Helle fühlt man sich nicht wirklich am Theaterausgang: Sich gegenseitig abtastende Blicke unter manchen Besuchern, die in die hauptstädtische Nacht hinausströmen, wollen wissen, ob der Gegenüber dem Bühnengeschehen mehr Verständnis abgewonnen habe. Nach verbissenem Schnüffeln im Programmheft, in Kindlers Literaturlexikon zu Das Leben ein Traum des spanischen Dichters Pedro Calderón (1600-1681), Nachforschungen über Pier Paolo Pasolinis Beweggründe zu dessen Übertragung in die zeitlichen Ebenen der Franco-Ära und nach Palermo 1979 endet die Recherche zu diesem Beitrag im ungewollten Sündenfall der Kritik: Lektürehilfe in fremden Gewässern, in diesem Fall bei Stefan Keim (Deutschlandradio-Kultur, 10.5.2016). Dessen Fazit: Völlige Verwirrung. Mein Fazit: Völlige Verwirrung.
Was Stefan Keim in der Luft zerreißt, trifft in diesen Zeilen jedoch auf gemischtere Gefühle. Frank Hoffmann inszeniert Pier Pedro Pasolini, der den spanischen Pedro Calderón mehrschichtig ins 20. Jahrhundert übertrug, kurz: Calderón. Das Leben ein Traum. Leitmotive sind in den verwischten Grenzen zwischen Traum, Wahn und Realität zu verorten. Der Drang der Vergessenen nach Macht und Machtmissbrauch, die damit einhergehende Unterhöhlung sozialer Strukturen fügen sich in diese Wahrnehmungsebenen ein. Als reiche die Verarbeitung nicht, schlägt Hoffmann auf die bereits durch Pasolini montierte Vorlage eine gehörige Portion Pasolini-Biografie obendrauf. Selig, wer hier noch durchblickt. Verlieren wir uns demnach nicht in diesem dramaturgischen Dickicht.
Hoffmanns Recklinghäuser Inszenierung in gemeinsamer Arbeit mit dem TNL und dem Theater Hannover hält sich in der Form über Wasser. Dies gilt keineswegs für die gesamte Inszenierung, die sich im Rückblick ganz dem Bigger, Better, Faster verschreibt. Denn Caldérón. Das Leben ein Traum ist ein Feuerwerk aus der Theatertrickkiste: Da wird herumgeschossen, gigantische Videoprojektionen hier und dort, greise Ärzte catchen unter Strobo-Schüben und in Metal-Riffs getaucht, dazu eine gehörige Portion Exzessbumsen samt Hitlergruß. Es sind 150 zähe Minuten, die uns das Geschehen abverlangt, 150 Minuten mit reichlichen Längen.
Nein, es sind vereinzelte Bühnenkompositionen, für die sich der Theaterbesuch wahrlich lohnt, und in diesem Kontext sei Bühnendesigner Ben Willikens und Bernhard Eusterschulte sowie der Kostümdesignerin Susann Bieling und der Maske von Sylvie Walisch-Kill ein größtes Lob erteilt. Breite, flexible Steinwände, ein überdimensionaler Spiegel, die neonbeleuchtete Skyline Madrids im Hintergrund, dazu ein überdimensionales Velazquez-Gemälde sorgen für ein nahezu fotografisches Gespür und ästhetisierte Kompositionen. Die Porträtszene steht bei dieser beeindruckenden Facette Pate.
An diesem Abend schlägt dazu die Stunde der Darsteller. Der schrille Dominique Horwitz, die quirlig verstörte Jacqueline Macaulay oder der schrullige Ulrich Kuhlmann sind nur Beispiele für ein exzellentes Ensemble, das dem Geschehen echte Surrealität verpasst. Niemand aber vermag die Schwäche der diffusen Handlung so sehr für Momente vergessen zu lassen wie Wolfram Koch, ein ganz, ganz Großer seiner Zunft. Denn bisweilen lässt die Bühne Stille zu. Dann schleicht sich Sigismund, zentrale Figur des Calderón’schen Versdramas, in seinen Lumpen aus dem Verlies auf die Vorderbühne und sorgt sogleich mit glottalen Knacklauten und beeindruckend verquerer Gestik in einem metaphorischen Monolog über Gefangenschaft und Freiheit in der parallelen Vogelwelt für die wahren Momente dieses Abends. Wolfram Koch versucht, das völlig unkontrolliert abgeschossene Feuerwerk mit darstellerischer Finesse zu löschen, zu beruhigen und sorgt so für seltene Ruhepunkte künstlerischer Besinnung.
Der andauernde Applaus am Ende galt demnach wohl dem Verdienst von Bühnenbildnern und Darstellerensemble. Die bisherigen Verdienste von Regisseur Hoffmann und Dramaturg Wagner sind über alle Zweifel erhaben. Calderón. Das Leben ein Traum verliert sich jedoch im Wirrwarr, statt sich dem Wesentlichen zu widmen.
Calderón. Das Leben ein Traum, nach Pedro Calderón und Pier Pasolini; eine Produktion der Ruhrfestspiele Recklinghausendes Schauspiels Hannoverder Théâtres de la Ville de Luxembourg; Regie von Frank HoffmannBühne von Ben Wilikens; Kostüme von Susann Bieling; Musik und Toneffekte von René Nuss; Maske von Sylvie Walisch-Kill; mit u.a. Jacqueline Macaulay, Hanna Shygulla, Dominique Horwitz, Anne Moll, Wolfram Koch, Ulrich Kuhlmann, Roger Seimetz, Annette Schlechter, Nicolai Despot