Jeder Mensch hat sie. Geheime Wünsche, Sehnsüchte, Ausflüchte, denen er in Tagträumen nachgeht. Er kreiert dabei sein zweites Ich, sein Alter Ego. Das mal mehr, mal weniger selbstständig ist, mal eine völlig andere Person, die wesensgleich zu sein scheint, mal ein Teil des eigenen Seins ohne Körperlichkeit. Jérôme Nunes zeigt in seinem gleichnamigen Kurzfilm nun, was geschieht, wenn dieses Alter Ego Realität wird, die Grenzen zwischen dem geschaffenen Ich, das Teil der eigenen Identität ist, und dem wah-ren Ich sich aufzuheben und zu verwischen beginnt. Wenn nicht mehr unterschieden werden kann, was das Ego und was das Alter Ego ist.
Ein Abend, eine Nacht in einer Vorstadt mit Vorgarten-Avenue. Dunkelheit und Stille liegen über der Szenerie, in der ein Mann und eine Frau zueinander finden, um sich doch voneinander zu entfernen. Von ihrem eigenen Ego und dem entsprechenden Alter Ego, als Teil ihrer eigenen Identität oder als konstruiertem Gegenspieler, der ihre Wünsche und Träume er- und auslebt. Diese Unsicherheit steht im Kontrast zur Sicherheit der Vorstadt, die sich zwar in der Dunkelheit dem Unbezähmbaren hingibt, dabei aber im abgezäunten Vorgarten verbleibt.
Nunes geht dabei auf den persönlichsten Teil der Identität ein: die Sexualität. Und ihrem wechselvollen, verwirrenden, aufreibenden Dasein zwischen Fantasie und Realität. Da-bei spielt der Film mit dem Widerspruch zwischen der gelebten Wirk-lichkeit und dem geträumten Wunsch. Welcher Handlungsstrang der Reali-tät entspricht, bleibt einzig und allein der Entscheidung des Betrachters vorbehalten. Ist die heterosexuelle Aktion wahr und träumt der Protagonist nur davon, schwulen Sex zu erleben, oder will sein Alter Ego nichts anderes als einfach nur Sex mit sich selbst, auf dass die Einsamkeit und die Leere in seinem Dasein endlich verschwinde? Ist der Protagonist schwul und wird von seiner eigenen heterosexuellen Darstellung von Sicherheit und Vorstadtspießeridylle überrannt, oder ist er heterosexuell und will einfach nur mal kurz er selbst sein, weil sein Leben so erschreckend langweilig, eintönig und grausam traurig ist? Beobachtet er sich beim Sex mit einer Frau oder beim Sex mit einem Mann? Muss sein, was nicht sein darf? Oder ist am Ende alles nur eine Dreiecksbeziehung für den Augenblick? Was unvermeidlich in einer der wichtigsten Determinanten der schwulen Szene mündet: Alles kann, nichts muss. Dabei erkennt und entdeckt der Prota-gonist stets nur sich selbst, sein Ego und sein Alter Ego.
Damit ist des Verwirrspiels noch nicht genug: Jérôme Nunes geht so weit, offen zu lassen, ob der Film am Anfang beginnt oder ob dessen erste Szene nicht doch ein Rückgriff ist, der sich im Laufe der Handlung erschließt. Der Kurzfilm wird zum Perpetuum Mobile eigener Vorstellungskraft. So werden die Grenzen zwischen Fiktion und Realität auch in der Kontinuität des Films aufgehoben, um den Betrachter seine völlig eigene Betrachtungsweise und Interpretation des Werks zu ermöglichen. Darin liegt die Kraft dieses Kurzfilms, der zeigt, dass der Regisseur sein Handwerk beherrscht. Er zeigt wenig, um viel darzustellen. Setzt klare, deutliche Bilder ein, die im klaren Kontrast zu verschwommenen Wunschwelten stehen.
Alter Ego wurde Anfang Mai in Marseille uraufgeführt. Kommen-den Freitag, den 16.7., wird er zur diesjährigen Gaymat op Esch in einer Filmreihe zu schwul-lesbischen Themen gezeigt, die sich mit verschiedenen Aspekten von Transgender auseinandersetzt. Anschließend stehen der Regisseur und sein Hauptdarsteller Geoffrey Coppini Rede und Antwort. Der Film ist eine luxem-burgisch-französische Produktion der Minotaurus Filmproduktion mit der Compagnie d‘Avril und Green House.