d’Land: Herr Ewringmann, in Ihrer neuen Publikation für den Mouvement écologique stellen Sie die Luxemburger BIP-Wachstumsprämisse von jährlich vier Prozent in Frage. Weshalb sollte Luxemburg ausgerechnet jetzt über sein Wachstum nachdenken? Man will ja aus der Krise raus.
Dieter Ewringmann: Das will jeder, und es ist völlig legitim. Aber solange ein Wachstum sich einigermaßen regelmäßig einstellt, gibt es kaum eine Volkswirtschaft, die ihre Wachstums-erwartungen und ihre darauf gründenden Systeme in Frage stellt. Insofern glaube ich, dass jetzt ein guter Zeitpunkt wäre, um über Reformen am Luxemburger Modell oder neue Wege nachzudenken. In guten Zeiten gelingt das meist nicht.
Sie schreiben, die vier Prozent seien nicht realistisch. Jüngste offizielle Prognosen aber gehen für das laufende Jahr schon wieder von drei oder 3,2 Prozent BIP-Wachstum aus. Das sieht doch gut aus.
Luxemburg hat seit vielen Jahren ein Wachstum, das über dem EU-Durchschnitt liegt. Und obwohl ich kein Konjunktur- und Wachstumstheoretiker bin, bin ich ziemlich überzeugt, dass Luxemburg erneut zu beachtlichem Wachstum gelangt. Aber die Zuwächse werden sich abflachen. Alle Prognosen für Luxemburg, ob von der EU-Kommission oder der OECD, gehen längerfristig – und nur darum geht es mir – von nur noch etwa zwei Prozent aus.
Sind solche Langfrist-Vorhersagen wirklich zuverlässig?
Die Frage ist berechtigt. Die derzeitige Krise zum Beispiel wurde von keiner solchen Prognose angekün-digt. Aber wenn man die Entwicklung der zwei letzten Jahrzehnte in Luxemburg betrachtet, stellt man fest: Inflationsbereinigt wuchs das BIP zwischen 1990 und 1995 um durchschnittlich 6,8 Prozent im Jahr. Zwischen 1995 und 2000 waren es 6,1 Prozent, zwischen 2000 und 2005 nur noch 3,6 Prozent. Demnach wurde schon lange vor der gegenwärtigen Krise die Vier-Prozent-Grenze unterschritten. Aktuelle Rechnungen gehen davon aus, dass es von 2005 bis 2010 einen BIP-Zuwachs um 1,99 Prozent jährlich gegeben haben wird.
Es gab zwischen 2000 und 2005 die Dotcom-Krise, nun die aktuelle Krise.
Hinter diesen Zahlen verbergen sich nicht nur kurzfristige Kriseneffekte, sondern auch eine ganz normale Entwicklung: Wie alle entwickelten Volkswirtschaften ist Luxemburg in eine Reifephase hineingekommen. Mit zunehmender Entwicklung sind keine gleich bleibend hohen Wachstumsraten mehr zu erzielen. Das ist keine Prognose, sondern eine empirische Erkenntnis, die sich statistisch klar belegen lässt.
Trotzdem: Vor fünf, sechs Jahren, nach der Dotcom-Krise, hieß es schon, dass in Luxemburg die Party vorüber sei. Kurz danach wurden schon wieder Zuwachsraten von über fünf Prozent erreicht. Weshalb sollte es diesmal anders sein?
Wie gesagt: Ich halte ein im EU-Vergleich erneut hohes Wachstum in Luxemburg ohne weiteres für möglich. Wobei man bedenken muss, dass ein Zuwachs, der auf ein Minuswachstum folgt, absolut kleiner ausfällt. Lege ich dazu die Langfrist-Perspektive an, dann stelle ich fest, dass die Vier-Prozent-Erwartung als Durchschnittswert zum einen nicht realistisch ist, zum anderen nicht nachhaltig.
Das wäre dann ein fiskalisches Problem.
Das ist der eine Aspekt. Luxemburg hat sich abhängig gemacht von einem System, das immer um vier Prozent wachsen muss. Oder jedenfalls um einen sehr hohen Durchschnittswert: Die Zentralbank hat sogar mal 5,1 Prozent als notwendiges Dauerwachstum genannt. Das ist etwas ganz anderes, als in der derzeitigen Krise zu versuchen, konjunkturelle Abflachungen auszugleichen. Jahr für Jahr vier Prozent Zuwachs zu erreichen, würde ja heißen, dass das BIP sich innerhalb von 18 Jahren verdoppelt. Und nur bei einer solchen Verdoppelung bliebe das System funktionsfähig! In den öffentlichen Finanzen Luxemburgs tut sich aber schon jetzt eine Nachhaltigkeitslücke auf. Berechnungen anhand von Zahlen aus dem Jahr 2009 zufolge liegt sie bei 12,5 BIP-Prozent. Im EU-Durchschnitt sind es nur 6,5 Prozent.
Die öffentliche Verschuldung Luxemburgs ist nach wie vor klein im EU-Vergleich.
Aktuell ja, doch davon sollte man sich nicht täuschen lassen. Die Nachhaltigkeitslücke entsteht in erster Linie durch die Wechsel, die man in der Vergangenheit ausgestellt hat und derzeit noch ausstellt, und die erst in der Zukunft mit der demografischen Entwicklung fällig werden – und zwar beschleunigt. Um die Renten in der derzeitigen Höhe auszahlen zu können, wird man 2050 schon einen Anteil von 20 Prozent des BIP aufwenden müssen. Das ist das Risiko, das Luxemburg eingegangen ist: Man hat Zukunftsversprechen gemacht, die sich nur einhalten lassen, wenn die vier Prozent Wachstum sich einstellen.
Letztlich ist die Finanzierung des Rentensystems ja abhängig von der Lohnmasse und der Entwicklung der Beitragszahler. In der Rentendebatte wird immer wieder angeführt, dass deren Zahl in den nächsten 50 Jahren auf über eine Million wachsen müsste, um die Rentenversprechen einzuhalten. Die Perspektive von vielleicht einer Million Einwohnern mag gewaltig klingen. Aber das Saarland zum Beispiel ist etwa genauso groß wie Luxemburg, aber schon heute doppelt so voll an Einwohnern. So schrecklich ist das nicht.
Nein, das sind Entwicklungen, die a) denkbar sind und b) auch grundsätzlich machbar. Genauso wie die von dann 1,5 Millionen Grenzpendlern. Die Frage ist aber: Will man das? Denn es sind enorme Risiken damit verbunden. Wie in einer Tretmühle würde man jedem Aktiven, den man neu akquiriert hat, wiederum neue Zukunftsansprüche vermitteln. Die Frage, ob man das will oder ob es nur zur Bedienung der Tretmühle dient, ließe sich mit der Zeit immer schwieriger stellen. Gar nicht zu reden von den Folgebelastungen für die Umwelt, die eine solche permanente Schaffung neuer Arbeitsplätze hätte.
Lassen diese Umweltbelastungen sich an einem ausgeprägten Dienstleistungsstandort wie Luxemburg nicht im Rahmen halten?
Man kann diese Frage nicht auf Emissionen reduzieren. Der Luxemburger Finanzplatz als Prototyp des Tertiärsektors zum Beispiel hat natürlich nicht so hohe Emissionen und Energieverbräuche wie eine Schwerindustrie. Im Luxemburger Fall aber sind die Umwelteffekte nicht zuletzt Verkehrseffekte. Die Berufspendler legen derzeit ihre Fahrten zu 85 Prozent im Auto zurück und fahren im Schnitt 43 Kilometer am Tag – dreimal so viel, wie die in Luxemburg Ansässigen. Schon bei einer Pendlerzahl von 500 000 würden sich unter diesen Bedingungen rechnerisch die Personenkilometer im Nahverkehr gegenüber 2002, als man die IVL-Daten erhob, mehr als verdoppeln müssen – mit allen Konsequenzen für Verkehrs-, Landes- und Stadtplanung. Und letzten Endes kommen die Umwelteffekte aus dem Einkommenswachstum und der daraus resultierenden Nachfrage nach allen möglichen Gütern. Beispiel Landverbrauch: Zwischen 1970 und 1990 nahm die bebaute Fläche in Luxemburg um knapp 40 Quadratkilometer zu. Zwischen 1990 und 2010 werden es 150 Quadratkilometer sein, ein Zuwachs um 3,1 Prozent. Das Finanzwissenschaftliche Forschungsinstitut der Kölner Universität hat ausgerechnet, dass bei dieser Rate und gleichzeitig einem BIP-Wachstum um vier Prozent die bebaute Fläche im Jahr 2030 auf 26 Prozent der Gesamtfläche Luxemburgs anwüchse, und auf 48 Prozent im Jahr 2050.
Beziehen Sie bei solchen Betrachtungen Effizienzgewinne ein? Die Entwicklung, die Sie beschreiben, dürfte schließlich für Innovationsdruck sorgen.
Die Entwicklungen, die ich dargestellt habe, gehen tatsächlich von der Annahme aus, dass man nichts wesentlich anderes tut als bisher und die Dinge laufen lässt. Es gibt natürlich Minderungspotenziale. Aber Luxemburg hat sich in Zeiten hoher Wachstumsraten in seiner Flächenproduktivität, seiner Energieproduktivität, seiner Emissionsproduktivität, das heißt, in den Verbräuchen und Emissionen bezogen auf das BIP, wirklich sehr schwach entwickelt. Woher nimmt man den Optimismus, dass es von nun an bei weiterem Wachstum besser wird? Und selbst wenn man von der bisherigen Verdoppelung des Flächenverbrauchs auf die Halbierung dieser Verdoppelung käme, oder meinetwegen auch auf ein Viertel der Verdoppelung: Bei anhaltend hohem Wachstum würde es dennoch immer mehr. Im Wachstum komme ich letzten Endes, nach den bisherigen Erfahrungen, nicht ohne Zuwächse auch im Ressourcenverbrauch aus.
Die Luxemburger Regierung hat erklärt, die CO2-Emissionen des Landes bis 2020 um 30 Prozent zu senken, falls die EU das beschließt. Ist das unter der Wachstumsprämisse zu schaffen?
Erste Bemerkung: Man kann es schaffen. Zweitens: Es kommt darauf an, was man unter „schaffen“ versteht. Versteht man es im Kioto-Kontext, wo man international eingegangene Verpflichtungen erfüllen kann, indem man auf flexible Mechanismen setzt, dann schafft man es natürlich. Das wäre auch in Zukunft kein Problem, wenngleich sich die Rahmenbedingungen etwas verändert haben. Luxemburg hat aber Potenziale, um es auch durch eigene Maßnahmen zu schaffen. Aber nur – und da kommt man wieder an diesen schon oft diskutierten Punkt – wenn man an die verkauften Verkehrskraftstoffe geht. Fast 60 Prozent der CO2-Masse, die man nach den neuen Plänen ab 2013 bewirtschaften muss, kommen aus dem Verkehrssektor. Da kann man nicht in den restlichen 40 Prozent 30 Prozent sparen. Im Haushaltsbereich zum Beispiel innerhalb von zehn Jahren so viel zu sparen, geht einfach nicht.
Damit ist der „Tanktourimus“ ein Nachhaltigkeitsproblem, das sich womöglich bald schon stellt.
Man kann strategisch darüber nachdenken und sich fragen: Ist es sinnvoll, schon bis 2020 rapide runterzugehen mit dem Treibstoffexport? Die politischen und fiskalischen Konsequen-zen wären schwerwiegend. Oder ist es sinnvoller, eine mittelfristige Strategie zu entwickeln und das Geld, das die Ausländer in Luxemburger Kassen spülen, zu nutzen, um etwas Sinnvolles für die künftige Energieversorgung und die nachhaltige Entwicklung zu finanzieren? Aber das sind Fragen, die in der Öffentlichkeit stärker kontrovers diskutiert werden müssen. Natürlich weiß jeder Politiker, was da angesagt ist. Die kennen die Konflikte besser als ich als Ausländer, der sich ab und zu mal darüber beugt. Aber es gibt keine intensive öffentliche Diskussion, in die die Zivilgesellschaft, mit Ausnahme einiger NGOs, eingebunden wäre. Diese Diskussion gilt es, auf einer geeigneten Plattform stärker zu institutionalisieren. Wie überhaupt die Frage: Welche Zukunftserwartungen und welche Spielräume gibt es? Dass ich meine, dass die Krisenzeit eigentlich ein geeigneter Zeitraum für ein solches Nachdenken wäre, habe ich schon erwähnt.