Beim Versuch, der Debatte zum „außergewöhnlichen“ Staatshaushalt 2021 Politik abzugewinnen, kamen die Abgeordneten immer wieder beim Klimawandel an.
Und bei der Gerechtigkeit

Von Krise zu Krise

d'Lëtzebuerger Land du 18.12.2020

Normalerweise, sagt DP-Fraktionspräsident Gilles Baum, verlaufe eine Budgetdebatte ja so: Die Regierungsmehrheit lobt den Finanzminister für seine weitsichtige Politik und die Opposition wirft ihm vor, dass die Regierung zu viel Geld ausgebe. Das sei diesmal nicht so.

Das klang, als hätte die Abgeordnetenkammer sich die anderthalb Tage langen Diskussionen um den Staatshaushaltsentwurf 2021 glatt sparen können. Vorausgesetzt, sie hätte DP-Finanzminister Pierre Gramegna beigepflichtet, dass der Entwurf ein „außergewöhnlicher für außergewöhnliche Zeiten“ sei. Oder Gilles Baum zugestimmt, dass der Mehrjahreshaushalt bis 2024 „mit Vorsicht zu genießen“ sei. Und dass die Regierung, weil niemand wissen kann, was die Corona-Pandemie noch bringt, weitere Maßnahmen beschließen wird, falls nötig, und der Staat sich das auch leisten kann: Um 7,4 Prozent nehme die Staatsschuld heutigen Voraussagen nach zwischen 2019 und 2021 zu, rechnet Gramegna am Mittwoch vor. Das sei die niedrigste Zuwachsrate in der Eurozone. „In Deutschland liegt sie bei 10,7 Prozent, und die haben auch ein Triple A!“, trumpft er auf.

Aber natürlich tun die Abgeordneten dem Finanzminister diesen Gefallen nicht. Die von der Opposition sowieso nicht, denn vor der Corona-Krise war die Regierung davon ausgegangen, geradezu spielend einen strukturellen Überschuss des Gesamtstaats von 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erreichen zu können und eine Staatsschuld unter 30 Prozent des BIP. Nun rechnet sie mit einem strukturellen Defizit von minus zwei Prozent nächstes Jahr, das sich bis 2024, wenn alles klappt, auf –0,9 Prozent verbessern könnte. Dann wird die Staatsschuld voraussichtlich 32,9 BIP-Prozent oder 24,3 Milliarden Euro betragen. Doch wer weiß: „Sicher ist, dass die Unsicherheit bleibt, und vielleicht wird nie wieder alles so, wie vor dem März 2020“, orakelt der DP-Abgeordnete André Bauler, der Vorsitzende des parlamentarischen Finanzausschusses.

Für die DP-LSAP-Grüne-Mehrheit sind das schwierige Aussichten, denn sie hatte die Neuauflage ihrer Koalition vor zwei Jahren mit dem gemeinsamen Nenner angetreten, dass Spielraum zum Verteilen da sei. Heute dagegen ist die Frage weiterhin unbeantwortet, wer die krisenbedingten Extraausgaben von elf Milliarden Euro in diesem Jahr tragen wird, die mit einem Defizit von fünf Milliarden im Zentralstaat 2020 verbucht sind. Die Verlängerung von Kurzarbeitergeld, Sonder-Familienurlaub und Zuschüssen für die Betriebe im nächsten Jahr kommt hinzu. In Ergänzungen zum Haushaltsentwurf hat Pierre Gramegna die Ausgaben um weitere 200 Millionen Euro erhöht. Dadurch soll das Defizit im Zentralstaat sich nächstes Jahr auf 2,7 Milliarden belaufen. Was werde dann aus einem der wichtigsten Vorhaben der Legislaturperiode, der einheitlichen Steuerklasse für natürliche Personen, provoziert CSV-Haushaltsexperte Gilles Roth in Gramegnas Richtung. Die könne ja nur bedeuten, jeden in der heutigen Steuerklasse 2 zu besteuern, aber was werde das kosten? Kurz zuvor hat Roth der Regierung vorgeworfen, „Halligalli-Politik“ gemacht, statt Reserven angelegt zu haben, als 2018 und 2019 der Zentralstaat Überschüsse von 500 Millionen und 60 Millionen schrieb. Pierre Gramegnas früherer Arbeitgeber, die Handelskammer, sah das in ihrem Haushaltsgutachten ähnlich. Der Finanzminister entgegnet darauf, als er 2013 ins Amt kam, habe die CSV ihm ebenfalls keinen „Apel fir den Duuscht“ hinterlassen.

In der an Politik nicht gerade reichen Zeit von Semi-Lockdown, Ausgangssperre und Visio-Konferenzen ist eine Haushaltsdebatte ein besonders willkommener Anlass, Profil zu zeigen. Bemerkenswerterweise kommen die Abgeordneten bei dem Versuch, dem „außergewöhnlichen Haushalt“ Politik abzugewinnen, nicht nur immer wieder bei der Gerechtigkeit an, sondern auch beim Klimawandel an. Für DP, LSAP und Grüne scheint zumindest in der Haushaltsdebatte am Mittwoch der Kampf gegen den Klimawandel das neue verbindende Element geworden zu sein, der Anhalt zur Legitimierung ihrer Politik. Gramegna bemüht ein Chemielabor als Gleichnis: Covid-19 sei „Reagens“ und „Katalysator“ für den Klimawandel. Das Coronavirus habe „uns gezeigt, dass wirtschaftliche Aktivitäten eine Reihe Auswirkungen auf das Klima haben“, und sei damit ein Reagens. Und ein Katalysator, „weil wir alle Bescheid wissen. Wir müssen also schneller vorgehen“.

Das sind zwar keine ganz einleuchtenden Worte, aber der Druck, Klimapolitik zu betreiben, nimmt zu. Zum einen hat die EU vergangene Woche ihr CO2-Reduktionsziel bis 2030 von zuvor 40 Prozent auf nun 55 Prozent erhöht. Luxemburg ist mit seinen vom Regierungsrat im Februar 2019 beschlossenen 55 Prozent damit weniger Pionier. Zum anderen verspricht die Wahl Joe Bidens zum neuen US-Präsidenten, der die Vereinigten Staaten zurück ins Pariser Abkommen bringen will, einen neuen Schub für klimapolitischen Multilateralismus. Und nicht zuletzt hat der diesjährige parlamentarische Haushaltsberichterstatter, der Abgeordnete François Benoy von den Grünen, das Thema mit seinem Bericht gesetzt. Darin zieht er eine Linie von der Corona-Krise zur Klimakrise über eine Gerechtigkeitskrise. Abgesehen von der ADR, für die Klimapolitik von „grüner Ideologie“ durchsetzt ist, wird sein Bericht parteienübergreifend gelobt. Er sei „ein ganz starkes Stück“, findet CSV-Fraktionspräsidentin Martine Hansen. Der Finanzminister sieht die Corona-Krisenpolitik in die Klima-Krisenpolitik übergehen.

Benoys 260 Seiten langer Bericht ist mit 80 Seiten Exkurs „Repartons ensemble plus forts après la crise“ eine Fleißarbeit, die ein Plädoyer für einen „starken Staat“ hält, der interveniert und reguliert, weil „der freie Markt allein keine adäquate Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit hat, sei es, um Pandemien zu verhindern oder zu bekämpfen, um angemessenen Wohnraum für alle Bürger/innen zu gewährleisten oder um die Klimakrise wirklich zu bewältigen“. Der Haushalts- und Fiskalpolitik komme „daher eine wachsende Bedeutung zu, da sie mehr denn je die Richtung der Entwicklung unseres Landes in den kommenden Jahren bestimmen wird“. Benoy macht dazu insgesamt 50 Vorschläge. Sie reichen von der Stärkung des Gesundheitssystems über „Zukunftsinvestitionen“ in Mobilität oder öffentlichen Wohnraum über mehr soziale Gerechtigkeit, einen „nachhaltigen“ Wirtschaftsaufschwung bis hin zu „stärkeren“ öffentlichen Finanzen.

Politisch verwegen sind die Vorschläge kaum. Der Bericht ist stark in der Analyse, etwa über den Zusammenhang von Artenschwund, Pandemie-Gefahr und Klimawandel, oder wenn er hervorstreicht, dass Luxemburg dabei ist, zu einem jener EU-Staaten zu werden, in denen die sozialen Ungleichheiten besonders groß sind. An Ideen hingegen werden viele Vorhaben aufgezählt, die die Regierung ohnehin verfolgt, bereits laufende große Wohnungsbauprojekte von Fonds du Logement und SNHBM in Wiltz, Düdelingen und Olm zum Beispiel, die einschlägigen Mobilitätsinitiativen von François Bausch oder der seit Jahren versprochene „Nachhaltigkeits-Check“ vor Ansiedlung neuer Industrieben. Dass Pierre Gramegna bemerkt, es gebe „verschiedene Wege“ zur Erreichung der von Benoy aufgezählten Ziele, und dass dem Finanzminister offenbar besonders gut die Idee gefällt, „unsere Wirtschaft fit zu machen“ mit einer „grünen Relance“ nach der Seuche, deutet schon an, dass unter den gemeinsamen Nenner der Koalition nicht alles fällt. Dass Benoy eine „substanzielle Steuer auf erschlossenes, aber brachliegendes Bauland“ einführen würde und eine „spezifische Steuer auf Leerstand“, ist vermutlich so ein Beispiel. Dass er anregt, eine „eingehende Analyse“ über die „Wirksamkeit der Umverteilungseffekte im luxemburgischen Sozial- und Steuersystem“ anzufertigen, vermag dagegen wahrscheinlich jeder zu unterschreiben. Und ein „besseres Gleichgewicht zwischen der Besteuerung von Kapital und Arbeit“ will er lediglich in der für nächstes Jahr geplanten parlamentarischen Orientierungsdebatte über eine „Modernisierung“ des Steuersystems besprechen lassen. Ob es bis zum Ende der Legislaturperiode doch noch zur versprochenen Steuerreform kommt, kann im Moment niemand sagen.

Diskussionsstoff gibt der Bericht trotzdem her, zumal das Budgetgesetz ein paar Steueränderungen vornehmen soll. Der Finanzminister behauptet, „keine Sekunde“ habe die Regierung daran gezweifelt, die neue CO2-Steuer einzuführen – was erstaunlich ist, denn sie steht nicht im Koalitionsvertrag. LSAP-Fraktionspräsident Georges Engel, der sie vor einem Jahr noch zu Fall bringen wollte, lobt jetzt den CO2-Preis von 20 Euro pro Tonne im nächsten Jahr und jeweils fünf Euro mehr in den beiden Jahren danach als „weniger willkürlich“ im Vergleich zu Akzisenerhöhungen auf Brennstoffe. Den sozialen Ausgleich über die verdoppelte Teuerungszulage und den um 96 Euro erhöhten Einkommens-Steuerkredit, was laut Statec vor allem im untersten Einkommens-Quintil für Entlastung sorgt, hält die LSAP offenbar für ausreichend. Statt darüber mehr Worte zu verlieren, geht Engel über zu den „acht Planeten“, die die Menschheit benötige, wenn alle so viele Ressourcen verbrauchen würden wie Luxemburg.

Dass die Koalition mit ihrem Öko-Konsensualismus von einer Krise zur nächsten argumentiert und sich dahinter verstecke, schlägt die CSV ihr um die Ohren. Fraktionspräsidentin Martine Hansen, die der Regierung schon seit dem Sommer Konzeptlosigkeit beim Umgang mit der Corona-Pandemie vorwirft, will ein langfristiges Programm zum weiteren Umgang mit der Seuche aufgestellt sehen, auch wenn der Impfstoff verabreicht wird, sowie einen konkreten „Plan de relance“ für die Wirtschaft. Gilles Roth stichelt in Richtung LSAP, wie die auf ihrem Moutforter Parteikongress vor zehn Jahren des Index’ wegen beinah die damalige Koalition verlassen hätte, nun aber anscheinend nichts daran auszusetzen hat, dass die CO2-Steuer im Warenkorb unberücksichtigt bleibt. Roth rechnet vor, dass die Steuer sich nicht nur auf Benzin und Diesel auswirkt, sondern Heizöl ab 1. Januar um 16 Prozent teurer werde. Bei einer Öltankfüllung von 3 000 Litern seien das fast 500 Euro, doch „nicht jeder kann es sich leisten, 10 000 bis 12 000 Euro für eine andere Heizung auszugeben“. Ebenso könnten sich schlechter Verdienende nicht „beim nächsten Festival“ ein Elektroauto leisten, um steigenden Benzin- und Dieselpreisen zu entgehen. Die 8 000 Euro Kaufprämie vom Staat seien nicht sozial selektiv. Gegen die CO2-Steuer sei die CSV nicht, aber es wäre besser gewesen, sie in die große Steuerreform einzubetten. Allerdings braucht die Regierung die neue Steuer schon ab 1. Januar 2021, weil dann die EU-Verordnung über die Klimaziele wirksam wird.

Wenn die DP die Rolle einer ausgesprochen wirtschaftsliberalen Stimme nicht spielt, solange sie in der Koalition mit LSAP und Grünen steht und sie lieber um Dispens von der Politik zu bitten scheint, solange die Seuche umgeht, versucht die ADR, diesen Part zu übernehmen: Klimapolitische Regulierung sei „ideologisch“; der Einfluss der Klimapolitik der gesamten EU auf die Erd-
erwärmung nur gering, und die Energieversorgung allein durch „volatile“ erneuerbare Energien schaffen zu wollen, völlig unrealistisch, behauptet Gruppenchef Fernand Kartheiser. Die Nachfrage des DP-Fraktionspräsidenten, wo die ADR „sparen“ würde, scheint Kartheiser wie gerufen zu kommen: Die ADR würde die staatliche Entwicklungshilfe von einem Prozent auf 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens zurückfahren, Kampagnen zur Geschlechtergleichstellung abschaffen, die Beiträge Luxemburgs zu internationalen Organisationen senken, die zum EU-Budget auch. Im Unterschied zum grünen Budgetberichterstatter will Kartheiser „den starken Staat in Kernaufgaben: Sicherheit, Steuern, Justiz und Diplomatie. Und Bildung und Gesundheit zu einem guten Teil“. Den Rest überlasse man dem Privatsektor.

Über soziale Ungleichheiten diskutieren will erwartungsgemäß vor allem déi Lénk. Der LSAP-Fraktionspräsident erwähnt eher beiläufig, die Sozialisten könnten sich eine „wirksame“ Steuer auf Immobilienvermögen vorstellen – mit einem Freibetrag von zwei bis drei Millionen Euro, womit „das Gros“ der Eigenheimbesitzer nicht darunter falle. Dass „die Steuern auf Arbeit stärker steigen als die auf Kapital ist langfristig nicht gut“, meint Georges Engel. Deshalb dürfe man „eine legitime Diskussion über Steuergerechtigkeit nicht im Keim ersticken“. Worauf der Linken-Abgeordnete David Wagner der LSAP bescheinigt, nur „ein bisschen“ darüber reden zu wollen, „wo man Geld suchen gehen kann“. Wagner wünscht sich Klarheit über alle möglichen Steuerbefreiungen. Dass der frühere Direktor der Steuerverwaltung, Guy Heintz, im Land-Interview vor einer Woche erklärt hat, Aufgabe der Verwaltung sei es nicht, Statistiken zu liefern, nimmt Wagner zum Anlass, nach einer Dienststelle im Finanzministerium zu verlangen, die das übernähme. Was die Regierung im Budgetgesetz Schritte zu mehr Steuergerechtigkeit nennt, geht Wagner nicht weit genug: Die beschleunigte Abschreibung von Investitionen in Mietwohnungen würde déi Lénk ganz abschaffen, statt den Abschreibungssatz zu senken und die Dauer seiner Anwendbarkeit zu ändern. Die neue beschleunigte Abschreibung für energetische Sanierung von Eigenheimen komme „wieder nur großen Besitzern zugute“, klagt Wagner und findet, „wenn die Grünen politischer wären, würden sie das erkennen“.

Bis Mittwochabend werden über den „außergewöhnlichen“ Haushaltsentwurf im Kammerplenum vor allem Standpunkte ausgetauscht. Das ändert sich am Donnerstagvormittag, als die Regierungsmehrheit alle 16 von der Opposition eingereichten Entschließungsanträge ablehnt und nur zu einem einzigen Antrag Stellung nimmt: einem Ultimatum der CSV-Fraktion an LSAP-Innenministerin Taina Bofferding, bis Mitte Oktober nächsten Jahres einen Gesetzentwurf zur Reform der Grundsteuer vorzulegen. Die anderen Anträge sind ähnlich provokant. Die ADR verlangt beispielsweise die Wiederanbindung des Kindergelds an den Index, den eine Tripartite 2006 abgeschafft hatte, und die Nachzahlung des entgangenen Geldes. Déi Lénk will dasselbe für alle Familienzulagen, schließlich hatte die Regierung sich 2014 unter anderem damit die Zustimmung der großen Gewerkschaften zum Zukunftspak genannten Sparpaket erkauft.

DP-Fraktionspräsident Gilles Baum erklärt den aufgebrachten Oppositionsabgeordneten, ihre Anträge würden nicht diskutiert, weil sie Auswirkungen auf den Staatshaushalt hätten und die Kammer sich am Tag vorher einig gewesen sei, dass gespart werden müsse. Was den Lénk-Abgeordneten Marc Baum zur Feststellung veranlasst, die Krise sei noch schlimmer als er angenommen habe; sie sei auch eine des Parlamentarismus.

Peter Feist
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