Während die Konjunktur lahmt, boomt die Parallelwirtschaft. Immer mehr Leute tauschen oder verschenken Waren und Dienstleistungen
Welt ohne Geld
d'Lëtzebuerger Land vom 29.06.2012
Dem europäischen Freiwilligendienstleistenden Radu Burtescu aus Rumänien verdankt Luxemburg, dass das mit mit dem Tauschen oder unentgeltlichen Abgeben von Gütern und Dienstleistungen doch noch klappen könnte. Und Facebook. Free your stuff Luxembourg heißt die Gruppe im sozialen Netzwerk, die Burtescu Anfang 2011 gründete. Sie zählt mittlerweile über 4 600 Mitglieder, die entweder „geben“, also ihre Sachen zur Verfügung stellen, oder „nehmen“, etwas suchen. Neu ist das Konzept nicht, auch nicht in Luxemburg. Bereits 1999 gründete sich der Tauschkrees Letzebuerg (d’Land, 20.05.2010), doch während dessen Webseite brachliegt, herrscht bei Free your stuff (FYS) reger Austausch im Stunden-, manchmal im Minutentakt. „Die Idee von einer Welt ohne Geld, die nicht durch übermäßigen Konsum zerstört wird“, stand am Anfang von FYS, sagt Johny Diderich, einer der Mit-Initiatoren, die, wie er sagt, allesamt aus der sozialen, anti-kapitalistischen oder Umweltschutzszene stammen. Er selbst kandidierte bei den Gemeindewahlen als Parteiloser auf der Liste von déi Lenk in Differdingen, sein Bruder Gary ist Gemeinderatsmitglied für die Partei. Diderich hat auf FYS Sofas getauscht, die Tischgarnitur und das Buffet in seiner Küche hat er ebenfalls aus dem Tauschkreis. Das Go-kart für den Sohn kommt aus dem Recyclingzentrum. Unter sich blieben die Idealisten und Konsumverweigerer nicht lange. „Mittlerweile sind die Mehrheit der Leute wahrscheinlich solche, die nicht die finanziellen Mittel haben, sich die Dinge zu kaufen, die sie brauchen“, so Diderich. „Alleinerziehende Mütter, die bei den heutigen Wohnungspreisen nicht viel Geld übrig haben, um andere Dinge zu kaufen.“ Weil die Überzeugungstäter bemerkt haben, dass es Hilfsbedarf gibt, haben sie gar eine neue, geschlossene Gruppe gegründet, die Helfer mit Herz, die besonders Bedürftigen in Notsi- tuationen, beispielsweise nach Wohnungsbränden oder dramatischen Familientrennungen, diskret zur Seite stehen. Binnen sechs Monaten haben die Helfer gut 25 solcher Aktionen durchgeführt, geholfen, einen neuen Haushalt aufzubauen. Dabei ist FYS zwar die wahrscheinlich größte der Luxemburger Tauschgruppen, aber lange nicht die einzige. Daneben gibt es je nach Bedarfs- und Interessenlage Gruppen, in denen Leute nach Arbeit suchen oder welche vergeben – meist Haus- oder Gartenarbeit, Gärtnertipps tauschen und Pflanzen vergeben, den Rasenmäher zum Verkauf anbieten, gebrauchtes Reiterzubehör verkaufen. Die Angebote und Gesuche reichen von bis. Also von halbleeren Shampoo-Flaschen über Fernseher, Kühlschränke bis zum Klavier oder der E-Gitarre. Annick Mauswanderer, FYS-Mitglied der ersten Stunde, tauscht nicht aus finanziellen Ursachen, sondern aus Überzeugung. Sie hat ebenfalls Sofa, Regale, Schränke und andere Einrichtungsteile aus dem Tauschkreis. Sie nimmt die Sachen, weil sie ihr gefallen, nicht nur weil sie zur Verfügung stehen. Und peppt sie selbst mit Werkzeug und Farbe auf. Wie viel die Sachen wert sind, die sie ertauscht hat, kann sie nicht sagen. „Was ist ein gebrauchtes Ikea-Regal wert?“ Doch dadurch, dass sie auf den Neukauf verzichtet hat, hat sie sicherlich einige hundert Euro gespart. Weil in den Tauschgruppen niemand ein zentrales Register führt, ist es unmöglich zu beziffern, wie hoch das Handelsvolumen im Parallelsystem in Euro ist. Dass die Summen aber nicht unerheblich sind und die Weiterverwertung kein Randphänomen mehr ist, könnte das Beispiel des Second-Hand-Marktes in Roeser zeigen, den die lokale Frauenorganisation Fraentreff seit elf Jahren an zwei Wochenenden jährlich organisiert. Mit militärischer Genauigkeit. 50 Freiwillige helfen mit, es gibt 13 Kassen, drei Sicherheitsbeamte sichern die Ausgänge. Der Second-Hand-Markt ist zum Großereignis geworden, das Gedränge vor der Eröffnung legendär. Beim letzten Markt im vergangenen März wurden fast 28 000 Artikel verkauft, erzählt Fraentreff-Vorsitzende Micheline Faltz, vor allem Kinderkleidung, aber auch Spielsachen, Bücher, Babyzubehör und Frauenkleider. Der Umsatz lag bei um die 80 000 Euro, dabei werden alle Artikel auf mindestens ein Viertel des Neupreises heruntergesetzt. „Die Leute kommen aus Belgien, Frankreich, Deutschland, um bei uns einzukaufen“, sagt Faltz. Nur die aus der Gemeinde Roeser selbst zögerten. Wahrscheinlich weil sie nicht wollen, dass ihr direktes Umfeld sieht, wie sie Kleider aus zweiter Hand kaufen, mutmaßt sie. Dabei achtet der Fraentreff penibel darauf, nur erstklassige Waren zum Verkauf anzunehmen. Warum also sollte sich schämen, wer dieSachen kauft? „Der jungen Generation ist das auch zunehmend egal“, beobachtet Faltz, „die ist weniger versessen auf Marken, kauft dafür mehr.“ Das Gegenmodell zum hyper-organisierten Roeser Second-Hand heißt Des Kaisers neue Kleider, eine Initiative, die von der 22-jährigen Joann Koenig im Netz gegründet wurde und auch in der Wirklichkeit funktioniert, seit das Wiltzer Kulturzentrum Prabbeli ihre Idee aufgegriffen hat. Dieses Wochenende findet die dritte Ausgabe in real life statt. Hier bringt jeder mit, was er hat, legt seine Waren auf den Tisch, sucht sich bei anderen etwas aus. Geld wechselt keines die Hand. Ob also ein Mentalitätswechsel stattfindet und deshalb mehr getauscht und wiederverwendet wird? Oder bieten die neuen Medien, besonders das soziale Netzwerk Facebook neue Möglichkeiten? Affaires de Marguerite nennt sich die Initiatorin einer Gärtnerei-Gruppe. Ihren richtigen Namen will sie nicht nennen, noch nicht. Die meisten ihrer Bekannten oder Arbeitskollegen wissen nicht, was sie unter ihrem Alias auf Facebook tut. Doch da hatte sie ihre Offenbarung. Seit sie dort gesehen hat, wie viele Gleichgesinnte es gibt, hat sie ihre Scheu vorm Tauschen abgelegt. „Die Leute merken auch, dass alles teurer wird. Die Wohnung, das Benzin, die Strom- und die Wasserrechnung. Da ist es nicht so schlecht, auf ein alternatives System zurückgreifen zu können.“ Sie hat sonst auch alles neu gekauft. Doch binnen zwei Monaten hat sie einen Kühlschrank, ein Sofa, einen Schreibtisch und Schuhe für die Kinder aus den Tauschbörsen, Waren zum Neuwert von mehreren hundert Euro. „Facebook ist die ideale Plattform“, stellt auch Johny Diderichfest. Weil die Leute ohnehin da sind und es weniger Überwindung kostet, dort jemanden zu kontaktieren als jemanden direkt anzurufen oder an seiner Tür zu klingeln. Hilfreich ist wahrscheinlich auch, dass so viele Leuten wissen, wie Facebook funktioniert. Egal ob man für die „Freunde“ ein Foto von der Katze ins Netzwerk hoch lädt oder eines von der Küchenmaschine, die man in der Tauschgruppe abgeben will, die Methode bleibt unverändert. „Mit den Smartphones wird das noch mal einfacher“, fügt Diderich hinzu: Handyfoto schießen, mit der Mobil-App hochladen –fertig ist das Angebot. Als Konkurrenz fürs eigene Geschäft sieht John Penning die Tauschgruppen nicht. Eher als Bestätigung für den Trend der Wiederverwertung. „Immer mehr Leute stellen ihr Konsumverhalten in Frage. Wieso sollen Sachen aus zweiter Hand nicht gut sein?“, sagt Penning. Er ist Teilhaber von Saphir Capital Partners, Finanzinvestorengruppe, die vergangenen Herbst die Mehrheit am Unternehmen Troc International gekauft hat – die Anti-Kapitalisten haben kein Monopol auf das Wiederwertungsprinzip. Dass der Unternehmensumsatz in der Zeit vor der Übernahme rückläufig war, obwohl das Konzept dem Zeitgeist entspricht, führt er auf mehrere Ursachen zurück. Einerseits schlechtes Management in den Troc-Filialen, andererseits aber auch der sinkende Wert der angebotenen Ware. Schöne Möbel vom Schreiner kaufe heute niemand mehr. Und Ikea-Ware habe oft kein Zweitleben oder sei beim Weiterverkauf nur noch wenig wert, fasst er zusammen. Troc hat zudem, wie Penning erklärt, den Einstieg ins Internet verpasst. Nun versucht man unter Hochdruck aufzuholen, vervollständigt das Angebot in den Läden mit neuer Ware – „damit der Kunde findet, was er sucht, auch wenn es nicht gebraucht angeboten wird“. Und arbeitet an einem neuen Internetkonzept, in dem die Kunden quasi wie auf Facebook kostenlos ihre Ware feilbieten können und Troc als Zwischenhändler oder Transporteur fungiert. „Die Troc-Läden in Luxemburg haben immer gut funktioniert“, sagt Penning. Und dass sich die Luxemburger nicht mehr wirklich genieren, etwas aus zweiter Hand zu kaufen, zeigt sich auch bei der Erstausgabe des hauptstädtischen Vide-Grenier. Die Standlizenzen gingen weg wie warme Semmeln, manche Stände hatten schon vor Mittag ausverkauft.
Michèle Sinner
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