Europäische Wirtschaftsregierung. Ein schönes Wort, ein großes Wort. Wir haben sie jetzt, jubelten beim vergangenen Europagipfel Nicolas Sarkozy und Angela Merkel, wir sind uns einig. Richtig ist, die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union haben sich auf ihren Gipfel am 17. Juni auf die Strategie 2020 der Europäischen Union geeinigt, mit deren Hilfe sie Europa aus der Krise führen und fit für die globalisierte Ökonomie des 21. Jahrhunderts machen wollen. Richtig ist auch, dass die Strategie die jämmerlich gescheiterte Lissabon-Strategie ablöst. Falsch hingegen ist, dass die Europäische Union mit der 2020-Strategie auf festerem Boden stünde als mit ihrem Vorgänger.
Die Lissabon-Strategie ist vor allem an zwei Dingen gescheitert: Erstens an der eigenen Hybris und zweitens am eklatanten Willen, beschlossene Maßnahmenkataloge als etwas anderes zu betrachten als ordinäre Ikea-Kataloge, die man ja auch nicht abarbeitet, sondern aus deren Angebot man sich nach Lust, Laune und vor allem nach dem Geldbeutel bedient. Die Lissabon-Strategie sollte Europa nicht nur fit machen für den weltweiten Konkurrenzkampf, sondern sie sollte die Krone bringen. Die EU wollte innerhalb von nur zehn Jahren der wettbewerbsfähigste und dynamischste wissensgestützte Wirtschaftsraum der Welt werden. Von 2010 bis 2020. Ein doppelter Fünfjahresplan sozusagen. Es ist dann auch ausgegangen wie ein solcher.
Jeder weiß es, die Spatzen pfeifen es mittlerweile seit 20 Jahren von den Dächern. Wir leben in einer globalisierten Welt. Wer angesichts der europäischen Fakten – ökonomisch, demografisch, finanziell – davon träumt, an der Spitze der Entwicklung zu stehen, hat diese Fakten noch nicht wirklich begriffen. Im Jahr 2000 war dieser Traum noch intakt, heute, 2010, dem Jahr; in dem er sich erfüllen sollte, hat er sich wie Nebel in gleißender Sonne verflüchtigt.
Die Krise bringt es an den Tag: Europa ist stark, aber nicht Spitze. Vor allem aber auch stark erschüttert. Die EU steht mit dem Rücken zur Wand. Sie kann nicht einfach so weitermachen, sonst wird sie noch schneller zur Seite gedrängt als sowieso schon. Passend zum EU-Gipfel gab die OECD am 16. Juni eine Studie heraus, die jedem Entwicklungshelfer das Herz höher schlagen ließ. Schon 2030 werde der Handel der Schwellen- und Entwicklungsländer untereinander höher liegen, als der Handel der OECD-Staaten. In 20 Jahren sind die „Nicht-OECD-Länder“ wirtschaftlich stärker als die OECD von heute. Damit werden die alten Industrieländer als globales Machtzentrum abgelöst. Übersetzt heißt das: Wir sind weg vom Fenster, die Aussicht genießen jetzt die anderen. Fester strampeln, ist angesagt.
Fester strampeln, sich mehr anstrengen, genau das will die EU auch mit der Strategie 2020. Ob es gelingt, liegt aber daran, ob die Mitgliedstaaten die Ursache für den zweiten Grund aus der Welt schaffen, an denen die Vorgängerstrategie gescheitert ist. Die angestrebte enge wirtschaftspolitische Zusammenarbeit war nichts als Absichtserklärung. Detaillierte Länderberichte, die nicht nur eine Bestandsaufnahme machen, sondern erstmals auch konkrete, detaillierte Vorschläge für einzelne Länder ausarbeiten sollen, werden der Kern eines neuen gemeinsamen Prozesses sein. Diese Länderberichte wird die Kommission mit ihrem Beamtenapparat erarbeiten, sie werden aber im Rat diskutiert und gegebenfalls angenommen werden. Aus dieser Aufteilung wird vor allem deutlich: Die Kommission hat die Humanressourcen, der Rat ist der Ort der Entscheidung. Die Kommission tritt in ihrer Wortwahl dem Rat gegenüber äußerst bescheiden, ja manchmal fast devot auf. Sie will keine schlafenden Hunde wecken. Der Rat wird Wirtschaftsregierung werden, oder die Europäische Union wird keine bekommen.
Da die Dinge nun mal so liegen, wie sie liegen, wird der Korpsgeist des Rates mithin über Erfolg oder Misserfolg der Strategie 2020 entscheiden. Deshalb ist sogar richtig, dass Sarkozy und Merkel gejubelt haben: Wir haben eine Wirtschaftsregierung. Die Europäische Union hat eine Wirtschaftsregierung, weil sie eine haben will und nicht weil sie in irgendeinem Vertrag festgeschrieben ist.
Und was hat der Europäische Rat nun im Einzelnen beschlossen? Man will nicht einfach Wachstum, es soll schon intelligent, nachhaltig und integrativ sein. Intelligent und nachhaltig, das ist die Lissabon-Strategie in neuem Gewand. Integrativ, das ist neu und eine etwas unglückliche Übersetzung des englischen Wortes inclusive. Statt integrativ hieße es im deutschen Text besser „integrierend“. Alles hängt mit allem zusammen, das ist die Grundbedingung von Globalisierung. Aber auch alle hängen mit allen zusammen. Wir sitzen in einem Boot, europa- und weltweit. Integriert werden müssen nicht nur die Techniken und die Handelsströme, sondern auch die Menschen. Hier und überall.
Europa will vor allem in fünf Leitzielen tätig werden: 1. Beschäftigung, 2. Forschung und Innovation, 3. Klimaschutz und Energie, 4. Bildung und 5. Armutsbekämpfung. Diese Ziele sollen in sieben Leitinitiativen übersetzt werden: 1. Geld: die EU will eine Innovationsunion werden und das kostet. 2. IT: die EU will mit der digitalen Agenda schnelles Internet in jedes Dorf bringen. 3. Jugend: die EU altert, die Jugend muss beruflich mobiler werden und die Bildungssysteme noch kompatibler. 4. Ökologie: die EU muss Ressourcen und Umwelt schonen. 5. Wirtschaft: die europäische Wirtschaft muss noch internationaler werden und die kleineren und mittleren Unternehmen dabei stärker unterstützen. 6. Arbeitsplätze: lebenslanges Lernen soll helfen. 7. Die wachsende Armut soll europaweit besser bekämpft werden.
Die Strategie 2020 ist so notwendig wie ehrgeizig. Ihr Gelingen setzt eine Zusammenarbeit voraus, der man mit Fug und Recht das Eti-kett Wirtschaftsregierung umhängen kann. Unser Wohlergehen hängt davon ab, dass sie besser umgesetzt wird als ihre Vorgängerin. Im Erfolgsfall haben wir nicht nur eine europäische Wirtschaftsregierung, sondern auch wieder eine bessere Aussicht auf das 21. Jahrhundert.