CSV- und ADR-Politiker könnten sich die Hände reiben, wenn sie die 475 Seiten schwere Langfassung des Rifkin-Berichts lesen: Am Montag vergangener Woche bei der Wachstums-Debatte in Belval hatte Nachhaltigkeitsminister François Bausch (Déi Gréng) sich bemüht, den „1,1-Millionen-Einwohnerstaat“ im Jahr 2060 als eine „Phantom-Diskussion“ abzutun, mit der die beiden konservativen Oppositionsparteien die Regierung vorführen wollen (d’Land, 11.11.2016). Eine Woche später ist bei Rifkin unbekümmert vom Eine-Million-Einwohnerstaat die Rede, zu dem Luxemburg bis 2050 gewachsen sein könne.
So wird im Kapitel „Energie“ der Studie erläutert, wie viel Strom, Wärme und Treibstoffe 1 026 876 Einwohner im Jahr 2050 verbrauchen würden (S. 30). Im Kapitel „Mobilität“ wird durch „Ex-trapolation aktueller Trends“ in die Jahrhundertmitte die Zahl der hierzulande Berufstätigen von heute 415 000 auf dann 755 000 Personen veranschlagt. Von ihnen wären 320 000 Grenzpendler, gegenüber 175 000 dieses Jahr (S. 76). Im Kapitel „Gebäude“ wird „das potenzielle Bevölkerungswachstum auf rund eine Million Einwohner im Jahr 2050“ eine „Chance“ genannt: Es werde „den Auf- und Ausbau einer neuen Generation von Wohnvierteln und Gebäuden mit der dazugehörigen Infrastruktur“ ermöglichen (S. 121).
Am Schluss der Studie rechnet das Beraterteam um Jeremy Rifkin vor, Investitionen in die Energie-Infrastruktur, den Gebäudebestand und in ICT-Lösungen könnten bis Mitte des Jahrhunderts bis zu 24 000 neue Arbeitsplätze pro Jahr entstehen lassen (S. 450 ff.). Was etwa der doppelten Zuwachsrate der letzten Jahre entspräche.
Wer sich bei der Vorstellung des Berichts am Montag in den Kirchberger Messehallen fragte, wieso der US-amerikanische Ökonom und „Futurologe“ mehrfach erklärte, seine Vorschläge seien nur „erste Denkanstöße“, findet in den Wachstumsaussichten eine mögliche Erklärung. Der Regierung und den Koalitionsparteien ist der Widerspruch zwischen „Phantomdebatte“ und „Chance“ anscheinend aufgefallen: LSAP-Wirtschaftsminister Etienne Schneider sagte am Montag noch ehe viel von Zahlen die Rede sein konnte, „ein Wachstum um jährlich mehr als zehntausend neue Arbeitsplätze wie in den letzten fünfzehn Jahren streben wir mit Rifkin nicht an“. Die grüne Abgeordnete Josée Lorsché, Vorsitzende des parlamentarischen Nachhaltigkeitsausschusses, schrieb am Mittwoch eine parlamentarische Anfrage an Schneider und François Bausch, damit sie erklären können, wie es um die „Kohärenz“ steht zwischen den Ideen Rifkins zum einen und denen Bauschs zum Management der knappen Landesfläche zum anderen.
Man kann den Rifkin-Bericht aber auch weniger aufgeregt lesen, vor allem wenn man sich auf die Kapitel über Energie, Transport, Gebäude und Landwirtschaft beschränkt: Nächstes Jahr muss entschieden werden, wie in Luxemburg das Pariser Klimaabkommen umgesetzt und das Land der Lastenteilung zur Treibhausgas-Emissionsminderung innerhalb der EU gerecht werden soll. Den Vorschlägen der EU-Kommission von Ende Juli nach müssten in Luxemburg alle Emissionen, die nicht unter den EU-weiten Emissionshandel fallen, bis 2030 um 40 Prozent gegenüber 2005 gesenkt werden. Bis 2050 sollen in der EU, das sieht eine Roadmap vor, die Emissionen um rund 90 Prozent sinken, was eine quasi komplett „CO2-freie“ Energiewirtschaft und Energieversorgung voraussetzt.
Nicht zuletzt das ist der Grund, weshalb die Szenarien bei Rifkin bis in die Jahrhundertmitte reichen. Bis dahin so „karbonfrei“ wie nur möglich zu werden, wäre ein derart unerhörtes und aufwändiges Unterfangen, dass die Investitionen dafür möglichst schnell entschieden und geplant werden müssten. Diesen Rat gaben auch der Futurologie gänzlich unverdächtige Berater, etwa McKinsey, schon vor zehn Jahren der EU-Kommission. Dass Rifkins Empfehlungen an Luxemburg ungeachtet der derzeitigen politischen Konflikte über den „1,1-Millionen-Einwohnerstaat“ und die Luxemburger Identität von Wachstum ausgehen, kann man mögen oder nicht. Die Möglichkeit, dass Zwänge zur CO2-Reduktion das Wachstum abwürgen, in dem Fall aber dennoch die hohen Rentenversprechen über Jahrzehnte hin-aus bedient werden müssten, besteht auch.
So gesehen, enthält der Bericht zahlreiche interessante Vorschläge und Szenarien. Ganz offensichtlich stammen viele aus Luxemburg und wurden nur durch Erkenntnisse untermauert, die in den USA gewonnen wurden. Dass bis 2050 50 bis 100 Prozent der Luxemburger Stromversorgung – für am kostengünstigsten hält der Bericht 70 Prozent – aus erneuerbaren Quellen gedeckt werden könnten und vor allem aus Solarstrom, wird vor allem auf den Kostenverfall der Solarmodule zurückgeführt. 1997 kostete die Installation eines Watt Solarstromleistung 76 Dollar, für nächstes Jahr werden 55 US-Cent prognostiziert (S. 15). Rifkins Idee von den „Zero marginal cost“ kommt unter anderem daher, dass die Investition in eine Solaranlage sich nach fünf bis acht Jahren amortisiert hat. Bei einer Lebensdauer von 30 Jahren produziert die Anlage 22 bis 25 Jahre lang Strom ohne weitere Kosten. Der Energieaufwand, der zur Herstellung der Solarzellen nötig war, ist je nach Zellen-Technologie nach im Schnitt drei Jahren Betriebsdauer kompensiert.
Dass Luxemburg eine ganz neue Energieversorgungs-Struktur erhalten soll, ist nicht nur eine Empfehlung des Berichts. An ihrer Umsetzung wird im Wirtschaftsministerium schon gearbeitet (d’Land, 7.10.2016). Die neue Struktur soll lokale und regionale „Mikro-Netze“ enthalten, in denen Haushalte zu Energieproduzenten würden. Energiespeicher müssten eingerichtet und die Strommenge im Netz durch „smarte“ Steuerung aufrecht erhalten werden.
Von dort ist es nur ein kleiner Schritt zur Elek-tromobilität, die, so der Bericht, schon kurzfristig durch weitaus mehr Ladestationen als die 800, die derzeit installiert werden, begünstigt werden müsse, denn E-Autos hätten in dem neuen Netz eine Rolle als Speicher zu spielen. Ab 2025 sollte Luxemburg am besten nur noch Elektro-PKW als Neuwagen zulassen (S. 75).
Auch den Hausbau erreicht die Energie-Thematik schnell: Es sei nicht nur nötig, dass neue Wohnbauten ab Anfang nächsten Jahres dem „Passivhaus-Standard“ genügen und dass sie ab 2019 auch zu kleinen Energieproduzenten würden – sei es durch Solarstrom-Panels, sei es durch Solarthermie-Anlagen auf dem Dach. Der Bericht rät obendrein, bis 2050 den gesamten Altbaubestand energetisch zu sanieren (S. 140 ff).
Die Landwirtschaft hätte ebenfalls eine wichtige Rolle zu spielen. Am Montag auf dem Kirchberg hieß es, bis 2050 würde sie auf „hundert Prozent bio“ umgestellt. Das steht in dem Bericht nicht; man kann sich vorstellen, dass die Diskussion dieser Frage in der Arbeitsgruppe Landwirtschaft erhebliche Konflikte verursacht hat. Die Ankündigung, wo man 2050 sein will, könnte der Kompromiss gewesen sein, etwas Kühnes bekannt zu geben, aber für eine ferne Zukunft.
Dass der Biolandbau umweltfreundlicher und energieeffizienter ist als der konventionelle, hält der Rifkin-Bericht aber fest (S. 186). Ebenfalls stellt er fest, dass die ökonomische Lage der Landwirtschaft im Hochlohnland Luxemburg derart ungünstig ist, dass ein einigermaßen auskömmliches Einkommen der Landwirte so stark von Beihilfen abhängt, dass der konventionelle wie auch der Bio-Agrarsektor „öffentliches Geld vernichten“ (S. 164). Ein Ausweg aus dem Dilemma könne darin bestehen, auf einem Teil der Agrarfläche Solar- oder Windstrom zu erzeugen, wenn die Landwirte in Kooperativen auch zu „Energiewirten“ würden: Einer Berechnung nach einem Modell der Stanford University und der University of California in Berkeley ließen sich 67 Prozent des Luxemburger Strombedarfs durch Großflächen-Solarsysteme decken. Nötig wären dafür 129 Quadratkilometer Fläche oder ein Fünftel der Agrarfläche. Der „größte Teil“ davon könne weiterhin agrarisch bewirtschaftet werden (S. 171).
Die ICT-Komponente im Rifkin-Bericht soll nicht zuletzt Innovationen, sei es durch Start-ups, sei es durch die „Sharing Economy“ ermöglichen. Vieles davon klingt versponnen, etwa die Idee, Bürger könnten leere Kellerräume als Lagerplätze für die Waren-Logistik anbieten und damit Geld verdienen; die Lager würden dann von selbstfahrenden kleinen Elektro-LKW angesteuert. Oder die Rückverfolgung landwirtschaftlicher Produkte über Sensoren, die nicht nur an Verpackungskisten, sondern auch „an Gemüse“ angebracht würden (S. 150).
Sicherer ist, dass die Infrastruktur, die der Bericht andenkt, viel Geld kosten würde. Energienetze und erneuerbare Energien etwa schlügen bis 2050 mit 20,6 Milliarden Euro nach Preisen von 2015 zu Buche; Effizienzgewinne könnten diese Kosten jedoch auf 14 Milliarden senken (S. 442). Wieso man dadurch ausgelöste Arbeitsplatzeffekte nicht dankbar würde mitnehmen wollen, müssten CSV und ADR erklären – falls sie wegen des Rifkin-Berichts Stimmung machen wollten. Aber im Grunde müsste die Regierung die gleiche Frage beantworten. So dass nach Rifkin die Zukunftsdebatte beginnen kann.