Im Schein der Laternen glänzt die nasse Straße schwarz. Aus einem Haus dringen gedämpft Frauengesang und Klaviermusik. Eine Schar junger Männer, die Wind und Regen trotzt, diskutiert lebhaft neben einem Baukran auf dem Parkplatz. Zwei Männer und eine Frau in dunkler Winterkleidung betreten schweren Schritts das Home Saint Hubert. Während sie auf den Fahrstuhl warten, grüßen sie einen grauhaarigen Bekannten. Er kündigt ihnen stolz an, zu Fuß ins erste Stockwerk zu steigen.
Oben, im Versammlungssaal, haben sich schon Dutzende Parteimitglieder versammelt. Männer in karierten Hemden ohne Krawatte, Frauen mit dunklen Pullovern, die meisten nicht mehr ganz jung. Vor jedem stehen auf einer orangefarbenen Papierserviette ein Glas und eine Flasche Mineralwasser. Auch einige Vertreter aus christlich-sozialen Nachbarsektionen und Parteipräsident Marc Spautz sind gekommen. Spitzenkandidat Claude Wiseler hat sich entschuldigen lassen. Neben dem Vorstandstisch projiziert ein kleiner Beamer die erste Seite einer Powerpoint-Vorführung auf eine Leinwand: „Häerzlech Wëllkomm“. An den Wänden stehen mannshohe Sträucher in großen Körben und orangefarbene Werbefahnen mit dem Aufdruck „CSV Péiteng“.
Petingen ist eine alte Industriegemeinde, die mit Bergwerken in Petingen, Rodange und Lamadelaine, der Eisenhütte in Rodange, Bahnhöfen und Eisenbahnwerkstätten zur fünftgrößten Gemeinde des Landes wurde. Auch wenn sie heute immer wieder um die Zukunft der MMR-A, derzeit Arcelor-Mittal Rodange and Schifflange, des CFL-Ateliers, des Pôle européen de développement in der von der Stahlkrise heimgesuchten Dreiländerecke bangen muss.
Der Bürgermeister am Vorstandstisch trägt eine orangefarbene Krawatte. In Petingen war die LSAP, wie in anderen Industriegemeinden im Süden, seit den Dreißigerjahren stärkste Partei, bis in die Sechzigerjahren bekam sie, auch mit Hilfe des in der Stahlindustrie aktiven LAV und der vielen Eisenbahner in der FNCTTFEL, mehr als die Hälfte aller Stimmen. Dann ging es stetig bergab. Inzwischen erhält die CSV über 40 Prozent der Stimmen, weit mehr als die LSAP. Seit 2000 stellt sie endgültig den Bürgermeister, erst allein, dann in einer Koalition mit der DP und nun mit der LSAP. Wenn der Bürgermeister ans Rednerpult tritt, um den Wahlkampf zu eröffnen, dann zieht er keine Bilanz seiner Amtszeit seit den vergangenen Wahlen, sondern von „17, bald 18 Jahren, drei Mandatsperioden“.
Von allen Gemeinden mit einem CSV-Bürgermeister ist Petingen landesweit die größte. Vielleicht begann deshalb der Gemeindewahlkampf 2017 am Montag in Petingen, so als könnte die Partei es gar nicht abwarten. Sektionspräsident Patrick Remacle erklärte in seiner Begrüßungsansprache den rund hundert Zuhörern, ein Drittel der lokalen CSV-Mitgliedschaft, weshalb die Petinger CSV so „früh an“ sei: Um „Druck aus dem Kessel abzulassen“, 312 Tage vor den Wahlen, wie er nachgerechnet hatte. Die Sektion hatte in der Parteizentrale nachgefragt, ob sie ihre Liste überhaupt so früh verabschieden dürfe – laut Wahlgesetz müssen die Kandidatenlisten erst in zehn Monaten hinterlegt werden.
Doch „die Leute sind gespannt“, sie fragten schon ständig „wer mitgeht“, so Patrick Remacle. Außerdem könnten die Kandidaten sich so „in die Vereine zeigen gehen“, ohne sich ständig anhören zu müssen, sie tauchten „nur in den zwei letzten Monaten vor den Wahlen“ auf. Was er nicht sagte: Dass die Petinger sich fragten, ob Jean-Marie Halsdorf sein Bürgermeisteramt wiederhaben möchte, das er 2004 Pierre Mellina überlassen hatte, als er Minister wurde. Dass es Gerüchte gab, der Bürgermeister wolle nicht mehr kandidieren. Dass die Leute wissen wollen, was geschieht, wenn Jean-Marie Halsdorf nächstes Jahr mehr Stimmen erhält als der Bürgermeister.
Dann sagt der Bezirkspräsident, was in den nächsten Monaten zwischen Wemperhardt und Rümelingen alle Bezirkspräsidenten über ihre Kandidatenliste sagen werden: Sie sei „die richtige Mischung“ von Alten und Jungen, „aus Erfahrung und neuen Ideen“. Dass selbst die besten Kandidaten nicht ohne das tatkräftige Engagement aller Parteimitglieder auskämen. Und dass die Partei zwar siegen werde, weil sie sich nicht für ihre Bilanz zu schämen brauche, sie sich aber nicht in falscher Sicherheit wiegen dürfe. Die rund hundert Parteimitglieder im Saal applaudieren andächtig. Das weiße Schoßhündchen eines Kandidaten streift umher.
Pierre Mellina tritt ans mit Blümchen und Farn aufgeheiterte Rednerpult. Er wirkt immer einen Hauch weltmännischer, selbstsicherer als seine Parteikollegen. Vielleicht erhält er deshalb jedes Mal mindestens 50 Prozent mehr Stimmen als alle anderen Kandidaten. Vor über 20 Jahren war er von Bürgermeister René Putzeys als Kandidat angeworben worden, weil er die besten Voraussetzungen für eine politische Laufbahn hatte: Er war ein erfolgreicher Sportler, ein Langstreckenläufer. Nach der Reform des Congé politique vor vier Jahren wurde der heute 59-jährige Statec-Beamte als einer der ersten Berufsbürgermeister im Land freigestellt. 2013 war er als Abgeordneter nachgerückt, doch zwei Monate später stürzte die Regierung.
Binnen 20 Minuten rattert Pierre Mellina eine Bilanz in acht Kapiteln herunter von 18 Jahren CSV-Bürgermeistern, unter denen die Bevölkerungszahl um ein Drittel gewachsen sei, ohne dass diese eine politische Absicht gewesen sei. Von der Schule, „das Wichtigste“, über die Maisons relais und Kinderkrippen, „die 1999 noch gar nicht bestanden“, bis zum Sport, in den „wahnsinnig viel investiert wurde“. Ein einsames Handy klingelt. Der erschrockene Besitzer versucht fieberhaft, es zum Schweigen zu bringen, doch die andächtigen Zuhörer lassen sich nicht ablenken.
Die Verwaltung sei vergrößert worden, so der Bürgermeister, für den Wohnungsbau werde viel und demnächst noch mehr getan, auch wenn die Gemeinde nie alles tun könne, so dass, wie in der Altenpflege, mit der Privatwirtschaft zusammengearbeitet werde. Gerade interessiere sich ein ausländische Investor für ein Rodanger Grundstück, um „etwas im Interesse unserer älteren Mitbürger zu tun“, während im ehemaligen Direktionsgebäude der MMR-A „ein sogenanntes Business center“ entstehe. Auch für die Verkehrsberuhigung und den Fremdenverkehr sei viel getan worden, als nächstes müsse man sich um den Einzelhandel in den Ortskernen kümmern.
Der Bürgermeister lässt keine der aktuellen Moden außer Acht, die auch seine über hundert Kollegen aller Parteifarben in den anderen Gemeinden in ihre Wahlprogramme schreiben, um die perfekte, saubere Freizeit- und Dienstleistungsgemeinde zu organisieren, „neue Wege zu gehen“ und alte Probleme zu lösen, sofern sie sich mit Asphalt, Beton und Ziegeln oder, besser noch, der Umnutzung schmuck herausgeputzter Altbauten lösen lassen. Dass die Gemeinde auch eine lokale Gesellschaft mit unterschiedlichen Interessen, politischen Ansprüchen und sozialen Problemen ist, ist kein Thema der CSV-Sektion. Das Einkommens- und Bildungsniveau in der Gemeinde gehört laut Bildungsbericht 2015 zu den niedrigen im Land, Petingen ist eine der sieben Gemeinden mit der höchsten Arbeitslosigkeit, eine der vier Gemeinden landesweit mit einem stramm rechten ADR-Rat. Doch beim Gesellschaftlichen scheint der Bürgermeister gleich an das Vereinsleben zu denken und noch ein Versammlungslokal versprechen zu wollen. Denn zwischen 2000 und 2017 fiel die Gemeindeschuld von 36,5 auf 10,8 Millionen Euro und stiegen die Rücklagen von 12 000 Euro auf 13 Millionen Euro. „Liebe Freunde, wir haben als CSV gute Arbeit geleistet und sollen das auch nach draußen sagen!“ Das findet auch die Parteisektion und applaudiert anerkennend.
Vizepräsident Raymond Masutti, ein sportlicher junger Mann mit Bart, der selbst nicht antritt, erklärt die Prozedur, nach der die Kandidatenliste aufgestellt wurde, Vizepräsidentin Elisabeth Schaus hält sich scheu im Hintergrund. Zuerst seien alle aktuellen Schöffen und Gemeinderäte gefragt, dann die 344 CSV-Mitglieder angeschrieben und der Rest von einem „Weisenrat“ bestimmt worden. Die etwas komplizierte Prozedur soll die Mandatsträger sowie die Parteibasis zufriedenstellen und gleichzeitig eine nach Ortschaft, Alter, Geschlecht und Beruf ausgewogene Liste mit bekannten Gesichtern erbringen.
Der Vizepräsident tröstet „den einen oder anderen im Saal“, der nicht auf die Kandidatenliste kam: Nach den Wahlen gäbe es noch genügend Posten in Gemeindekommissionen, Bezirks- und Nationalvorständen der CSV zu besetzen. Dann stehen die 17 stolzen Kandidaten einer nach dem anderen verlegen lächelnd auf und hören sich an, wie ihre Powerpoint-Biographie vorgelesen wird. Die Liste ist repräsentativ für alle Parteien in allen Gemeinden: zehn Beschäftigte von Staat und Parastaat, vier Rentner, zwei Selbstständige und eine Angestellte. Kein Arbeiter, kein LCGB-Militant. Wichtig ist der geografische Proporz: Sieben Kandidaten wohnen in Petingen, sechs in Rodange, vier in Lamadelaine. Das Durchschnittsalter ist mit 48 Jahren hoch, elf der 17 sind Männer, zehn der 17 kandidierten schon 2011.
Das Geheimnis der Kommunalpoliitk liegt woanders: Fast jeder Kandidat ist Präsident, Vizepräsident, Sekretär oder sonstiges Vorstandsmitglied von mehreren Gemeindekommissionen, Sudgaz, interkommunalen Abfallsyndikaten und Vereinen, wie Villa Bambi, BVB Fanclub Lëtzebuerg-Süd, Gestioun Home, Geschichtsfrënn, Konschtmillen, Comité du souvenir, Fir ee gudden Zweck, Hand an Hand, Télévie, Cercle nautique, Bayern Fanclub, Rotary Kordall, Käpt’n Ändä & Matrous K1000, Lëtzebuerger Schlager- a Volleksmusekfrënn, HB Péiteng, Dëschtennis Kordall 95, Karnevalverein und Action catholique des femmes.
Dann darf die außerordentliche Versammlung abstimmen – um unschöne Personalentscheidungen zu vermeiden, nicht einzeln und geheim, sondern durch Applaus für die gesamte Liste. Was der Saal dann auch kräftig tut. Dann ist er zufrieden, dass die Petinger CSV die wichtigste Etappe im Wahlkampf wieder einmal geschafft hat. Ein Wahlprogramm folgt später.
Nach der Abstimmung über die Kandidatenliste erklärt Sektionspräsident Patrick Remacle „das Mikrofon für offen“, um „über die Liste oder Sonstiges“ zu diskutieren. Niemand meldet sich. Nicht einmal, um nachzufragen, wieso sechs Kandidatinnen einen Frauenanteil von 35 Prozent ausmachen, wo Artikel sieben der Parteistatuten doch 40 Prozent vorschreibt. Oder wieso der pensionierte Gemeindearbeiter Albert Muller nicht auf der Liste steht, der vergangenen Monat vom Koalitionspartner LSAP zur CSV-Fraktion übergelaufen ist. Dann „scheint ja jeder wunschlos glücklich zu sein“, beendet der Sektionspräsident die Diskussion, bevor sie begann.
Parteipräsident Marc Spautz schließt im kämpferischen Gewerkschaftston die Versammlung mit seiner Standardrede, die er bis zum Frühjahr noch 46 Mal in den Parteisektionen für „Dir Dammen, dir Hären, léif Frënn“ halten soll: Dass die Gemeindewahlen „den Grundstein legen“, einen „Akt setzen“ werden für die Kammerwahlen ein Jahr später, aber Kommunalwahlen selbstverständlich keine Parlamentswahlen seien. Gewinnt die CSV in einem Jahr, wird das landesweit ein gutes Omen sein, verliert sie, werden Gemeindewahlen eine rein lokale Angelegenheit bleiben. „Villmools Merci a Bonne Chance all fir 2017!“
Sofort fängt der Sektionsvorstand die 17 Kandidaten ein und treibt sie für das Wahlkampffoto zu einem niedrigen Podest, hinter dem eine Spruchwand in den Parteifarben aufgestellt ist: „Zesummen. Chrëschtlech-sozial Vollekspartei“. Angestrengt knipst ein junger Mann mit Pferdeschwanz und AC/DC-Pullover die konservativen Honoratioren. Aus der Garderobe strömt der Geruch von aufgewärmtem Essen. Eine Warmhalteplatte und breite Tabletts mit Schnittchen stehen dort bereit, wenn die Parteimitglieder den Saal verlassen. „Eine schöne Versammlung“ nennen das die Vorstandsleute, wenn ohne lange Diskussionen alle zufrieden sind. „Und die Gesundheit, die tut’s?“, fragt ein älterer Mann seinen Parteikollegen beim Hinausgehen.