Eine Zeichnung. Eine Frau liegt auf der Straße, mit rotem Haar, scheint es. „Das ist Blut, die Mutter wurde vor dem Haus angegriffen“, erklärt Marijke Van Reeth. Autos sind am Tatort zu sehen, auf zweien steht in krakeliger Kinderschrift „Ambulance“ und „Police“. In der Mitte des Blattes verläuft ein Strich, der das Papier in zwei Hälften unterteilt. Auf der zweiten Hälfte befinden sich nur schwarze Striche. „Wir haben das Kind gebeten, zu zeichnen, was es gesehen und was es geträumt hat. Das Schwarze steht für das, was es meint, gesehen zu haben. In Wirklichkeit war es umgekehrt“, sagt Van Reeth. Die junge Psychologin arbeitet beim Service psychologique pour enfants et adolescent(e)s victimes de violence domestique im Bahnhofsviertel von Luxemburg-Stadt. Hinter dem Namen steht ein Beratungsdienst, der zum Netzwerk Services d’assistance aux victimes de violence deomestique gehört und 2005 von Femmes en détresse gegründet wurde. Er kümmert sich um Kinder und Jugendliche zwischen drei und 21 Jahren, die zuhause Gewalt erfahren haben oder Zeuge von Gewalt wurden. Kinder zeichnen zu lassen ist eine Methode, mit der die Mitarbeiter des Service Psyea versuchen, herauszufinden, was ein Kind beschäftigt, was es erlebt hat. Oft sprechen Kinder nicht über das Erlebte, aus Angst vor Strafe, aus Loyalität. Aber sie können es zeichnen.
360 Kinder betreuten Leiterin Céline Gérard und ihre drei MitarbeiterInnen im vergangenen Jahr. Rund zwei Drittel der Kinder kamen zu ihnen im Rahmen einer Wegweisung. Das heißt, die Polizei wurde in eine Familie gerufen, weil ein Partner gewalttätig wurde. Die Polizei kann den schlagenden Partner laut Gesetz für 14 Tage der gemeinsamen Wohnung verweisen. 2014 gab es 327 solcher Wegweisungen und 836 polizeiliche Interventionen wegen häuslicher Gewalt. In über 80 Prozent der Fälle sind die Opfer weiblich, aber auch Männer werden von ihren Partnerinnen geschlagen.
„Wir rufen die Opfer an und laden sie ein zum Gespräch“, beschreibt Gérard die Vorgehensweise. Lange Zeit war Gewalt in Beziehungen ein Tabu, weil die Familie als Privatsphäre verstanden wurde, in die sich der Staat nicht einzumischen habe. Inzwischen wird es, dank Organisationen wie Femmes en détresse, und durch prominente internationale Fürsprecherinnen, verstärkt auch von den Medien aufgegriffen. Die Großherzogin hat das Thema entdeckt und lud am Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen vergangene Woche Betroffene in den Palast. Dabei erinnerte Maria Teresa besonders an die Kinder.
Denn in vielen Fällen sind Kinder im Haus, die die Gewalttat beobachtet haben oder die selbst geschlagen wurden. „Die Unterscheidung in direkte Gewalt oder indirekte Gewalt ist für unsere Arbeit wenig hilfreich. Ein Kind, das Zeuge von Gewalt wurde, ist traumatisiert und kann bleibende psychische und physische Schäden davon tragen“, betont Psychologin Van Reeth. Im ersten Gespräch versuchen die Mitarbeiterinnen einen Überblick über die Situation zu bekommen: War die Gewalttat eine einmalige Entgleisung? Handelt es sich, wie so oft, um ein wiederkehrendes Muster? Wo waren die Kinder? Wie nah waren sie am Geschehen? Was brauchen sie? „Wir handeln immer im Interesse des Kindes“, betont Leiterin Gérard.
Deshalb gibt es neben dem Gespräch mit dem geschlagenen Elternteil mehrere Treffen mit dem Kind alleine. Um seine Version des Geschehens zu hören, um Erlebtes aufzuarbeiten. Kinder sind nicht nur besonders verletzlich und auf Schutz angewiesen – in Auseinandersetzungen zwischen Erwachsenen geraten sie oft zwischen die Fronten. Immer wieder kommt es vor, dass Kinder als Puffer zum schlagenden Partner dienen, entweder weil sie selbst versuchen, den Elternteil zu schützen, Zorn und Gewalt abzufedern – oder weil sie mit hineingezogen werden: „Wir hatten eine Mutter, die versuchte, sich im Kinderzimmer vor ihrem schlagenden Ehemann zu verstecken. Das ist für ein Kind sehr belastend“, erklärt Marijeke Van Reeth. Manchmal ist der Übergriff auf das Kind aber auch Anlass dafür, die Gewaltspirale zu durchberechen.
Eine andere Zeichnung verdeutlicht das Dilemma: Zwei Erwachsene stehen im Flur, der Mann hebt die Faust, die Frau weint. Unten im Bild befindet sich der Kopf eines Kindes mit einer viergeteilten Gedankenblase: In einem Feld steht das Kind zwischen den Eltern mit einem Fragezeichen über dem Kopf, im zweiten ist eine Häuserreihe gezeichnet, aus einem Haus ertönt ein Hilferuf, im dritten Feld ist ein Krankenwagen und im vierten ein Telefon zu sehen. „Kinder brauchen Sicherheit. Jedes Mal, wenn Gewalt geschieht, erleben sie Ohnmacht und Misserfolg. Das wirkt sich negativ auf ihr Selbstbild aus“, sagt Céline Gérard. Kinder, die über Jahre in gewalttätigen Familien aufwachsen, die in Todesangst leben, die erfahren, wie Vertraute untereinander oder ihnen Gewalt antun, ohne dass sie selbst etwas dagegen tun können, tragen oft schwere emotionale Verletzungen davon. Auch wenn sie die Gewalt nicht direkt sehen, erfassen sie, was abläuft. Manche entwickeln ein posttraumatisches Belastungssyndrom, das dem von Soldaten im Krieg ähnelt, mit Aggressionsausbrüchen, Angstattacken, Depressionen, Suizidgedanken.
Deshalb müsse es zuallererst darum gehen, Kinder in konfliktreichen Beziehungen so gut wie möglich zu schützen. „Wir versuchen, gemeinsam mit dem Elternteil und den Kindern einen Schutzplan für den Krisenfall zu erstellen“, schildert Gérard. Es geht um konkrete Maßnahmen, wie ein Kind aus dem Streit der Erwachsenen herausgehalten werden kann. Und darum, Ressourcen zu mobilisieren, die im Krisenfall helfen. Gewalt baut sich meist zyklisch auf: Nach einer Phase der relativen Ruhe kehren die Misshandlungen zurück, oft werden die Abstände kürzer, die Taten schwerwiegender. „Hilfe kann von der Verwandtschaft kommen, von der wachsamen Lehrerin, die Veränderungen im Verhalten bemerkt. Schutz kann in der Not aber auch ein abgeschlossenes Kinderzimmer sein. Oder eine SMS an die Polizei, wenn ein Anruf zu offensichtlich ist“, sagt Van Reeth. Manchmal helfen bestimmte Körperpositionen, die schlimmste Gewalt abzudämpfen. Wird ein Kind angegriffen und bekommen die Psychologinnen dies mit, wird sofort die Justiz eingeschaltet: „Grundsätzlich geht es darum, dem Elternteil bewusst zu machen, wie sehr die Gewalt ihren Kindern schadet.“
Wie oft und wie viele Kinder hierzulande Opfer häuslicher Gewalt werden, ist unklar. Deshalb ist auch ungewiss, ob die (Gratis-)Hilfsangebote ausreichen. Gérard und ihre Kollegen intervenieren im Krisenfall sofort, aber für andere Fälle gibt es mitunter Wartezeiten; für Fortbildungen und Prävention bleibt wenig Zeit. Zwar kümmert sich außer ihnen noch Alupse (Association luxembourgeoise de la prévention des sévices à enfants) um misshandelte Kinder. Jeder der Dienste erfasst für sich, wer betreut wird. Laut Aktivitätsbericht betreuten Therapeuten von Alupse vergangenes Jahr 49 neue Familien, darunter sechs Fälle von „Gewalt und ehelichem Konflikt“. Die Alupse hat darüber hinaus eine Konvention mit vier Krankenhäusern, die sich engagieren, Fälle von misshandelten oder missbrauchten Kindern zu melden. Auch der Service central d’assistance sociale (Scas), der im Auftrag der Justiz zu gefährdeten Familien geht und nach dem Rechten schaut, nennt Zahlen: Zwischen 2014 bis 2015 bekamen 264 Kinder von Scas-Mitarbeitern Besuch wegen häuslicher Gewalt.
Allerdings werden diese Statistiken nirgendwo zusammengeführt. „Weil sich offensichtlich niemand in der Politik dafür interessiert“, ärgert sich Roland Seligman. Der Kinderarzt ist Gründer von Alupse und hat wesentlich dazu beitragen, dass der Umgang mit Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch in Luxemburg professionalisiert wurde. Ärzte, die geschlagene Kinder in der Praxis behandeln, unterliegen der Schweigepflicht, können sich aber wegen unterlassener Hilfeleistung strafbar machen, wenn sie sexuellen Missbrauch oder Misshandlungen nicht melden. Eltern, die ihre Kinder bewusst misshandeln, wechseln gerne den Arzt; das erschwert die Diagnose. Für Seligman sind Schulen und Kinderkrippen zur Früherkennung unverzichtbar. „Ich erlebe häufig, dass eine Lehrerin oder ein Erzieher nach einer Fortbildung zu mir sagt: „Ich glaube, ich habe da so ein Kind in meiner Klasse...“
Die Stadt Luxemburg hat im Rahmen ihres schulmedizinischen Dienstes ein Konzept entwickelt, um gefährdete Kinder besser erkennen und schützen zu können. Bei der Beratungsstelle Enfants en détresse können Professionelle, die mit Kindern arbeiten, sich Rat und Hilfe holen, eine Schulärztin steht permanent bereit, sollte medizinischer Beistand nötig sein. Kinder und Jugendliche können zudem selbst Unterstützung beim Kanner- a Jugendtelefon finden, und es gibt den Kinderrechtsbeauftragten.
Während die Stadt organisatorisch gut aufgestellt scheint, sieht das im ländlichen Raum anders aus. Die Alupse hat ihre Beratungen auf Ettelbrück ausgedehnt, doch es fehlt ein übergeordnetes, landesweites Konzept, das dafür Sorge trägt, dass Informationen, Hilfe und Therapieangebote jeden und jede erreichen. Wenn 60 Prozent der Kinder beim Service Psyea durch eine polizeiliche Intervention „entdeckt“ werden, so bleiben 40 Prozent, die von Lehrern, Verwandten, Erziehern, Freunden oder Ärzten angezeigt werden. Und es gibt ein großes Dunkelfeld all jener Übergriffe, die gar nicht erst zur Anzeige kommen.
„Lehrer und Erzieher sind verpflichtet, zu melden, wenn ein Verdacht auf Gewalt oder Missbrauch besteht“, betont Fred Arend von Enfants en détresse. Um Anzeichen von Gewalt möglichst früh zu erkennen, setzt die Stadt auf systematische Fortbildungen. Seit kurzem ist der Besuch eines entsprechenden Seminars für das gesamte Lehr- und Erziehungspersonal verpflichtend: Im Zweifelsfall sind sie angehalten, sich an die Anlaufstelle Kinder in Not zu wenden. Besteht ein begründeter Verdacht, nehmen die beiden Mitarbeiter Kontakt zum Elternhaus auf, laden zum Gespräch und versuchen, den Eltern ins Gewissen zu reden. Mit dem Kinderhilfegesetz 2008 wurde körperliche Gewalt (oder Züchtigung, wie es früher beschönigend hieß) auch hierzulande verboten. Nicht jeder scheint das zu wissen. „Wir klären auf. Unser Gespräch geschieht freiwillig. Wir sind nicht die Polizei“, betont Arend. Fällt ein Kind jedoch durch blaue Flecken und deutliche Hinweise auf Gewalt auf, wird, nach dem Schularzt, die Jugendstaatsanwaltschaft eingeschaltet. Dasselbe gilt bei Anzeichen von sexuellem Missbrauch.
Die MitarbeiterInnen des Service Psyea setzen ebenfalls auf Prävention und haben dafür ein kleines Buch entwickelt: Dem Ben säi Geheimnis erzählt die Geschichte von einem Jungen, der in der Schule auffällt, sich schlecht konzentrieren kann, andere Kinder ärgert. Es stellt sich heraus, dass sein Vater daheim die Mutter schlägt. Neben der Geschichte, die Lehrer vorlesen können, um Kinder im Grundschulalter behutsam an die Problematik heranzuführen, gibt es einen Leitfaden für Professionelle aus der „ersten Reihe“, der mit Mythen zu häuslicher Gewalt aufräumt, etwa dass sie nur in sozial schwachen Familien vorkomme, dass sie nur Frauen betreffe. Scham, soziale Isolation und ein zerstörtes Selbstwertgefühl machen es den Opfern schwer, sich mitzuteilen und aus der Gewaltspirale auszusteigen. Der Leitfaden nennt Hilfestellungen und klärt auf über Fehler, die im Umgang mit gefährdeten Kindern geschehen (können).
Nicht alle Kinder werden auffällig. Manche ziehen sich zurück, reden gar nicht mehr. „Leider wird das in manchen Fortbildungen nicht als Zeichen für mögliche Misshandlung erkannt“, warnt Doktor Seligman. Sein Appell: genau hinschauen, Verdachtsfälle melden oder Kollegen zu Rate ziehen. Denn wer nicht eingreift, trägt dazu bei, dass sich die Gewalt fortsetzt. Nicht selten sogar bis ins Erwachsenenleben: Unverarbeitete Traumata durch Gewalt und Missbrauch können dazu führen, dass betroffene Kinder später selbst zu Tätern werden oder ein Leben lang Opfer bleiben, wenn sie sich ungesunde Beziehungen suchen. Genau diesen negativen Bann könnten frühe gezielte Interventionen brechen.