Kollektive Einsamkeit

d'Lëtzebuerger Land du 21.02.2025

Immer wieder schmiegt sich jemand an einen anderen Körper – der depressive vierzigjährige Schriftsteller Bernard an den entfremdeten Vater, eine alte Dame an Bernard in der U-Bahn. Eines der Leitmotive der Luxemburger Koproduktion Der Kuss des Grashüpfers ist gleichzeitig ein roter Faden, der sich durch die erste Hälfte der 75. Berlinale zieht: In fast allen Sektionen sieht man einsame Menschen, die oftmals ungeschickt die Nähe zu ihren Mitmenschen suchen. Interessant dabei ist: Diese scheitern und gelingen mit genau der Regelmäßigkeit, mit der die Filme, die diese Menschen darstellen, scheitern und gelingen.

Der Kuss des Grashüpfers, ein Film über einen Schriftsteller mit Schreibblockade, der mit dem Tumor seines Vaters konfrontiert wird, ist beispielsweise immer dann am feinfühligsten, wenn er mit seiner eigensinnigen Ästhetik porträtiert, wie seine Figuren aneinander vorbeileben. Wenn Bernard versucht, sich einen Weg durch die immer dichter werdende Menschenmenge an stummen U-Bahn-Passagieren zu bahnen, um einen Konflikt mit seiner von Sophie Mousel gespielten Partnerin Agata zu regeln, erinnert das bisweilen an die Ästhetik eines Charlie Kaufman: Auch hier erhält man den Eindruck, sich hinter den Kulissen von Bernards Innenleben zu befinden – nur ist besagtes Innenleben ganz schön leer. Weswegen die Exzentrik von Elmar Imanovs Film oftmals etwas bemüht wirkt – so etwa, wenn Bernard auf einer Party mit einem Grashüpfer knutscht.1

Viele Beiträge zeigen: Nie waren wir so sehr miteinander verbunden wie heute – und nie waren wir so einsam. Diese Inszenierung der Einsamkeit führt teilweise zu tollen, stellenweise aber auch zuäußerst peinlichen Filmen – wie etwa Tom Tykwers Berlinale-Ouvertüre Das Licht. Wer die Berlinale kennt, weiß, dass die Eröffnungsfilme meist bestenfalls annehmbar sind. Aber selbst an diesem bescheidenen Erwartungshorizont gemessen enttäuscht Das Licht. Für seine dritte Berlinale-Ouvertüre hat Tykwer Lars Eidinger für ein fast dreistündiges (also: gefühlt endloses) Drama über eine dysfunktionale Familie gecastet, scheint dabei aber vergessen zu haben, dass Eidinger bereits bei der Berlinale im Vorjahr in Mathias Glasners Sterben, einem grandiosen, ebenfalls fast dreistündigen Drama über eine dysfunktionale Familie, mitgewirkt hat – und sein Film somit eigentlich überflüssig ist. Hier spielt Eidinger einen patriarchalen Werbeagenturheini, der sich seine Slogans bei seiner Tochter abguckt. Dabei versucht der Schauspieler verzweifelt, über das mit den Haaren herbeigezogene Drehbuch, die klischeehaften Figuren und die peinlichen Musical-Einlagen hinwegzutäuschen, indem er bereits nach zwanzig Minuten in bester Eidinger-Manier sein Geschlechtsteil auspackt (Spoiler: Es hilft herzlich wenig.) Die Mutter (Nicolette Krebitz) versucht indessen, Fördergelder für den Bau eines Theaters in Nairobi aufzutreiben. Der schüchterne Sohn flüchtet in virtuelle Welten, die Tochter ins Berliner Partyleben. Miteinander reden tut die Familie weniger, als es die stummen Figuren in Aki Kaurismäkis Filmen tun. Die neue Putzfrau Farah versucht, die zersplitterte Familie wieder zusammenzubringen – dies mithilfe des mysteriösen titelgebenden Lichts, das den Film gegen Ende in ein surreales Flüchtlingsdrama im Stile von Matteo Garones Io, Capitano kippen lässt. Die Aussage ist klar: Während Deutschland sich in seinen First-World-Problemen suhlt und westliche Empathie nicht mal mehr langt, um Theaterhäuser aus Lehm in fernen Ländern zu errichten, ertrinken Kriegsgeflüchtete im Mittelmeer. Im von der AfD-Gefahr gebeutelten Vorwahldeutschland mag das eine wichtige Botschaft sein – weil aber die Figur der Farah genauso blass und leer bleibt, wie die deutsche Familie, wirkt das, was die zentrale Tragödie des Films hätte sein sollen, bloß wie eine weitere Metonymie schlechten europäischen Gewissens.

Michel Francos Wettbewerbsbeitrag Dreams geht das Thema um einiges subtiler an: Hier versucht Jennifer (Jessica Chastain), die für die Stiftung ihres steinreichen Vaters arbeitet, ihre Leidenschaft für den mexikanischen Tänzer Fernando (Isaac Hernández) mit ihrem Ruf als gefühlskalte Geschäftsfrau, für die Wohltat ein knallhartes Geschäft ist, zu vereinbaren. Als Fernando jedoch die mexikanische Grenze überquert, um an ihrer Seite zu sein, gerät Jennifers Leben aus den Fugen. Den leidenschaftlichen Sex will sie zwar nicht aufgeben, so ganz möchte sie ihre Beziehung zu einem weitaus jüngeren Geflüchteten in der Öffentlichkeit aber auch nicht ausleben – um Fernando vor der Abschiebung zu wahren, oder weil sie sich schämt, mit jemanden zusammen zu sein, der nicht den gleichen sozialen Stand hat wie sie? Michel Francos Film stellt die heikle Frage, was für Fernando schädlicher ist: die spendable Gleichgültigkeit des Vaters oder Jennifers (auch für sie selbst) undurchsichtige Empathie.

Auch in Rebecca Lenkiewiczs Verfilmung vom Deborah-Levy-Roman Hot Milk geht es um den Ausbruch aus der Einsamkeit. Der Einstieg ist toll: Am Strand beobachtet Mutter Rose (Fiona Shaw) einen grobschlächtigen Typen und erklärt ihrer Tochter Sofia (Emma Macley) abwertend, es gäbe einen guten Grund, wieso man männliche Bräutigame „grooms“ nenne. Sofia steht unter der Fuchtel dieser grimmigen, unter einer seltenen Erkrankung leidenden Mutter, die in Almería einen Wunderheiler aufsucht. Während eine Art Schachbrettturnier der Scharlatane zwischen der hypochondrischen Rose und Arzt Gomez beginnt, lernt Sofia die geheimnisvolle Irene (Vicky Krieps) kennen. Die leidenschaftliche Affäre zwischen den beiden stößt sich jedoch an Sofias Eifersucht, beziehungsweise an Irenes polyamouröser Freizügigkeit. Anstatt Soziologie zu studieren und Margaret Mead zu lesen, solle Sofia sich lieber, so Irene, selbst analysieren. Hot Milk erstickt mitunter in seinem formalen Korsett, aus dem sich Lenkiewicz ebenso wenig befreien kann, wie Sofia von der dominanten Mutter. Filmsprachlich überzeugen das Wechselspiel zwischen Traumwelt und Realität und die fragmentierten Sequenzen durchaus, die Figurenzeichnung bleibt allerdings so schemenhaft, dass man keinerlei Bezug zu den Figuren bekommt. Vicky Krieps spielt in mittlerweile etwas abgedroschener Manier eine selbstbestimmte Frauenfigur, Emma Mackey oszilliert ziellos zwischen mütterlichem Gehorsam und dem Lockruf sexueller Entfesselung. Weil alles auf das furiose Finale hinausläuft, erhält man den Eindruck, die 90 Minuten davor hätten auch auf Kurzfilmlänge komprimiert werden können, ohne dass man wahnsinnig viel von dem, was man vorher gesehen hat, vermisst hätte.

Ansatzweise ähnlich interessant ist Lucile Hadžihalilovićs La Tour de Glace, eine Variation auf Hans Christian Andersens Die Schneekönigin, bei der die Figur des Jungen aus dem Hypotext entfernt wurde: Hier flüchtet die Teenagerin Jeanne (Clara Pacini) von Zuhause und findet Unterschlupf in einem verlassenen Haus, das sich zufällig als Drehort einer Verfilmung der Schneekönigin entpuppt. Dort arbeitet sie erst als Statistin, bis sich die launische Filmdiva (Marion Cotillard) für sie begeistert und ihr nach und nach einen höheren Stellenwert in der Produktion sichert. Wie in Hot Milk versucht die weibliche Hauptfigur, aus ihrem Milieu auszubrechen; wie in Hot Milk findet sie ein weibliches Vorbild, in dessen toxischen Bann sie gerät – und wie Hot Milk funktioniert La Tour de Glace eher auf ästhetischer als auf semantischer Ebene, weil das narzisstische Spiegellabyrinth, in dem Cotillards Diva sich und ihre Protégée einsperrt, recht schnell redundant wird.

Flüchten tut auch Ari, die namensgebende Hauptfigur aus Léonor Serrailles drittem Spielfilm. Ari ist ein dünnhäutiger Lehrer, der während einer Unterrichtsstunde eine Panikattacke erleidet und zusammenbricht. Vom Arbeitervater vor die Tür gesetzt, beginnt für Ari eine Art Roadtrip – er übernachtet bei alten Freunden, zu denen er den Kontakt abgebrochen hatte. Eine Freundin camoufliert ihre Depression als Weltschmerz, ein früher bester Freund ist nun reaktionär und klagt hasserfüllt über das Selbstmitleid der Linken. Der dünnhäutige Ari kontert mit seiner Verletzlichkeit – und rebelliert mit Empathie gegen politische und emotionale Abgründe. Das hätte auch arg kitschig werden können, wäre nicht Serrailles sensibles, an Éric Rohmer erinnernde Inszenierung und Andranic Manets verblüffendes Spiel.

Eine Außenseiterin ist auch Tereza: Im Brasilien von Gabriel Mascaros toller brasilianischen Wettbewerbsdystopie O último azul werden Menschen über 75 in eine Kolonie (sprich: ein Ghetto) deportiert, wo sie unter staatlicher Kontrolle ihren Lebensabend genießen und so ihren sich todarbeitenden Töchtern und Söhnen nicht zur Last fallen sollen. Die meisten freuen sich auf diese Kontrollabgabe und neue Freiheit, doch die 77-jährige Tereza empfindet diese Maßnahme zurecht als freiheitsraubend – und möchte sich einen alten Traum erfüllen. Weil Brasilien nur so von Behörden wimmelt und jede finanzielle Transaktion von ihrer Tochter genehmigt werden muss, flüchtet sie an Bord eines von einem Ganoven manövrierten Kutters – und lernt während ihrer Expedition an den Rändern einer ausschließlich auf Produktivität getrimmten Gesellschaft unter anderem die Tugenden eines halluzinogenen blauen Schneckenspeichels kennen.

Den Ruhestand gönnen auch Hélène Cattet und Bruno Forzani ihrer Hauptfigur nicht. In der durchgeknallten Films Fauves Produktion Reflet dans un diamant mort hat sich John D auf die Côte d’Azur zurückgezogen und würde dort in seinem weißen, an Viscontis Aschenbach erinnernden Dandykostüm seinen Lebensabend genießen – wären da nicht Vorfälle, die ihn an seine Vergangenheit und seine Rivalität mit Serpentik, der Frau mit den unzähligen Gesichtern, erinnern würden. Reflet dans un diamant mort ist abgedrehtes Metakino, das bis zum Bersten voll ist mit Referenzen an Fantomas, James Bond, Mission Impossible, Kill Bill, und dessen Handlung durch ein Feuerwerk an Metalepsen, Mises en abyme und weiteren stilistischen Kniffen eine surreale Collage ertstellt. Dass man hier nicht alles versteht, ist aber gänzlich egal: Der Geheimagentenmythos wird so präzise dekonstruiert, dass es einiges an Blutvergießen und herumliegenden Körperglieder benötigt, um ohne moralischen Zeigefinger hervorzuheben, wie viel toxische Männlichkeit und Konditionierung zur Virilität in diesem Genre steckt.

1 Irgendwie musste der Titel, den ich anfangs als Referenz an Philip K. Dicks

Jeff Schinker
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