Ein zweites Gaza? Anlässlich des palästinensischen Tags des Bodens beleuchtete die CPJPO-Veranstaltung „Facts On The Ground“ am Wochenende die aktuelle Eskalation im Westjordanland

„Finstere Zeiten“

d'Lëtzebuerger Land du 04.04.2025

Als am 20. Januar US-Präsident Donald Trump für eine zweite Amtszeit eingeschworen wurde, war der Waffenstillstand in Gaza gerade mal 24 Stunden alt. Am darauffolgenden Tag startete Israel im Westjordanland die Operation „Eiserne Mauer“ und stieß damit die Palästinensische Autonomiebehörde vor den Kopf. Deren Sicherheitsdienst war nämlich seit Dezember militärisch gegen militante Gruppen im Westjordanland vorgegangen, zeitweise mit israelischer Unterstützung. Drei Tage vor Trumps Amtseinführung hatte sich die Autonomiebehörde mit den Hamas-nahen Dschenin-Brigaden auf einen Waffenstillstand geeinigt. Doch Israel ging das nicht weit genug und flog Luftangriffe auf das Flüchtlingslager.

Dschenin ist eines von insgesamt 19 Flüchtlingscamps im Westjordanland. 1953 gegründet für palästinensische Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Krieg von 1948, ist Dschenin längst zu einem Viertel der gleichnamigen Nachbarstadt geworden. Als temporäres Hilfswerk der Vereinten Nationen, betreibt die UNWRA seit 1949 hier wie andernorts Schulen, garantiert die medizinische Grundversorgung, zahlt Sozialleistungen aus und betreut diverse Projekte. Die UN-Behörde kümmert sich in einigen Fällen sogar um die Müllentsorgung. Roland Friedrich vergleicht die Rolle seiner Behörde mit der einer großen Stadtgemeinde. Der Direktor der UNWRA im Westjordanland sprach vergangenen Sonntag per Liveschaltung vor versammeltem Publikum im Oekozenter im Rahmen eines vom Comité pour une paix juste au Proche-Orient (CPJPO) organisierten Symposiums, mit Workshop und Fotoausstellung anlässlich des palästinensischen Tags des Bodens.

Auch das Ministère de la Coopération et de l’Aide Humanitaire unterstützt vor Ort in Dschenin über das CPJPO eine psychologische Anlaufstelle der palästinensischen NGO „Not To Forget“ für Kinder in Konfliktsituationen. Vergangene Woche dann erreichte das CPJPO der Bericht einer Mitarbeiterin jener NGO: „Es war ein ganz normaler Morgen. Ich saß in meinem Haus mit Blick auf das Flüchtlingslager von Dschenin und beobachtete den Sonnenaufgang über einer Szenerie, an die ich mein Leben lang gewöhnt war. Doch an jenem Tag, vor 59 Tagen, wurde dieser Anblick zu einem endlosen Albtraum. Am 21. Januar 2025 begann die israelische Besatzung mit heftigen Angriffen auf Dschenin und sein Lager. Ab diesem Tag wurde der Gedanke das Haus zu verlassen, zu einem fernen Traum. Die Besatzungstruppen nahmen ein nahegelegenes Haus als Basis ein – mit direktem Blick auf das unsrige. Strom, Wasser und Internet wurden gekappt. Zuerst dachten wir, das Ganze würde nur ein paar Tage andauern, aber aus Tagen wurden Wochen, und der Lärm von Schüssen, gepanzerten Fahrzeugen und Soldaten hörte weder tags noch nachts auf. Die Angst vor Soldaten, die jeden Moment unser Haus stürmen könnten, zehrte bald jede Minute, jeden Atemzug auf. Ständig schwebte eine Drohne am Himmel, die uns [per Lautsprecher] mal zu Evakuierung aufforderte, mal befahl drinnen zu bleiben und uns nicht zu bewegen.“

Was seit drei Wochen vor Ort passiere, bezeichnet Roland Friedrich als „neue Dimension der Gewalt“. Leider würde das Geschehen nicht „adäquat von westlichen Medien abgedeckt“. Dabei habe es etwas vergleichbares „seit 1967 nicht mehr gegeben“. Seitens der israelischen Armee hieß es ursprünglich, man wolle gezielt gegen Elemente des islamischen Dschihad vorgehen. Tatsächlich eskaliert die Militäroperation zu einer systematischen Zerstörung. Im großen Stil sprengt die Armee Häuser, zerstört Infrastruktur, Wasser- und Energieleitungen. Mit Bulldozern reißt die Besatzungsmacht tiefe Straßen durch das Lager. In Dschenin sollen bis dato etwa 600 Häuser zerstört und 900 weitere beschädigt worden sein. Etwa 20 000 Menschen haben in den Dörfern der Umgebung oder bei Verwandten Schutz gesucht. Mittlerweile gleicht Dschenin einer Geisterstadt – man bezeichne den Ort als „Mini-Gaza“. Gleiches geschah in zwei weiteren Lagern. Tatsächlich ist unter den betroffenen Menschen die Angst groß, die israelischen Behörden könnten mit dem Westjordanland ähnliches vorhaben, wie mit Gaza.

Während der letzten zwölf Jahre die Roland Friedrich im Westjordanland verbracht hat, hat er eine stete Verschlechterung der Situation festgestellt. Sei es aufgrund von Siedlergewalt, Ressourcenmangel, dem Straßennetzwerk oder der wachsenden israelischen Kontrolle. Seit der Hamas-Attacke vom 7. Oktober aber sei die Gewalt im Westjordanland explodiert: „2024 war das tödlichste Jahr seit Gedenken. Mehr als 500 Menschen kamen ums Leben, 20 Prozent davon Kinder“ so Friedrich. Ende Januar hat Israel zudem die Arbeit der UNWRA per Gesetz massiv eingeschränkt. Demnächst darf die UN-Behörde auf israelischem Territorium keine Dienstleistungen mehr anbieten und keine Vertretung unterhalten – auch nicht in Ost-Jerusalem. „Das hat es so noch nie gegeben, dass ein UNO-Mitgliedstaat repressive Maßnahmen gegen eine UN-Agentur ergreift. Das ist ein sehr gefährlicher Präzedenzfall. Umso dankbarer bin ich über die kontinuierliche sowohl finanzielle wie auch politische Unterstützung Luxemburgs“, so Friedrich.

Doch während am vergangenen Sonntag im Oekozenter Bilanz gezogen wurde, erließ die Netanjahu-Regierung einen Erlass für ein 75 Millionen Euro-schweres Straßenbauprojekt durch das Westjordanland – mit dem Ziel, den Verkehr zwischen Jerusalem, der Kolonie Ma‘ale Adummim und dem Jordantal zu „verflüssigen“. Verteidigungsminister Israel Katz nannte das Projekt eine „historische Entscheidung“, welche „die Sicherheit und das Wohlergehen der israelischen Bewohner verbessern und gleichzeitig Israels Griff nach der Region Judäa und Samaria verstärken“ würde, wie Israel das seit 1967 besetzte Westjordanland in Anlehnung an die Bibel bezeichnet.

Derzeit bemüht sich die UNWRA darum 2 000 Schülern aus Dschenin Fernunterricht zu ermöglichen. „Aber das ist natürlich kein geeignetes Umfeld, in dem Kinder lernen können“, so UNWRA-Direktor Friedrich. Zum Vergleich: im benachbarten Gaza haben seit mehr als anderthalb Jahren um die 600 000 Kinder keine Schule mehr besucht. In Dschenin gibt es keine Klarheit darüber, wann und ob diese Familien nach Hause zurückkehren können.

Bereits während seiner ersten Amtszeit hatte sich Donald Trump für eine Annektierung des Westjordanlands ausgesprochen. Seit er wieder im Amt ist verliert die Regierung in Israel alle Hemmungen. Als eine seiner ersten Amtshandlungen hob der Republikaner noch am selben Tag per Erlass Sanktionen auf, die Amtsvorgänger Joe Biden wegen gewaltsamer Übergriffe auf Palästinenser gegen eine Reihe radikaler Siedler im Westjordanland verhängt hatte. Ende März wurde so Hamdan Ballal, einer der beiden Co-Regisseure des mit dem Oscar für den besten Dokumentarfilm ausgezeichneten Films No Other Land, in seinem Haus in Masafer Yatta von israelischen Siedlern angegriffen und schließlich von der Armee festgenommen. 24 Stunden später kam er frei, nicht ohne „die Nacht in Handschellen und mit verbundenen Augen auf einer Militärbasis“ verbracht zu haben, „während zwei Soldaten ihn verprügelten“ so seine Anwältin.

Letzten Dienstag fiel der nunmehr frühere Finanzminister Bezalel Smotrich dann mit der Aussage auf, Israel sei im besetzten Westjordanland, „um dort zu bleiben“ und verteidigte, trotz ihrer Unrechtmäßigkeit, erneut den Ausbau jüdischer Siedlungen in dem palästinensischen Gebiet.

Für die eingangs zitierte Mitarbeiterin der NGO „Not To Forget“ kam der Räumungsbefehl am 10. März. Nachdem ihr Haus schon einmal durchsucht worden war, drangen am 10. März erneut Soldaten ein. „Unser Zuhause wurde in eine Militärkaserne umgewandelt, und wir wurden ohne Hoffnung auf Rückkehr vertrieben“. Mit ihrer Familie fand sie inzwischen Unterschlupf bei Verwandten, wo die Familie sich auf kleinstem Raum ein Zimmer teilen muss.

„All das ist illegal unter internationalem Recht. Aber das internationale Recht liegt unter den Trümmern von Gaza begraben“ meint dazu Luisa Morgantini, frühere EU-Abgeordnete für Rifondazione Comunista und ehemalige Gewerkschaftlerin. Jeden Tag ermöglichen europäische Regierungen Israels Kriegspolitik, sei es durch Waffenlieferungen oder dadurch, dass man zu Sanktionen gegen Israel keine klare Position aufbringe, so die 85-jährige, die ebenfalls live zugeschaltet war, und gerade erst aus dem Westjordanland zurückgekehrt ist, wo sie von den israelischen Behörden festgehalten wurde.

Morgantini macht sich keine Illusionen, warnt aber dennoch vor Resignation: „Lassen wir nicht zu, dass die Ohnmacht und Verzweiflung uns überkommen. Das ist keine Lösung.“ Auch wenn ihr das Wiedererstarken der Rechten in Europa Sorge bereitet: „Bis zum ersten Golfkrieg gab es eine Art Beziehung zwischen den Menschen, die kämpfen und protestieren und den Regierungen, die darauf geachtet haben. Jetzt nicht mehr. Da gibt es jetzt eine Trennung.“ Bertold Brecht paraphrasierend, meinte sie: „Wir leben in finsteren Zeiten“.

Frédéric Braun
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