Droht mit der Pflegeversicherungsreform, die die Regierung plant, der Einstieg in die Zwei-Klassen-Pflege? Der Pflegedienstleisterverband Copas malte dieses Szenario an die Wand, als er am Montag sein Gutachten zu den ersten Reformideen vorstellte, die Sozialminister Romain Schneider (LSAP) Ende Juli der Copas sowie den Gewerkschaften OGBL und LCGB unterbreitet hatte. Die meisten Ideen Schneiders sind für den Verband der Pflegebetriebe „inakzeptabel“. Copas-Präsident Marc Fischbach, der frühere CSV-Minister, spätere Richter und Ombudsman, warf dem Sozialminister und der Regierung vor, es gehe bei der Reform nur ums Sparen. Er hielt dagegen, „Qualität“ habe nun mal „ihren Kostenpunkt“. Und fragte rhetorisch in die Pressekonferenz im Versammlungssaal am Copas-Sitz in Liwingen hinein, ob der Minister „etwa will, dass wir Personal entlassen“.
Fast könnte man meinen, die Debatte um die Pflegereform sei schon in vollem Gange. Das ist sie nicht, noch immer gibt es nicht einmal einen Vorentwurf für einen Reformtext. Was Romain Schneider im Juli präsentiert hatte, waren aber keine unwichtigen Ideen. Fertig ausformuliert und zusammen mit anderen sollen sie den Pflegemarkt im Lande ordnen, so gut es geht. Das Problem scheint nur einerseits darin zu bestehen, dass der Sozialminister seine ersten Reformansätze vor drei Monaten eventuell nicht richtig verständlich machen konnte, und dass andererseits im Pflegesektor Kollektivvertragsverhandlungen ins Haus stehen, bei denen es um ziemlich viel Geld gehen könnte.
Was Schneider bisher hat andenken lassen, ist die Einführung von 15 „Pflegeklassen“ sowie die Kürzung bestimmter Leistungen aus der Pflegeversicherung. Eigentlich wären das drastische Schritte, die zu einer Regierung passen würde, die vor allem ans Sparen denkt und schon vor einem Jahr im Zukunftspak festgeschrieben hat, den Staatszuschuss an die Pflegekasse nach und nach immer weiter senken zu wollen – bis die Einsparung 2018 mindestens 38 Millionen Euro beträgt. Zum Vergleich: 2014 schoss der Staat 232 Millionen Euro zu. Laut Gesetz trägt er 40 Prozent der Pflegeausgaben. Soll die Staatskasse entlastet werden, müssen die Pflegeausgaben sinken.
Dass die Regierung tatsächlich nur ans Sparen denke, findet die Copas. Da wäre die Sache mit den Pflegeklassen: Während heute für jeden Leistungsempfänger ein individueller Pflegeplan aufgestellt wird, der detailliert jede einzelne Leistung auflistet und mit Minuten versieht, seien die 15 Klassen „nicht mehr individuell“, erklärte Marc Fischbach am Montag. Sondern sie entsprächen „dem Durchschnitt dessen, was in den vergangenen Jahren geleistet wurde“, und am Ende gebe es davon „nur 91 Prozent“. Wollte ein Pflegebetrieb einem Pflegebedürftigen „hundert Prozent geben“, sei das nur möglich, „wenn er einem anderen etwas wegnimmt“. Das könne nicht sein.
Ebenfalls nicht einverstanden sind die Pflegebetriebe damit, dass „nicht-spezialisierte Gruppenarbeit“ in Alten- und Pflegeheimen nicht mehr aus der Pflegekasse bezahlt werden soll und die Putzarbeiten in den Zimmern pflegebedürftiger Heimbewohner gleichfalls nicht mehr. Beide Leistungen soll es, wie Romain Schneider es angedeutet habe, nur noch in der mobile Pflege geben.
Hinter diesen Begriffen stecken ziemlich komplexe Zusammenhänge. „Nicht-spezialisierte Gruppenarbeit“ in Heimen kann in betreutem Kochen oder Basteln bestehen, aber auch in Spaziergängen in der Gruppe oder in „Gruppen-Nachtwachen“, einem reichlich dubiosen Pflegeakt, weil jedes Haus von Gesetz wegen ohnehin Nachtwachen anbieten muss. Die nicht-spezialisierte Gruppenarbeit in den Heimen nicht mehr aus der Pflegekasse bezahlen zu wollen, enthielte die Aufforderung an die Heime, sie über den Unterbringungspreis abzudecken. Das gleiche gilt für die Putzarbeiten, die schon vor zehn Jahren die damalige Regierung nicht mehr aus der Pflegekasse bestritten sehen wollte. Das Vorhaben scheiterte aber am Widerstand der Häuser, die das wichtigste Druckmittel aufboten, das ihnen zur Verfügung steht: eine demonstrative und deutliche Erhöhung der Heimpreise für sämtliche Bewohner, ob pflegebedürftig oder nicht.
Deshalb ist es keinesfalls gesagt, dass solche Kürzungen politisch durchsetzbar wären – so angebracht und wenig schädlich sie vielleicht auch sein mögen. Es zeigt aber, dass Pflegeversicherungsreformen schwierig durchsetzbar sind, wenn sie gegen die Pflegebetriebe versucht werden.
Denn deren Umsatz hängt nun einmal stark von der Pflegeversicherung ab. Und weil im Pflegebereich hierzulande Marktfreiheit herrscht und die Konkurrenz wächst, nimmt auch die um das knappe Geld aus der Pflegekasse zu.
Das wird auch am Thema „Pflegeklassen“ deutlich. Ob die 15 Klassen wirklich so gemeint sind wie die Copas sie erklärt, ist nicht sicher. Die Gewerkschaften sehen die Pflegeklassen ebenfalls kritisch. Aber während der LCGB der gleichen Ansicht ist wie die Pflegebetriebe und sogar die Bipartite-Abmachung zwischen Regierung Gewerkschaften vom November 2014 verletzt sieht, in der steht, an den Grundprinzipien der Pflegeversicherung dürfe nicht gerüttelt werden, ist die Staatsbeamtengewerkschaft CGFP „im Prinzip“ mit den Pflegeklassen einverstanden. Sofern „tatsächlich kontrolliert“ würde, was an Pflege geleistet wird. Der OGBL hat sich zu Romain Schneiders ersten Reformideen noch nicht geäußert; an der Stellungenahme werde noch gefeilt, heißt es aus der Gewerkschaftszentrale.
Land-Informationen nach sind die Pflegeklassen nicht ohne Weiteres als Einstieg in die Zwei-Klassen-Pflege zu verstehen. Die individuelle Pflegebedürftigkeit würde auch weiterhin detailliert und nach Minuten erfasst wie heute, aber am Ende zu einer Minutensumme addiert. Je nach Höhe der Summe fiele diese in eine von 15 Klassen, aus denen jeweils ein pauschaler Geldbetrag zur Verfügung steht. Welche Pflege einer Person zuerkannt wird und auf die sie Anspruch hat, würde ihr auch nach Übergang auf die Klassen in allen Einzelheiten mitgeteilt. Und es würde ein individuelles „Pflegeziel“ aufgestellt und kontrolliert.
Dass lediglich 91 Prozent pro Klasse zuerkannt werden, hat noch andere Ursachen. Schon vor drei Jahren wurde in einer großen Pflegeversicherungs-Bilanz an den damaligen Sozialminister Mars Di Bartolomeo (LSAP) vorgerechnet, dass die Pflegeheime von dem, was ihren Pflege-Insassen zusteht, nur an die 90 Prozent am Ende auch in Rechnung stellen und die mobilen Dienste nur rund zwei Drittel. Wie es scheint, soll die „91-Prozent-Regel“ nur offizialisieren, was schon die Regel ist. Und auf diesem Punkt tatsächlich sparen. Ob der Sozialminister damit durchkommt, ist eine andere Frage.
Was genau von den von den 15 Klassen zu halten wäre, ist schwer einzuschätzen, so lange solche Szenarien nicht formell erklärt werden. Auch die CGFP hat ihre Bedenken, und der beigeordnete LCGB-Generalsekretär Christophe Knebeler erinnert sich, dass die Vorträge des Sozialministers und seiner Beamten im Juli sich „zum Teil widersprochen“ hätten. Eines fällt jedoch auf an den Konzept: Dass Pflegeziele aufgestellt und kontrolliert werden sollen, steht im Pflegeversicherungsgesetz, seit dieses 1998 vom Parlament verabschiedet wurde, geschehen aber ist in diese Richtung noch nichts. Am Montag aber war es auch der Pflegedienstleisterverband, der meinte, es müssten endlich allgemeinverbindliche Normen und Qualitätsstandards her und der Sozialminister solle „ein Pflegezielkonzept endlich vorlegen“. Die wichtige Botschaft vom Montag lautet demnach, Ja zu mehr und zu richtigen Kontrollen.
Sofern, und das ist wohl der zweite Teil der Botschaft, von finanziellen Einschnitten nicht nur weitgehend abgesehen wird, sondern es sogar mehr Geld gibt. Ginge es nach der Copas, könnten allenfalls die betreuten Ausgänge von Heimbewohnern zum Einkaufen, zum Arzt oder zu Behörden künftig aus dem Pflegeleistungskatalog gestrichen werden. „Das könnten die Heimbewohner selber tragen oder das Heim übernimmt das“, erklärte Marc Fischbach.
Dagegen wünscht die Copas in Zukunft mehr „Prävention“ finanziert, wodurch Pflegebedürftigkeit, etwa durch Altersdemenz, am besten gar nicht erst aufkommen soll. Die Pflegekasse sollte dafür auch aufkommen, wenn ein Pflege-Antragsteller die Schwelle von mindestens dreieinhalb Stunden wöchentlichem Bedarf an den klassischen Pflegeleistungen für Körperpflege, Nahrungsaufnahme und Fortbewegung noch nicht erfüllt. Das sei „Qualität, die einen Kostenpunkt hat“, rief der Copas-Vorsitzende in den Saal, als er gefragt wurde, ob die Pflegeversicherung dadurch nicht viel teurer würde als heute. Immerhin ist für Prävention nach Ansicht des Pflegedienstleisterverbands nicht einfach nur mehr Personal nötig, sondern „Psychologen, Ergotherapeuten und Kinesitherapeuten“, also sehr hochqualifiziertes Personal mit assimiliertem Staatsbeamtenstatut, wie es laut Kollektivvertrag im Pflegesektor gilt.
Weil Verhandlungen um einen neuen Kollektivvertrag anstehen, erhalten alle Äußerungen von Pflege-Patronat, OGBL und LCGB eine zusätzliche Note. Zumal diesmal um eine Karrierenaufwertung verhandelt werden müsste, wie sie sich aus der Reform des Beamtenstatuts im öffentlichen Dienst ergibt. Erzählt die Copas der Regierung, dass hochwertige Pflege nur mit noch mehr teurem Personal zu haben sei, macht sie indirekt Druck auf die Gewerkschaften, sich mit Forderungen zurückzuhalten, weil die Reserven der Pflegekasse ja schon schmelzen. Und will sie den Gewerkschaften nicht nachgeben, kann sie die Schuld daran an die Regierung, die sparen wolle, weiterreichen.