Dass Menschen mit Behinderungen sexuelles Begehren und Lust empfinden, ist ein Tabu, das oftmals nur in den Heimen, bei der Körperpflege, der Intimwäsche oder sonstiger Alltagshilfe thematisiert wird. Auch Professionelle in Alten- und Pflegeheimen suchen dazu Beratung. In drei Arbeitsgruppen lotet die Plattform Aspekte rund um Sexualität und Handicap aus: die sexuelle Aufklärung von Jugendlichen und Erwachsenen mit Behinderungen, die Sexualassistenz und das weite Feld der Partnersuche. Ziel soll sein, in jedem Bereich zu praktikablen Lösungen und konkreten Fortschritten zu kommen. Es ist das erste Mal überhaupt, dass sich Organisationen aus unterschiedlichen Bereichen in Luxemburg zu dem Thema zusammenfinden.
„In den vergangenen Monaten ist wegen Corona nicht viel passiert“, erzählt Patrick Hurst, sehbehindertes Mitglied von Nëmme mat eis, einem Behindertenselbsthilfeverein, der die Sexualassistenz befürwortet. Hurst hat selbst keine guten Erfahrungen mit Kontaktbörsen gemacht: „Die meisten funktionieren mit Fotos und richten sich an Menschen, die sehen können.“ Mehrfach sei es ihm passiert, dass sich die Person auf der anderen Seite nicht als die entpuppte, für die sie sich ausgab. Hurst bringt sich in der Arbeitsgruppe Sexualassistenz ein.
Das ist kein leichtes Unterfangen, denn es gibt Kontroversen. Zum einen ist nicht immer klar, was konkret mit Sexualassistenz gemeint ist: Geht es darum, dass eine Person einem behinderten Paar hilft, das dies selbst nicht (mehr) kann, sich (näher) beieinander zu legen, damit es zärtlich werden kann – und die dann diskret den Raum verlässt? Oder geht es darum, Kuscheln, Massagen, Anleitung zur Masturbation bis hin zum Sex mit einer anderen Person zu erleben, dies gegen Geld oder sogar auf Rezept?
Das Planning familial war die erste Organisation, die sich für die passive Sexualbegleitung aussprach, dies im März 2019. Die aktive Assistenz sei jedoch mit ihrer Position zur Prostitution nicht vereinbar: „Les actes sont tarifés et l’objectif de l’assistance sexuelle est de répondre aux désirs sexuels de clients.“ Ihre Kritik: Sexualassistenz reproduziere bestehende Ungleichheiten und ausbeuterische Geschlechterverhältnisse. Männer nutzen weibliche Körper, um ihre Lust zu befriedigen. Ist Sexualassistenz also immer gleich Prostitution? – Andere haben sich noch nicht so deutlich positioniert: In der Menschenrechtskommission, die ebenfalls in der Arbeitsgruppe präsent ist, wurde bisher keine gemeinsame Position gefunden. Der kürzlich veröffentlichte Ratgeber des Cesas Let’s talk about sex erläutert auf einer (!) Seite wohl die Hindernisse, die sich für Menschen mit Behinderungen in der Sexualität und beim Sex ergeben können, verliert über Sexualbegleitung aber sonst kein Wort und wirkt zudem wenig inklusiv: Die Illustra-tionen zeigen körperlich fitte, gesunde Menschen.
Joël Delvaux gibt zu bedenken: „In der Schweiz und in Deutschland gibt es Schulungen zur Sexualassistenz. Diejenigen, die sich dahin melden, machen das freiwillig.“ Oft sei ein erstes Treffen mit potenziellen Klient/innen dem Kennenlernen vorbehalten. „Beide Seiten können zu jedem Moment abbrechen“, betont er. Eine Lösung, die Ausbeutung verhindern soll: In der Schweiz ist Sexualassistenz nur im Nebenberuf erlaubt, um wirtschaftliche Abhängigkeiten von vornherein auszuschließen.
Aber auch unter Behinderten gibt es Kritik: „La vie affective et sexuelle des personnes handicapées est une bonne question mais la réponse apportée n’est pas la bonne“, unterstreicht die französische Organisation Femmes pour dire, Femmes pour agir: „La réponse n’est plus dans l’enfermement des personnes handicapées dans l’attente d’une prestation supplémentaire, mais dans l’ouverture de l’environnement en termes de réelle accessibilité, pour permettre la multiplication des opportunités, comme par example dans les lieux de loisirs.“ Die Kommerzialisierung des weiblichen Körpers könne nicht die Antwort sein.
Andere wie beispielsweise Marcel Nuss, der seit seiner Kindheit an Muskelschwund leidet und seit vielen Jahren in Frankreich für die Legalisierung der sexuellen Assistenz wirbt, oder Peter Wehrli aus der Schweiz, Geschäftsleiter des Zentrums für selbstbestimmtes Leben in Zürich und Rollstuhlfahrer, sehen das anders und fordern die Öffnung der herkömmlichen Prostitution für Menschen mit Behinderung. Sie haben ein plausibles Argument: „Warum sollten nicht-behinderte Menschen sexuelle Dienstleistungen in Anspruch nehmen können, Behinderte aber nicht?“, fragt Delvaux. Volle Gleichberechtigung hieße, auch in diesem Bereich behinderte und nicht-behinderte Menschen gleichzustellen.
Hergeleitet wird das Recht auf Sexualassistenz allgemein aus dem verfassungsrechtlich verbrieften Recht zur freien Persönlichkeitsentfaltung und der Menschenwürde: Jeder Mensch hat das Recht, sich so zu entwickeln und seine Sexualität auszuleben, wie er/sie es wünscht. Aber inwiefern gibt es das Recht auf Zugang zu der Sexualität Dritter? Wie steht es um die Einwilligung? Und: Wer soll das bezahlen?
Studien zufolge werden sexuelle Hilfeleistungen für Menschen mit Behinderungen in Ländern, wo sie erlaubt sind, wie in Dänemark, Deutschland, den Niederlanden oder Schweiz, zu rund 80 bis 90 Prozent von Männern genutzt. Die nicht-behinderten Fürsprecher/innen sind oft Mütter oder Väter von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen. In Luxemburg hat sich bisher keine betroffene Frau öffentlich zu der Problematik geäußert – ein Zufall?
„Ich habe darüber noch nicht nachgedacht, es stand für mich nicht an“, gibt Carine Nickels freimütig zu. „Aber die Frage, was das für Frauen heißt, ist berechtigt.“ Die 44-Jährige, die seit einem Autounfall 2012 von der Brust abwärts gelähmt ist, hat aus der Zeit vor dem Unfall viele nicht-behinderte Freunde behalten. „Das Problem beginnt meist viel früher: Es schwierig, Leute zu treffen“, sagt sie. Es gebe eine Vielzahl von Barrieren: „Ich hätte mir früher sicher auch nicht vorstellen können, jemanden mit Behinderung als potenziellen Partner zu betrachten“, so Nickels. „Außerdem ist es eine Frage der Gelegenheit.“
In Wohnheimen ist Intimität viel zu oft keine Selbstverständlichkeit; kleine Zimmer und Einzelbetten lassen keinen Platz für Privatsphäre, geschweige denn für Paare, die kuscheln oder intim werden wollen. Sexuelle Selbstbestimmung bedeutet, dass auch Menschen in Wohnheimen One-Night-Stands haben können oder jemanden mitbringen, mit dem oder mit der sie zärtlich sein wollen – ohne dabei gestört zu werden oder sich rechtfertigen zu müssen. „Ich kann mir vorstellen, dass mir das Thema mal wichtiger wird“, sagt Carine Nickels. „Behinderung ist hierzulande insgesamt noch ein Tabu. Wenn wir draußen kaum zu sehen sind, wie und wo sollen wir dann jemanden kennenlernen?“