Es gibt wenige Accessoires auf einer Konzertbühne, die man nicht unbedingt zum Gegenstand musikalischer Virtuosität zählen möchte. Ein Notenständer gehört zweifelsohne dazu. Unbeachtet. Unbedacht. Ein tragende Rolle hat er zwar, aber selten ist er unersetzlich. Eine Ablage im Orchesterrund. Schlicht in der Form. Schnörkellos. Minimalistisch. Funktionalistisch. Aber mehr auch nicht.
Bis Multi-Percussionist Christoph Sietzen mit zwei Sticks einen herkömmlichen Notenständer zu einem wohlklingenden Instrument macht. Schläge in Bodennähe stumpf und tief, auf dem Gestell hell und fordernd; kontrastiert mit einem Trommeln auf dem Boden der Bühne ergibt sich eine ungeahnte, unerwartete Musikalität. Fast scheint es, als gebe der Geburtsort des luxemburgischen Musikers, Salzburg, das Libretto für dessen Musikalität, sein Taktgefühl und vor allen Dingen für seine Experimentierfreude. Seine nahezu kindliche Begeisterung im Spiel über Klang und Takt machen Christoph Sietzens Solokonzerte zu einem beeindruckenden Ausflug in ungeahnte Hörwelten.
Wichtigstes Instrument ist dabei das Marimbaphon, ein großes Xylophon. Es ist das Nationalinstrument des mittelamerikanischen Guatemala, wo es erstmals im Jahr 1680 erwähnt wurde. Seine Ursprünge liegen jedoch wohl einige Generationen, wenn nicht Jahrhunderte früher, in einem anderen Erdteil: in Afrika. Hier scheint die Sonderform des Xylophons – um genau zu sein: ein Aufschlagidiophon – seine Ursprünge zu haben. Heute ist es in der Karibik in Abwandlungen noch immer verbreitet und trägt zu der besonderen Klangfarbe der dortigen Volksmusik bei.
Christoph Sietzen nutzt dieses karibisch-mittelamerikanische Instrument, um eingefahrene Hörweisen zu hinterfragen. Man liegt fern mit der Annahme, wenn er Johann Sebastian Bach auf dem Marimbaphon intoniert, eine zugekiffte Reggea- oder schnulzig säuselnde Bossa-Nova-Version der Fugen zu hören. Sietzen lässt Bach Bach bleiben, die Akkorde, die Klangwelt, das, was Bach ausmacht, bleibt der Musik immanent und erhalten.
Hinzu kommt der Rhythmus, bedingt durch das Schlaginstrument. Hier löst sich ein scheinbarer Gegensatz auf, denn oft wird gerade frühklassischer Musik nachgesagt, zwar mit einem Taktmaß gesegnet zu sein, aber ohne Rhythmus auskommen zu müssen, weil Klassik im seltensten Fall ein Schlagzeug einsetzt. Abgesehen von der Pauke, auf deren Fell immer dann gehauen wird, wenn es dramatisch wird. Das fragile Zusammenspiel der Klanghölzer in den Fugen von Bach kann sich durch ein forsches taktgebendes Instrument schnell in dem Widerspruch zwischen Modernität und Originalität verrennen – im wahrsten Sinne des Wortes. Doch hier zeigt sich die Virtuosität und das variantenreiche Spiel des Multi-Percussionisten, der in der Tonalität, im vorgegebenen Takt der Bach’schen Fugen bleibt und den Schlagklang des Marimbaphons als abwechslungsreichen Kontrapunkt einsetzt. Der Impuls des Anschlags verschwindet im Klang des Holzes.
Doch Christoph Sietzen setzt nicht nur auf die Transkription von Alten Meistern oder Klassikern zum Wohlklang des Xylophons, sondern spielt auch Werke von Emmanuel Séjourné oder Arvo Pärt, die eigens für das Marimbaphon geschrieben oder dafür arrangiert wurden. Auch von Sietzen selbst. Hier ist es vor allen Dingen Pärt, der österreichisch-estnische Wegbereiter der Neuen Musik, der mit seinem Tintinnabuli-Stil – das lateinische Wort Tintinnabulum bedeutet Glockenspiel – neue Akzente setzte, die von Sietzen virtuos umgesetzt werden. Gemeint ist dabei der Dreiklang, dessen drei einzelne Töne über das ganze Stück mittönen und einen Klangteppich bilden, aus dem Variationen des Dreiklangs ausbrechen oder, um im Bild zu bleiben, das Muster bilden.
Christoph Sietzen ist ein Vollblutmusiker, den das Webmagazin Spiegel Online als „jungen Wilden“ beschrieb. Wer einen Auftritt des Percussionisten besucht, kann das voreilige Attribut nachvollziehen. Während dem jungen Wilden jedoch der Ungestüm, wenn nicht sogar die Unbeständigkeit, die Wankelmütigkeit und die Aufgeregtheit der Jugend zugeschrieben werden, bleibt Sietzen der konzentrierte Musiker, der sich mit ganzem Körpereinsatz der Musik widmet, was in einigen Sequenzen dem Impuls des Stücks geschuldet sein mag, aber nicht immer dem Dargebotenen Ernsthaftigkeit gebieten möchte.
Aber spätestens in Solokonzerten darf auch mal der Musiker mit den Holzschlägern und anderen Stöcken auf sich aufmerksam machen, der sonst bei Konzerten – egal welcher Stilrichtung – stets anderen Musikern den Applaus überlassen muss. Doch das ist alles eine zu vernachlässigende Petitesse, spätestens dann, wenn Sietzen Boden und Notenständer Klänge und Kompositionen entlockt. Es ergibt sich dann ein Spannungsbogen, der nicht nur durch mitreißende Rhythmik betört, sondern auch im abwechslungsreichen Spiel, dem Wechsel zwischen Forte und Piano, aufdringlicher und verhaltener Passagen. Dann ist sich Christoph Sietzen mit dem Ex-Beatle Ringo Star einig, der mal sagte: „Wenn ich trommle, bin ich in meinem Element. Ich könnte das noch ewig machen.“