Der Geschäftsfundus einer konservativen Partei ist die Sicherheit. Ihre Finanzminister versprechen ökonomische Sicherheit, indem sie jeden Euro hausväterlich zweimal umdrehen wollen. Im Schutz von Polizeipatrouillen und Überwachungskameras versprechen ihre Innenminister innere Sicherheit. Ihre Verteidigungsminister versprechen äußere Sicherheit und schicken deshalb Hummer und Dingos an den Rand der zivilisierten Welt.
Wie groß muss also das politische Fiasko sein, wenn der für seinen „sicheren Weg“ gewählte CSV-Premier am Dienstag die Lage der Nation vor dem Parlament beschreiben sollte und eingestehen musste, dass „wir in anormal unsicheren Zeiten leben. Die Unsicherheit ist global, sie ist kontinental und sie ist national.“
In diesem universellen Chaos kann sich der mehr denn je wild mit Metaphern ringende Premier, der „die Sonnenbrille abnehmen“ will, um „ein starkes Zukunftsseil zu knüpfen“, nicht einmal sicher sein, ob die 2008 offen ausgebrochene Finanzkrise nicht auch die Krise eines Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells ist. Jenes Modells, das schon vor 30 Jahren die Goldenen Dreißiger der fordistischen Massenproduktion und Massenkonsumption ablöste. Deshalb verlor Jean-Claude Juncker keine Zeit mit Betrachtungen zu gesellschaftspolitischen Fragen oder politischen Perspektiven: Es geht ums Eingemachte, die Zukunft der Wirtschaft und der Europäischen [-]Union.
Während sämtliche Politiker, Gewerkschafter und mittelständischen Unternehmer noch immer dem Nachkriegs-Keynesianismus nachtrauern, geht in Wirklichkeit vielleicht schon das neoliberale Modell zu Ende, das ihn in den Achtzigerjahren, nach der gro[-]ßen Stahlkrise und den autofreien Sonntagen, ablöste. Denn die Finanzkrise zeigt seit 2008, dass der Markt versagte, als seine unsichtbare Hand anstelle des Staats systemrelevante Banken regulieren sollte; dass die Senkung der Lohnquote nicht dauerhaft durch die private und öffentliche Verschuldung ausgeglichen werden kann, um Häuser, Autos und Flachbildschirme zu kaufen oder den Staat funktionieren zu lassen.
Dabei hatte gerade die Deregulierung der Kapitalmärkte hierzulande für ein ungeahntes Anschwellen des Finanzplatzes und so für neue Goldene Dreißiger gesorgt. Die dadurch rapide steigenden Steuereinnahmen konnten sogar den Sozialstaat weiter finanzieren und damit, anders als in den Nachbarstaaten, die sozialen Kosten von Deregulierungen, Privatisierungen und globalem Wettbewerb ausgleichen. So dass sich manche Mitbürger noch heute in den Goldenen Nachkriegs-Dreißigern wähnen.
Gerade das bringt Luxemburg aber in eine unbequeme Lage. Für Jean-Claude Juncker war es „evident, dass wir auf globaler Ebene und in Europa weitere Fortschritte bei der Regulierung der Finanzmärkte und der Finanzindustrie brauchen“. Er sprach Wählern und Industrie aus dem Herzen, wenn er über „den Unverstand und die ungenierte Geldgier“ der Finanzindustrie schimpfte. Um dann der Finanzindustrie aus dem Herzen zu sprechen und zu bezweifeln, dass die noch vor wenigen Monaten von ihm verlangte „Finanztransaktionssteuer ein richtiges Instrument“ sei.
Schließlich hat Luxemburg Sorgen genug mit der neuen Regulierung in Europa, etwa wenn ab 2015 die TVA-Einnahmen aus den Amazon- und Ebay-Geschäften entfallen. Dann will Juncker „nicht ausschließen“, dass die nächste Regierung eine allgemeine Erhöhung des Mehrwertsteuerregelsatzes (15 Prozent) „in Richtung des TVA-Durchschnitts der Euro[-]päischen Union“ (20,7 Prozent) vornimmt. Dabei soll die nächste Koalition aus CSV und LSAP oder vielleicht lieber doch DP oder, weshalb nicht, Grünen schon nach der Abschaffung der automatischen Indexanpassungen auch die derzeit manuellen Anpassungen beenden.
Die Widersprüchlichkeit und also Ratlosigkeit bei der Beschreibung der Lage der Nation ist nachvollziehbar. Denn selbstverständlich hat Luxemburg größeres Interesse als andere Staaten daran, dass das Euro-System statt der Mitgliedsstaaten die Banken kostenlos liquide hält, dass die Griechen und Portugiesen ihre Staatsschuld bis auf den letzten Griechen und Portugiesen zurückzahlen. Aber gleichzeitig braucht es auch kaufkräftige Absatzmärkte für seine Industrieprodukte. Diesen Widerspruch kann das kleine Land nicht lösen, denn die große Europäische Union scheitert seit Jahren daran, so dass er nun sogar ihren Zusammenhalt gefährdet.
Unter dem Applaus von LSAP-Frak[-]tionssprecher Lucien Lux verlangte Juncker deshalb, der europäische Fiskalvertrag müsse „in seiner Substanz ratifiziert“, aber „durch eine euro[-]päische Wachstumsstrategie konsolidiert“ werden. Das ist der selbst von der deutschen Regierung gutgeheißene Rest der Wahlversprechen des neuen französischen Präsidenten François Hollande. Selbst wenn niemand an den Erfolg solcher Maßnahmen glaubt, war diese Woche so gut wie das ganze Parlament aus Not zu Hollandisten geworden.
Ein Großteil der Erklärung zur Lage der Nation war erwartungsgemäß eine Erklärung zur Lage der Staats[-]finanzen. Wobei der Regierungschef sich aber nicht bei der Frage aufhielt, wieso das Defizit zunimmt, und schon gar nicht damit, wer die politische Verantwortung dafür übernimmt, dass die Staatsfinanzen vom sicheren Weg abgekommen sind. Juncker versuchte seine Wähler über die „Konsolidierungpaket“ genannten und schon vor einer Woche nach Brüssel gemeldeten Steuererhöhungen und Einsparungen hinwegzutrösten, indem er sich über die „monströsen Gehälter“, die „Spitzengehälter der Manager“ aufregte und Meinungsverschiedenheiten im Unternehmerdachverband UEL über die Vorruhestandsregelung bei Arcelor-Mittal hervorhob. Dafür fehlte aber die vor 14 Tagen angekündigte Mindeststeuer für Unternehmen schon wieder in seiner Aufzählung.
Dass eine Epoche zu Ende geht, lässt sich nicht nur am Ende der automatischen Indexanpassungen, sondern auch des Luxemburger Modells des Sozialdialogs ablesen. Juncker forderte die Unternehmer auf, „den Sozialdialog ernster zu nehmen“, und rief die Gewerkschaften auf, „zurück an den Verhandlungstisch“ zu kommen. Wenn die Sozialpartner sich wie „Porzellanhunde“ anstarrten „und nicht mit der Regierung reden wollen, gehen wir schweren Zeiten entgegen“. Doch das ehemalige Zauberwort „Tripartite“ kam kein einziges Mal mehr in seiner fast zweistündigen Ansprache vor.
Wenn tatsächlich die Tage des neoliberalen, von der Finanzindustrie beherrschten Regulationsmodells gezählt sind, können oder wollen sich die wenigsten ein Nachfolgemodell vorstellen. Der Premier wiederholte noch einmal: „Wir müssen aus der Abhängigkeit vom Finanzsektor heraus. Wir wollen das dadurch machen, dass wir die Souveränitätsnischen, die wir haben können, weiter ausbauen. Wir wollen das vor allem dadurch machen, dass wir uns neue Kompetenznischen suchen.“ Die LSAP musste sich in diesem Zusammenhang „Provinzialismus im Kopf“ vorwerfen lassen, weil ihr beim wiederholten Rückgriff auf Kapital aus dem Katar mulmig wird.
Die europäische Integration ist seit Jahrzehnten das dominierende politische, ökonomische und kulturelle Projekt aller fortschrittsgläubigen Regierungen, um die nationale Souveränität abzusichern, Absatzmärkte zu gewährleisten und der provinziellen Rückständigkeit zu entkommen. Deshalb müsse Luxemburg „sich immer mit an die Spitze der europäischen Integra[-]tionsbewegung stellen“, dekretierte Jean-Claude Juncker noch einmal. „Unser natürlicher, unser logischer und unser erzwungenermaßen notwendiger Platz ist dort, wo Europa stattfindet. Sonst fallen wir aus der Wirklichkeit von morgen heraus. Euro[-]pa ist ein wesentlicher Bestandteil der Luxemburger Staatsräson.“
Doch die europäische Integration steckt in einer Sackgasse, und Jean-Claude Juncker, einst der nationale Stolz als „Mister Euro“, ist zu ihrem weitgehend hilflosen Zeugen geworden. So bleibt ihm nichts Anderes übrig, als sich blind zu stellen für die Enttäuschung seiner Wähler angesichts des europäischen Traums. Wer die Fixierung der zunehmend von Deutschland dominierten Euro[-]päischen Union auf die Entfesselung der Marktkräfte, auf Austerität und Rezession beanstandet, wird deshalb umgehend einer „polemisch unsachlich geführten Auseinandersetzung“ verdächtigt.
Dass der Premier, die Regierung inmitten all der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen, der Krisen und Defizite mit ihrem Latein am Ende sind, selbst wenn Griechenland unter geordneten Bedingungen den Euro-Raum verlässt und Spanien nicht Konkurs anmeldet, machten die poetischen Beschreibungen und unverbindlichen Aufrufe in der Erklärung zur ungewissen Lage der Nation nur zu deutlich. Die Sprecher anderer Parteien wurden zwar nicht müde, dem Premier vorzuhalten, er biete keine politischen Perspektiven, lasse „keinen Ruck“ durch die Nation gehen, er wiederhole bloß leere Versprechen und biete kein „Zukunftspaket“. Aber selbstverständlich wären sie ebenso rat- und machtlos, würden von ihnen die konkreten Perspektiven verlangt, die sie von der Regierung forderten. Am Ende seiner Erklärung wich Jean-Claude Juncker deshalb von seinem Redetext ab und improvisierte verzweifelt einen neuen Schluss: „Vielleicht hilft uns das junge Glück des Erbgroßherzogs, dass wir uns selber näher kommen.“