46 Prozent der EU-Bürger lehnten 2009 in einer Eurostat-Umfrage weitere Beitritte zur Europäischen Union ab, 43 Prozent waren dafür. Echte Erweiterungsmüdigkeit sieht anders aus, Einigkeit über die zukünftige Gestalt der Europäischen Union aber auch. Nach dem Kampf um die Verfassung und ihre Rettung im Lissabon-Vertrag haben sich europäische Regierungen und Europäer erschöpft in die Kissen sinken lassen. Vor ihre Zimmertür hätten sie wohl am liebsten das Schild gehängt: „Bitte nicht stören!“ Dumm nur, dass da noch so viel komplizierte Wirklichkeit wartet, die geregelt werden will. Es sei denn, man will von den Ereignissen überfahren werden.
Etwa so wie die Isländer. Die machten große internationale Bankgeschäfte und waren die Neureichen der Saison, bis die Bankenpleiten auf Jahrzehnte die Kassen leerten. Das eigenwillige Inselvolk ist zwar dickköpfig, aber nicht dumm. 2009 wurde flugs ein Beitrittsantrag in die EU gestellt. Wenn es klappt, wird es ein Beitritt im Schnellverfahren. Diese Woche haben die Außenminister offiziell den Weg für die Beitrittsverhandlungen freigemacht.
Bis 2012 soll er vollzogen sein. Das ist rekordverdächtig. Island ist bereits Mitglied des Schengen- und des Europäischen Wirtschaftsraumes und hat damit die Binnenmarktgesetzgebung weitestgehend nachvollzogen. Es kann die fünf Kopenhagener Beitrittskriterien locker erfüllen: institutionelle Stabilität, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Durchsetzung der Menschen- und Minderheitenrechte, funktionierende Marktwirtschaft sowie die Übernahme des „aquis communautaire“. Einen Beitritt der gut 300 000 Isländer in die EU würde niemand wirklich bemerken.
Strittigster Punkt sind die Rechte am isländischen Fisch. Es war der Fisch, der die Isländer in der Vergangenheit immer davon abgehalten hat, der EU beizutreten. Die Fischereipolitik ist in der EU vergemeinschaftet. Island kann da nur verlieren. Aber die Großwetterlage des 21. Jahrhunderts ist nicht so, dass ein kleiner Inselstaat in Frieden die Netze auswerfen kann. Die Arktis ist zum neuen Spielball der Mächte geworden, da ist Island ein naher Stützpunkt. Die Meere werden langsam aber sicher leergefischt, da können die Jagdgründe der Isländer nicht heilig bleiben. Die globalisierten Banken haben den Isländern klargemacht, dass es womöglich nicht mehr genügt, auf eigenen Beinen zu stehen. Man braucht für die Zukunft Verbündete. Dennoch könnten die selbstbewussten Isländer den EU-Beitritt noch in letzter Minute ablehnen.
Verdauungsprobleme hat die EU auf dem Balkan. Das fing schon mit Bulgarien und Rumänien an, zwei Ländern, die die Kopenhagener Kriterien drei Jahre nach ihrem Beitritt noch immer nicht erfüllen. Wie schwer es ist, Rechtsstaatlichkeit in diesen beiden Ländern durchzusetzen, hatte sich in Brüssel wohl niemand so recht vorstellen können. Erst vor ein paar Wochen hat die Kommission ein paar deftige Rügen ausgeteilt und hält weiter Millionen von Euro an Zuschüssen zurück.
Kroatien, das westlichste Balkanland, hat es dagegen fast geschafft. Bis Mitte 2011 sollen die Beitrittsverträge ratifiziert sein. Die mangelnde Bereitschaft in Sachen Kriegsverbrechen mit der EU und dem Haager Gerichtshof zusammenzuarbeiten, hat den Beitritt Kroatiens lange verzögert. Ebenso das Veto Sloweniens wegen Streitigkeiten mit seinem Nachbarn über einen freien Zugang zur Adria. Inzwischen sind die Vorbehalte ausgeräumt: die Zusammenarbeit mit Den Haag hat sich intensiviert, und mit Slowenien hat man sich auf ein internationales Schiedsgericht über den Grenzverlauf geeinigt. Es fehlt noch die Verbesserung einiger demokratischer Standards und Einigkeit über die Unterstützung der kroatischen Landwirtschaft.
Neben der Türkei ist Mazedonien noch offizieller Beitrittskandidat der EU. Wann die Beitrittsverhandlungen beginnen, ist derzeit völlig offen. Serbien, Albanien, Montenegro und der Kosovo sind im Wartestand. Bosnien-Herzegowina ist das größte Sorgenkind. Zurzeit kann niemand seine Hand dafür ins Feuer legen, ob dieser Staat Bestand haben wird. Der Beitritt dieser Balkanländer ist langfristig so sicher, wie er kurzfristig nicht zu erwarten ist. Nicht zu unterschätzen ist, dass, einmal aufgenommen, Südosteuropa fast unvermeidlich zu einer eigenständigen Kraft im Machtspiel des Ministerrates heranwachsen wird. Bis 2020 wird über die Beitritte entschieden sein.
2020 ist auch der Horizont der wichtigsten laufenden Beitrittsverhandlungen. Nichts ist so umstritten wie der Beitritt der Türkei. In Deutschland sind CDU/CSU dagegen. Frankreichs Rechte ist ebenfalls gegen den Beitritt der Türkei. England befürwortet ihn. Zustimmen muss jedes Land eigenständig, auch Zypern. Die geteilte Insel ist das größte Problem der europäisch-türkischen Verhandlungen. Wegen der Nicht-Anerkennung aller Rechte Zyperns liegen schon wichtige Kapitel auf Eis. Zurzeit kann noch alle sechs Monate in neues Kapitel eröffnet werden, aber spätestens 2012 muss sich die Türkei entscheiden, ob sie zyprischen Schiffen vollen Zugang zu türkischen Häfen gestattet. Tut sie das nicht, werden die Beitrittsverhandlungen unterbrochen werden müssen.
Diese Woche urteilte der deutsche Außenminister Guido Westerwelle bei einem Besuch in Ankara, dass weder die Türkei noch die EU für einen Beitritt zum gegenwärtigen Zeitpunkt fähig seien. Damit wird ein wichtiges Problem klar umrissen. Die Union kann Island, den ganzen Balkan, und wenn es sein muss auch noch die Schweiz und Norwegen integrieren, ohne sich selbst viel ändern zu müssen. Aber nicht die Türkei. Das liegt nicht einmal daran, dass die Türkei ein islamisches Land ist. Es liegt vielmehr daran, dass das Land sofort nach seinem Beitritt das größte Mitgliedsland der EU wäre. Hier liegen mehr Hasen im Pfeffer als bei den wirtschaftlichen Problemen.
Die Türkei hat ein dynamisches Wirtschaftswachstum von 6,5 Prozent, es ist durch eine Zollunion wirtschaftlich an die EU angebunden. Seine wachsende junge Bevölkerung wäre die ideale Ergänzung für das alternde Europa. Eine neue Rückwanderungsbewegung gut ausgebildeter Türken in die Türkei, zum Beispiel aus Deutschland, verstärkt die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bindungen der Türkei an Europa.
Die EU muss sich mit der Türkei entscheiden, ob sie eine globale Macht werden will mit nachbarschaftlicher Verantwortung in Iran und dem Nahen Osten, mit einer eigenständigen Sicherung des fossilen Energienachschubs und mit der Integration einer islamischen Nation in einen westlich-christlichen Staatenbund. Letzteres setzt eine Horizonterweiterung der Europäer voraus, die sie erst befähigen würde, die globale Rolle, die die Welt von der EU erwartet, auch tatsächlich spielen zu können.
Auch für die Türkei steht viel auf dem Spiel. Bisher steht sie auf einem europäischen und einem arabischen Bein. Mit dem EU-Beitritt würde sie sich ganz auf die europäische Seite stellen. Sie müsste die Vormundschaft der Militärs über die Demokratie abschaffen. Sie müsste Religionstoleranz auch für Christen durchsetzen. Sie müsste ihre Minderheiten gleichstellen. Und in Brüssel müssten ihre Politiker in der Lage sein, in Verhandlungen einen europäischen Standpunkt einzunehmen und nicht nur für die Interessen der Türkei zu streiten. Für all das müsste sie sich neu definieren. Es gibt kaum etwas, das den Völkern schwerer fällt.