Hoch aufragende Wohntürme, eine in sich geschlossene Stadt ohne Außenwelt, eine junge Frau, deren Leben aus der Bahn gerät – Yoon, der neue Film des österreichischen Regisseurs Christian Frosch, eine internationale Koproduktion, an der maßgeblich die Luxemburger Minotaurus Film und die österreichisch- luxemburgische Firma Amour Fou beteiligt sind, führt in eine geheimnisvolle, klaustrophobe Welt. Neustadt heißt dieses System, das zugleich Stadt und Welt ist und sich selbst kontrolliert: eine autarke Zukunftsstadt, in der die Bewohner arbeiten, schlafen, Partnerschaften eingehen, Beziehungen wechseln, ihr Leben verbringen. In diesem Leben ohne Außenbeziehungen gerät die junge Hannah in einen merkwürdigen Sog unerklärlicher Ereignisse. Hannah verlässt ihren Mann Branco, der bald darauf verschwindet. Ihr Liebhaber, ein Detektiv, scheint sich mit ihren besten Freunden gegen Hannah zu verschwören. Die neue Wohnung in den oberen Stockwerken der Wohntürme von Neustadt konfrontiert sie mit der Geschichte der Vormieterin Yoon: Hier hat sie sich aus dem Fenster gestürzt – aber warum? Die persönliche Krise und tiefe innere Erschütterung der Hauptfigur wird zum Ausgangspunkt einer vielfach verschlungenen Geschichte um, wie Regisseur Frosch es ausdrückt, "eine Person, die schizophren sein könnte". Dieses Nicht-genau-Wissen, der Grenzgang zwischen augenscheinlicher Logik und innerem Empfinden, soll dabei tragendes Element der Erzählung und filmischer Stil gleichzeitig sein. Regisseur und Drehbuchautor Christian Frosch verknüpft dazu Zukunftsvisionen, Thriller-Elemente und eine Liebesgeschichte. "Social Fiction" nennt der Filmemacher, der 1966 im niederösterreichischen Waidhofen/Thaya damals noch hart am Eisernen Vorhang, an der Grenze zu Tschechien gelegen, geboren wurde und seit 18 Jahren in Berlin lebt, seinen Ansatz: nicht die technische, sondern die "soziale Zuspitzung" einer Zukunftsvision. Ausgangspunkt war die Frage, "was ist das für eine Gesellschaft, die sich immer mehr aufs Innen konzentriert, wo das Außen als gefährlich gesehen wird – und wohin bewegt sich diese Gesellschaft?". Den "perfekten architektonischen Rahmen" dazu lieferte ihm die Wohnsiedlung Alt-Erlaa im Südwesten Wiens: Eine von 1973 bis 1985 nach Plänen des Architekten Harry Glück entstandene Wohnstadt, die exemplarisch für die Siedlungsplanung Ende der 1960er Jahre steht, als versucht wurde, Masse und Lebensqualität unter einen Hut zu bringen, nach dem Leitsatz: "Das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl". So entstand hier ein "Wohnpark" in der Größe einer Kleinstadt mit riesigen Terrassen-Wohnblöcken und einer Vielzahl von Gemeinschaftseinrichtungen, Freizeitclubs, Schulen, vielen Grünflächen und – nach vielen Jahren tatsächlich realisiert – rascher öffentlicher Verkehrsverbindung in die Innenstadt. Heute leben dort rund 12000 Menschen in 3300 Wohnungen, und der Alltag zeigt sich paradox: Hohe Wohnzufriedenheit einerseits trifft auf eine hohe Selbstmordrate andererseits. Die Ambivalenz von Sicherheit und Kontrolle, Anonymität und Einsamkeit, Überschaubarkeit und Enge spielt eine große Rolle in Yoon. "Die Architektur ist hier in Alt-Erlaa nicht nur Fassade, sondern soziologisches Konzept. Das war ganz wichtig für die Geschichte", erklärt Filmemacher Frosch im Gespräch mit dem Land und schlägt eine Brücke zu Freud: In Anlehnung an dessen Beschreibung des Unterbewusstseins als "Ruinen", die auf ein architektonisches Konzept verweisen, soll hier die Psyche als Architektur, gleichzeitig die Architektur in ihren Auswirkungen auf die Psyche einen unterschwelligen Erzählfaden spinnen. Frosch erzählt die Geschichte aus Sicht der fragilen Hannah, gespielt von der deutschen Schauspielerin Brigitte Hobmeier – eine Figur, die sich während des gesamten Films an der Grenze zur Paranoia bewegt: "Jeder ihrer Schritte scheint logisch, aber am Ende erscheinen immer mehr Zweifel, ob ihre Wahrnehmung stimmt", beschreibt Frosch: "Die Wirklichkeit spaltet sich immer mehr auf. Es ist, als ob der Film selbst schizophren würde". Dabei wird der Ort nicht als konkrete Siedlung Alt-Erlaa gezeigt, sondern mit digitalen Effekten in das undefinierbare, zeitlich und geografisch nicht einordenbare "Neustadt" verwandelt. So werden etwa auf die 27 Stockwerke der Wohntürme weitere Stockwerke aufgesetzt. Lange Brennweiten sollen Unschärfen erzeugen, die das erzählerische Thema der Ungenauigkeiten in der Wahrnehmung technisch umsetzen. Die Dreharbeiten in Wien wurden eben abgeschlossen. Yoon als internationales Projekt mit dem deutschen Kameramann (Busso von Müller), einem deutsch-österreichischen Ensemble (neben Hauptdarstellerin Hobmeier spielen unter anderen Martin Wuttke, Johanna Wokalek, Gabriel Barilly und Erni Mangold), einem italienischen Ausstatter (Giovanni Scribano) wird nun in Österreich, Deutschland und Ungarn fertig gestellt. Für die koproduzierenden Firmen Minotaurus Film und Amour Fou ist Froschs "Social Thriller" zwar nicht das unmittelbar angestammte Genre, trägt für Koproduzentin Bady Minck aber "sehr stark die Handschrift des Autorenkinos". Minck sowie ihre Partner Gabriele Kranzelbinder und Alexander Dumreicher-Ivanceanu sehen im vielseitigen Finanzierungskonzept mit Beteiligungen aus Deutschland, Ungarn, Österreich und Luxemburg die lange gestellte Forderung realisiert, Kofinanzierungen und Koproduktionen auf europäischer Ebene zu vereinfachen: "Der Konkurrenzkampf zwischen den Förderinstitutionen muss sich abschwächen", meint Bady Minck. "Wenn jeder Förderer zuerst an den unmittelbaren Regionaleffekt und nicht an die gegenseitige – auch wirtschaftliche – Befruchtung durch langfristige Zusammenarbeit denkt, wird die Arbeit der Produzenten schwierig – und dem Europudding der Weg geebnet. Kooperation unter den Finanzierungsinstitutionen ist daher ein wichtiges Ziel – eine Kooperation, die Luxemburg und Österreich mit dem gemeinsamen Kofinanzierungsabkommen erfolgreich vorleben." Yoon soll im Herbst kommenden Jahres in Deutschland, Österreich und Luxemburg starten.
Fränk Grotz
Catégories: Films made in Luxembourg
Édition: 12.10.2006