Er hatte von vornherein keine langwierige Veranstaltung sein sollen, der Sonderparteitag der Grünen am vergangenen Samstag. Der Saal im Bonneweger Kulturzentrum war nur bescheiden dekoriert, Fototermine vor dem Gebäude gab es keine, und für den kleinen Hunger zwischendurch stand im Vestibül ein Pappkarton mit Bio-Sandwiches zur Selbstbedienung bereit.
Dabei sollte der Parteitag ein Grundsatzpapier beschließen, das nicht weniger als das Grénge Modell fir d’Zukunft enthält. Doch die drei Stunden, die der Zeitplan dazu vorsah, hätten die Grünen fast unterboten. Hätte nicht Jean Huss, das Urgestein aus dem Süden, 21 Änderungsanträge eingebracht, hätte die Sitzung noch um einiges früher aufgehoben werden können. Am Ende sagte der Parteitag einstimmig Ja zu dem 30 Seiten langen Entwurf.
Ein Strategieparteitag als Formsache? – Das wohl nicht. Die Auseinandersetzungen um das Zukunftspapier hatten seit Februar in parteiinternen Arbeitsgruppen stattgefunden. Die großen Linien des Entwurfs wurden überdies schon am Dienstag vergangener Woche auf einer Pressekonferenz publik gemacht. Da ist es schon verständlich, dass die Diskussion am Samstag in erster Linie um Details kreiste. Wie etwa um die Frage, ob eine stärkere Unterstützung von Klein- und Mittelbetriebe eher auf eine Förderung des „Unternehmertums“, des „Unternehmergeistes“ oder vielleicht sogar von beiden hinausliefe.
Doch dass Präsidentin Sam Tanson zu Beginn gut gelaunt feststellen konnte: „Wir sind auf der traditionellen Linie geblieben: Energie, Klima, Mobilität, nachhaltiges Bauen“, ist Stärke und Schwäche des Zukunftspapiers zugleich.
Denn noch in ihrem Wahlprogramm 2009 versprachen die Grünen, sich für ein „dynamisches Wirtschaftswachstum“ einzusetzen. Das war kein Anti-Krisen-Versprechen: Als das Wahlprogramm Anfang Oktober 2008 vorgestellt wurde, hatte der Staat sich zwar soeben an der Rettung von Fortis und Dexia beteiligt, der weltweite Bankenkrach aber noch nicht zur internationalen Wirtschaftskrise geführt. Heute erholt die Weltkonjunktur sich allmählich. Statec und Zentralbank haben erst letzte Woche mit Wachstumsprognosen von drei bis 3,2 Prozent schon für dieses Jahr überrascht. Die Grünen aber meinen nun, dass „Luxemburg sich von früheren Wachstumsraten von 4% und mehr verabschieden“ müsse.
Dass eine solche Aussage heute nicht mehr mit grüner Kapitalismuskritik in Verbindung gebracht wird wie vor 20 Jahren, weil die Unternehmerverbände und die CSV im Grunde der gleichen Meinung sind, muss den Grünen klar gewesen sein. Jahrelang hatten sie sich der Wachstumfrage, mit der in Luxemburg der Sozialstaat steht und fällt, nur noch akademisch genähert.
Auch heute scheinen sie noch nicht alle so genau zu wissen, weshalb Luxemburg Abschied nehmen sollte von den magischen „vier Prozent“, wie die Abgeordnete Viviane Loschetter, die dem Saal zurief: „Wir haben ein Lebensmodell weit hinter uns gelassen!“ Denn das Zukunftspapier bemüht mal offizielle Prognosen und tut so, als habe Luxemburg ohnehin keine Wahl: „Ab 2011 ist wieder mit einem Wachstum des BIP zu rechnen, das allerdings nicht mehr frühere Größenordnungen (im Durchschnitt: +4%) erreichen dürfte.“ Das sagt der Finanzminister auch.
Mal legt das Papier dar, dass „die teilweise von den wirtschaftlichen Realitäten abgekoppelte Finanzdienstleistungsindustrie mit hochriskanten Geschäften fast die ganze Weltwirtschaft in den Abgrund gerissen hätte“ und die ökonomische Globalisierung „weltweit zu erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Ungleichgewichten geführt“ habe. Das suggeriert, dass auch der Finanzplatz Luxemburg am „hochriskanten Geschäft“ beteiligt sei, und wenn die Grünen anschließend feststellen: „Unser Wirtschafts-, Gesellschafts- und Umweltmodell ist nicht in ausreichendem Umfang in der Lage, die wirklichen Bedürfnisse der Menschen zu erfüllen“, scheint alles doch eine Frage politischer Entscheidungen.
Konzeptueller Dreh- und Angelpunkt des grünen Zukunftspapiers ist die Energiefrage. „Sogar die Internationale Energieagentur warnt vor einer Knappheit der fossilen Brennstoffe, wenn die Wirtschaftsaktivitäten wieder zunehmen“, sagt Fraktionssprecher François Bausch. Das ist ein nicht zu unterschätzendes Argument. Während der Brennstoffknappheit von 2008 befand der Euro-Kurs sich auf einem Höhenflug gegenüber dem US-Dollar und erreichte im Juli 2008 sein Allzeithoch. Diesmal käme eine Energiekrise zu der des Euro und der in ihren Folgen noch nicht ausgestandenen Wirtschaftskrise hinzu.
Die Vorschläge für Energieeffizienz und erneuerbare Energien, die die Grünen dagegen aufbieten, sind nicht ganz neu. Von Energienetz- und Heizkonzepten sowie von ökologischem Bauen in großem Maßstab hatte die Partei schon während der Ölknappheit 2008 gesprochen. Einen viel konsequenteren Ausbau des öffentlichen Transports zu fordern, als die Regierung es vorhat, und Raumplanung und Wohnungsbau „nicht den Promoteuren überlassen“ zu wollen (Camille Gira) gehört zum politischen Fundus der Grünen. Für eine Initiative zur Diversifizierung der heimischen Industrie in Richtung „Green Tech“ schließlich hatten sie sich auch in ihrem Anti-Krisen-Sofortprogramm ausgesprochen.
Ebenfalls nicht neu ist ihre Vorstellung von einem gleichsam moralisch einwandfreien Finanzplatz, der ökologisch verpflichtet wäre, weil Banken „Green-Tech-Projekte aller Größenordnungen finanzieren“ und die heimische Fondsindustrie „zur weltweit führenden Industrie für nachhaltiges Investment“ würde. Und dass auf dem Weg zu einem energetisch nachhaltigeren Luxemburg nicht nur dem heimischen Handwerk zu einem Auftrags-Boom verholfen würde, sondern Handwerksberufen schlechthin zu einem Leitbild, das sie bei jungen Menschen attraktiver erscheinen ließe, haben die Grünen auch schon mehr als einmal gesagt.
Neu ist, dass die Grünen weiteres hohes Wirtschaftswachstum mit weiterhin hohem Energieverbrauch zusammendenken und einen allgemeinen Verzicht einfordern, der mit einem „Mehr an Lebensqualität“ belohnt würde. Dass nur vier Tage vor dem Parteitag der Nationale Nachhaltigkeitsrat den „ökologischen Fußabdruck“ für Luxemburg vorstellte, war Zufall. Doch der ecological footprint eignet sich gut zur Öffentlichkeitsarbeit. Weil er illustriert, dass die Menschheit fünf Planeten benötigte, wenn alle so viel an Naturressourcen konsumierten wie jeder Einwohner Luxemburgs bei vorsichtiger Herausrechnung des Grenzpendleranteils, lieferte er den Grünen willkommene Argumenta-tionshilfe für ein Wachstum, das in Zukunft nur noch ein „qualitatives“ wäre. Zwar haben die Grünen auch diesen Begriff schon oft benutzt. Sie beginnen aber erst jetzt zu erklären, was sie damit meinen.
Besser gesagt: Sie werden sich selber allmählich klarer darüber. Denn ihr Versuch, sich eine Art grünen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz für Luxemburg vorzustellen, ist eigentlich noch nicht weit genug gediehen, um schon publik gemacht zu werden. Vor allem in sozialer Hinsicht bietet das Zukunftspapier so viel Angriffsfläche, dass der Parteitag vom Samstag vor allem als ein Mediencoup taugte, mit dem die Grünen sich von den anderen Parteien zu unterscheiden versuchen konnten. Im Grunde jedoch setzten sie sich selber unter zu großen Druck, als sie Anfang des Jahres erklärten, am 19. Juni zu all den brisanten Fragen Stellung nehmen zu wollen, die im Frühjahr auf den Tisch der Tripartite kommen sollten, und sich bis dahin als Opposi-tionspartei aus der politischen Debatte verabschiedeten.
Denn Sparen wollen auch die Grünen. Nur nicht „so buchhalterisch wie die Regierung“, erklärte ihr Finanzexperte François Bausch. Das Null-Defizit-Ziel der Koalition hält Bausch dennoch für „nobel“. Doch während die Regierung irgendwie doch auf steigendes Wachstum hofft, hätten die Grünen ein mehrfaches Finanzierungsproblem, wenn sie sich von den „vier Prozent“ verabschieden wollen. „Reduzieren“ wollen sie im Staatshaushalt „Ausgaben, die alte, überkommene Strukturen erhalten oder nicht mehr zeitgemäß sind“. Doch was das ist, wird weder im Zukunftspapier erklärt, noch tat ein Redner es auf dem Parteitag. Klar ist dagegen, dass schon das Vorhaben der Grünen, bis 2030 den gesamten Energieverbrauch zu 75 Prozent aus erneuerbaren Quellen zu decken, enorme Summen kosten dürfte: Bis 2020 zur Erfüllung des EU-Energiepakets elf Prozent zu erreichen, wo es 2008 ganze 2,16 Prozent waren, bedarf eines Förderaufwands von 600 bis 1 200 Millionen Euro (d’Land, 18.6.2010).
Im Gegenzug würden die Grünen Energie „allgemein verteuern“ – sowohl für Privathaushalte, als auch für Betriebe. Dass dazu Petrolprodukte aus dem Index-Warenkorb genommen werden sollen, lecuhtet ein. Doch die Idee, jedem Haushalt zum Jahresbeginn die Hälfte eines fiktiven Energiesteueranteils vorab als Bonus auszuzahlen, um so einen Anreiz zu schaffen, wirft nicht nur die üblichen Gerechtigkeitsfragen auf, die sich stellen, wenn eine indirekte Steuer neu eingeführt werden soll. Es fragt sich auch, wie der Bonus Grenzpendlern zugute käme. Dass er für sie ein Ausgleich wäre, wenn die Fahrtkostenpauschale, wie die Grünen es bevorzugen, ganz gestrichen würde, steht in dem Zukunftspapier. Doch als der Parteitag mit großer Mehrheit einem Antrag von Fraktionssekretär Abbes Jacoby folgte, die Fahrtkostenpauschale „graduell“ abzuschaffen, zeigte sich, wie viel Klärungsbedarf es in den ei-genen Reihen zu den Auswirkungen der Energieverteuerung noch gibt.
Das ist nicht unbedingt schlimm. Denn noch liegt von keiner anderen Seite ein Entwurf für Wirtschaft, Umwelt und Sozialstaat vor, der im Ansatz so weit geht wie der der Grünen. Und so sehr, wie deren Ideen sozial unverträglich genannt werden könnten, ließe sich das Kaufkraft-Mantra der Gewerkschaften als umweltfeindlich kritisieren. In diesem Licht erhält sogar das grüne Argument, staatlich garantierte Pensionen von bis zu 6 000 Euro im Privatsektor und bis zu 10 000 Euro im öffentlichen Dienst zu versprechen, sei viel zu viel, einen ökologischen Verzichts-Sinn.
Aber noch reicht das ökofiskale Umbaukonzept der Grünen nicht weit. Eine „generelle“ Steuerreform verlangen sie, erklären aber nicht, wie weit „generell“ reichen soll. Allerdings würden sich daran alle Verteilungsfragen entscheiden. Da in Luxemburg die Begünstigung hoher Einkünfte zur politischen Strategie der wechselnden Regierungen gehört, bleibt abzuwarten, ob mit ökologischen Umbau-Debatten an diesem Punkt Schluss ist.