Zeit zum Jammern und Zeit zum Jauchzen gibt es in der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Die ganze Kunst besteht darin, zum taktisch richtigen Zeitpunkt das Register zu wechseln.
Zeit zum Jammern war vergangenes Jahr, als die Regierung ein hoffnungsloses Bild der Konjunktur und der Staatsfinanzen malte, um das fünfte Sparpaket seit der großen Krise, ihr „Zukunftspaket“, als Hoffnung und Erlösung darstellen zu können.
Doch nun ist bald die erste Hälfte der Legislaturperiode vorbei, danach folgt ein Wahlkampf dem anderen, und das Referendum im Juni sowie alle Meinungsumfragen zeigen, wie unbeliebt die DP/LSAP/Grüne-Koalition inzwischen ist. Also ist es höchste Zeit zum Jauchzen, und dies um so mehr, als die Konjunktur derzeit mit einer Geschwindigkeit wie zu Zeiten vor der großen Krise wächst.
Als Finanzminister Pierre Gramegna (DP) vor 14 Tagen im Parlament den Entwurf des Staatshaushalts für nächstes Jahr vorstellte, nannte er sich selbst „ganz zuversichtlich“ und jubelte: „Unser Bruttoinlandsprodukt wird 2016, wenn nicht schon dieses Jahr, zum ersten Mal über 50 Milliarden liegen.“ Trotz aller Unkenrufe „wächst der Finanzplatz“ weiter. Bei den Staatsfinanzen „geht das Defizit zurück“. „Die Ausgaben wachsen langsamer als die Einnahmen [...] Die Ausgaben sind im Griff. [...] Die Einnahmen entwickeln sich korrekt. [...] Die Staatsschuld stabilisiert sich.“ Luxemburg werde sein mittelfristiges Haushaltsziel „nicht nur nächstes Jahr, sondern auch über die Periode bis 2019 global respektieren“ und im Gegensatz zu vielen anderen Ländern dabei „die Politik, die Investitionen hoch zu halten, konsequent fortsetzen“.
Die guten Nachrichten machten schnell die Runde. Nach der Sitzung des Nationalvorstands am Montag fühlte sich CGFP-Generalsekretär Romain Wolff nun vom Finanzminister bestätigt. Er hatte schon immer abgewiegelt, die Lage der Staatsfinanzen sei keineswegs so dramatisch, wie von der Regierung dargestellt. Die 750 Neueinstellungen nächstes Jahr beim Staat zeigten, dass „die Regierung ihren Fehler erkannt hat“, den sie beging, als sie Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst wegrationalisierte. Es sei also nun „an der Zeit, die Verbraucher zu entlasten“, statt „auf Teufel komm raus die Sparpolitik fortzuführen“, forderte Romain Wolff.
Der OGBL will noch einen Schritt weiter gehen. Denn er habe nicht nur wirtschaftliche und soziale Analysen betrieben, sondern auch Entscheidungen bis ins nächste Jahr hinein getroffen, kündigte Präsident André Roeltgen nach der Sitzung des Nationalvorstands vergangenen Monat in Düdelingen an. Nach jahrelangem Sozialabbau, zunehmender „Schieflage bei der Verteilung“ des erwirtschafteten Reichtums und nach den verschiedenen Steuerhöhungen habe die größte Gewerkschaft des Landes eine „Aktionskampagne“ beschlossen, die Stimmung für einen ersten Protest Ende November und weitere nöchstes Jahr machen soll.
Der OGBL fürchtet, dass die Lohnabhängigen bei dem robusten Wirtschaftsaufschwung leer ausgehen sollen, weil für sie die nach der großen Krise begonnene Sparpolitik fortgesetzt werden soll. „Wenn binnen drei Jahren über zehn Prozent Wirtschaftswachstum stattfand, kann es nicht sein, dass weder Sozialreformen durchgeführt werden, noch die Regierung eine Kurskorrektur vornimmt und ihr Sparpaket revidiert“, meinte André Roeltgen.
Die geplante Kampagne soll sich an die Regierung richten und mit der Losung „ein Sozialpaket für Luxemburg“ das Gegenstück zum „Zukunftspaket“ genannten Sparpaket der Koalition darstellen. Vor allem geht es um die Arbeitszeitregelung, die Reform der Pflegeversicherung und selbstverständlich die bevorstehende Steuerreform. Um Vorwürfe abzuwenden, dass die Gewerkschaft sich nur noch mit der Regierung, nicht aber den Unternehmern anzulegen sich traut, kündigte André Roeltgen an, bei den Tarifverhandlungen in den Betrieben „Schluss mit der moderaten Lohnpolitik“ zu machen.
Der politische Erfolg des Luxemburger Modells bestand darin, mit einer resolut bis skrupellos angebotsorientierten Wirtschaftspolitik so hohe Wachstumsraten herauszuschlagen, dass genug vom erwirtschafteten Reichtum abgegeben werden kann, um breite Kreise der Bevölkerung zufriedenzustellen. Damit war aber 2008, als Reaktion auf die Finanz- und Wirtschaftskrise, erst einmal Schluss.
Die nun umkämpfte Frage lautet, ob 2008 eine Epoche zu Ende ging und auch bei wieder hohem Wachstum auf eine weitere Umverteilung verzichtet wird. Dies ist weitgehend die Antwort der Unternehmerverbände, die sich auf die Verschärfung des internationalen Konkurrenzkampfs berufen, und der Europäischen Union, die die Sparpolitik in der Euro-Zone institutionalisierte. Für die Gewerkschaften lautet die Antwort dagegen, dass die Einsparungen seit 2008 nur provisorisch waren und es angesichts des hohen Wirtschaftswachstums nun an der Zeit sei, zu dem großzügigeren Regime von vor der Krise zurückzukehren. Eine Antwort wird dadurch noch schwieriger, als mit dem Ende des Bankgeheimnisses und dem möglichen Ende der Ruling-Industrie das „schnell verdiente Geld“, wie der Finanzminister es nannte, weniger wird.
Deshalb sind alle Blicke auf die vor zwei Jahren an die Macht gekommene liberale Koalition gerichtet. Sie hatte sich zwar politisch ungeschickt als die Freunde der Unternehmensberater und Lobbyisten in Szene gesetzt. Doch nach dem für sie gescheiterten Referendum ist sie so geschwächt, dass sie von der guten Konjunktur profieren muss, um sich wieder in die Herzen der Wähler einzukaufen.
Die Operation hat bereits begonnen: Nachdem die Wiedereinführung der automatischen Indexanpassung in Desinflationszeiten noch vergangenes Jahr an einen Taschenspielertrick grenzte und die Mindestlohnbezieher zum 1. Januar noch mit einer Anpassung um 1,93 Euro monatlich verhöhnt worden waren, wurde im April rückwirkend zum 1. Januar der Punktwert der Gehälter im öffentlichen Dienst um 2,2 Prozent erhöht und im Mai eine Prämie von 0,9 Prozent eines Jahresgehalts ausgezahlt. Das war zwar der Preis für die bei vielen Beamten unbeliebte und immer wieder aufgeschobene Reform des Statuts, aber auch ein Zeichen, dass die sozialpolitische Eiszeit vorüber sei.
Familienministerin Corinne Cahen konnte schon im April das Einverständnis von Gewerkschaftern und Unternehmern zu einer Reform des Elternurlaubs einholen, der flexibler und besser vergütet wird, um ihn auch für die liberale Wahlklientel mit höheren Einkommen interessant zu machen. Den Sukkurs der Sozialpartner gönnt sich die Regierung zum Preis von 20 Millionen Euro höheren Ausgaben jährlich. Gedeckt werden diese Ausgaben durch Kürzungen der Familienzulagen, die der Koalition von Anfang an ein Dorn im Auge waren. Der Finanzbogen zum Gesetzentwurf beziffert die Einsparungen durch die Einführung eines einheitlichen Kindergeldbetrags auf 98,3 Millionen Euro ohne Übergangsbestimmung. Durch die gesamte Reform sollen die Einsparungen während der Übergangsphase von 15,1 Millionen nächstes Jahr auf 86,6 Millionen Euro in zehn Jahren steigen, ein Vielfaches dessen, was der Elternurlaub zusätzlich kostet.
Am Dienstag dieser Woche ließ Sozialminister Romain Schneider (LSAP), der jeden Streit um die Reform der Pflegeversicherung zu vermeiden versucht, eine Ankündigung verschicken, dass am 1. Januar eine halbprozentige Rentenanpassung erfolgt. Das sieht zwar bescheiden aus, aber es ist doch ein starkes Symbol, dass die Zeit des Gürtel-enger-Schnallens vorbei ist, nachdem die CSV/LSAP-Koalition 2013 eine Rentenanpassung abgelehnt hatte und die liberalen Nachfolger ab 2014 den Dämpfungsfaktor für die Anpassung an die Lohnentwicklung auf null gesetzt hatten.
Einig sind sich die Gewerkschaften, dass angesichts der verbesserten Konjunktur die 0,5 Prozent Haushaltsausgleichssteuer nicht erst Ende nächsten, sondern schon Ende dieses Jahres abgeschafft werden soll. Obwohl sie laut Haushaltsentwurf nächstes Jahr 100 Millionen Euro einbringen soll und Finanzminister Pierre Gramegna hartnäckig beteuert, dass er nicht auf diese Einnahmen verzichten will.
Ansonsten versucht der OGBL, alleine und nicht ohne Mühe für sein „Sozialpaket“ zu mobilisieren. Der christliche LCGB äußerte sich bisher nicht einmal zum Entwurf des Staatshaushalts und interessiert sich vor allem für die auch vom OGBL kritisierte Kindergeldreform, zu der er vergangene Woche eine Konferenz in Kayl organsiert hatte. Die CGFP knüpft ihre Hoffnungen an die geplante Steuerreform, die in ihren Augen die Familien und Alleinerziehenden entlasten, den Mittelstandsbuckel abflachen und die Steuertabelle wieder an die Inflation anpassen soll.
Im Wirtschafts- und Sozialrat wollen die Unternehmens- und Gewerkschaftsvertreter bald ihre Diskussionen über die Steuerreform abgeschlossen haben und ihre Empfehlungen an die Regierung weiterleiten. Die Steuerereform soll dann die große Umverteilungsaktion der Legislaturperiode werden. Dass die Bezieher niedriger Einkommen davon weitgehend ausgeschlossen sein werden, lässt sich an der Steuertabelle ablesen.