Österreich

Ibiza ist weit

d'Lëtzebuerger Land du 14.06.2019

Das war nun nicht nur für österreichische Verhältnisse rasant: Vier Regierungen in zwei Wochen, das Scheitern der fatalen politischen Größe Heinz Christian Strache an seiner moralischen Selbstentblößung auf Ibiza, eine geplatzte Koalition, die Implosion der Freiheitlichen Partei FPÖ mit völligem Rückzug der freiheitlichen Ministerriege aus der Restregierung, der Sturz von Kanzler Kurz und seiner kurzzeitigen Übergangsregierung nach einem Misstrauensvotum des Parlaments –und dann der Überraschungscoup von Präsident Alexander van der Bellen: In einer atemlosen, fast hysterischen Zeit weiß der erfahrene Parlamentarier die Trümpfe der Verfassung auszuspielen und bringt die aus den Fugen geratenen Verhältnisse wieder auf den Boden.

Er machte aus der Not (keine der kanzlerfähigen Parteien hätte eine Mehrheit im Parlament hinter sich gehabt) eine Tugend. Van der Bellen wagte das Experiment „Expertenregierung“ und setzte als Regierungschefin die Verfassungsjuristin Brigitte Bierlein ein, die ein Kabinett aus erfahrenen Beamten zusammenstellte. Nicht ohne dem (vorerst) gefallenen Jungstar Kurz noch die Lehre hinterherzurufen, dass auch ein politisches Talent nicht davor zurückschrecken sollte, den Dialog mit Freund und Feind, sprich, die parlamentarische Auseinandersetzungen, als Kern des demokratischen Gefüges zu respektieren.

Bierlein und ihre Minister gingen zügig ans Werk, die Übergangskanzlerin rief das Motto „Stabilität“ aus. In unübersichtlichen Zeiten wird gerne Grundsätzliches beschworen – und liegt der Rückgriff auf Klassiker nahe. So beschwor Kanzlerin Bierlein zu Beginn der ersten Sitzung des Nationalrates nach ihrem Antritt niemanden Geringeren als den römischen Staatsmann Cicero: „Nichts hält das Gemeinwesen besser zusammen als die Verlässlichkeit“. Gleichzeitig bat sie um das Vertrauen der versammelten Volksvertretung: „Für Verlässlichkeit stehen wir, und um Vertrauen werben wir“, und dazu will sie den Vorteil nutzen, „kein Wahlprogramm abarbeiten zu müssen.“

Zu stabilisieren gibt es genug. Denn 44 Wochen Türkis-Blau verfolgten eine Politik, die sich als Reformprojekt stilisierte und doch nur Neoliberalismus im neuen schicken Outfit feierte. Die Kurz-Kickl-Koalition trieb die Abschaffung der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung voran und betrieb permanente Scharfmache bei den Themen Sicherheit, Asylwesen und Migration. „Politik gegen Sozialstaat und Menschenrechte“ nennt dies Armin Thurnher, Chefredakteur der Wiener Wochenzeitung Falter.

Doch schon in der ersten Parlamentssitzung macht die parteiunabhängige Übergangsregierung mit glaubwürdigem Respekt vor dem „Hohen Haus“, an dem „das Herz der Demokratie schlägt“, die Alltagserfahrung. Im Nationalrat herrscht nach dem Ibiza-Chaos das freie Spiel der Kräfte, mit anderen Worten: Es ist Wahlkampf. Die vom jüngsten Altkanzler der Geschichte, Sebastian Kurz, verlassene Volkspartei versucht, das gescheiterte rechts-rechte Bündnis und seinen Anteil an der Misere vergessen zu machen, indem sie auf Distanz zu den Freiheitlichen und zum Angriff übergeht.

Die Fama geht von einer „Rendi-Kickl-Koalition“: Die sozialdemokratische Parteivorsitzende Pamela Rendi-Wagner habe mit dem Ex-Innenminister Herbert Kickl „gepackelt“, um die Regierung zu stürzen, das deute auf eine künftige rot-blaue-Koalition hin. Überhaupt sei die Ibiza-Affäre mit „Silberstein-Methoden“ eingefädelt worden – eine Anspielung auf desaströses „dirty campaigning“ der SPÖ im vergangenen Wahlkampf, für den der umstrittene, mittlerweile inhaftierte Politikberater Tal Silberstein gewonnen wurde. Das alles soll suggerieren: Der Schmutz liegt auf der anderen Seite. Die saubere, erfolgreiche jugendliche Kurz-ÖVP hat damit nichts zu tun.

Die Sozialdemokraten haben dem nichts entgegenzusetzen. Chefin Rendi-Wagner zieht bemüht beherzt, aber ziellos und mit wenig Rückhalt bei den Genossen in den Wahlkampf und scheint wenig Vertrauen in die roten Kernthemen zu haben. Dabei hat gerade die implodierte Koalition mit ihrer systematischen Demontage des Sozialstaates ein paar Trümpfe aufgelegt: soziale Gerechtigkeit, Bildung, Chancengleichheit – es gibt bislang keine Anzeichen, dass die SPÖ auch nur versuchen würde, mit inhaltlich orientierter Politik Punkte zu machen.

Indessen setzt in der Partei der permanenten Geschichtsvergessenheit erneute Amnesie ein. Die Verhältnisse spielen gegenüber der FPÖ die Ironiekarte aus: Strache, der zu Beginn der britischen EU-Austrittsdebatte selbst einen „Öxit“ ins Spiel gebracht hatte, war zur EU-Wahl auf an sich chancenlosem Listenplatz der FPÖ nominiert war, um die Parteistärke augenscheinlich anzuheben. Nun wurde er tatsächlich mit Vorzugsstimmen in das Straßburger Parlament gewählt. Die Freiheitlichen ließen ihrem langjährigen Chef, der dieser Tage (ohne großen Pomp) seinen 50. Geburtstag feiert, die Tür offen, das Mandat anzunehmen, und trotzdem Parteimitglied zu bleiben. Und zuletzt war sogar ein künftiger FPÖ-Spitzenkandidat Strache für die Wahl im Bundesland Wien in zwei Jahren im Gespräch. Ibiza ist weit weg.

Irmgard Rieger
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