Das schwache Geschlecht ist der Mann: In der Bildung haben die Mädchen die Jungen überholt. Das liegt auch an einer Schule, die nicht genügend auf Jungen eingeht

Jungenprobleme

d'Lëtzebuerger Land du 04.09.2015

Im Juni schlug das Bildungsministerium Alarm: Nachdem die Rate der Schulabbrecher in den vergangenen Jahren auf gut neun Prozent gesunken war, stieg sie zwischen 2012 und 2103 erstmals wieder auf elf Prozent. Das Profil des typischen Schulabbrechers: sozial benachteiligt, lernschwach und männlich. Meisch machte sich Sorgen vor allem um den Negativtrend; auf die Tatsache, dass es Jungen besonders trifft, ging er nicht näher ein.

Dabei ist das nicht das erste Warnzeichen dafür, dass Jungen in der Schule zunehmend krisenhafte Zeiten durchleben: Mädchen sind im Classique seit Jahren überrepräsentiert, während die Jungen wiederum überdurchschnittlich oft im Préparatoire – und damit auf der niedrigsten Schulstufe – anzutreffen sind. Jungen brauchen länger zum Lernen, sie wiederholen über die gesamte Schullaufbahn häufiger als Mädchen (45,6 Prozent). Sie stellen die meisten Teilnehmer an Förderprogrammen wie den Classes mosaïques (2012: 52 Mädchen und 143 Jungen). In der École de la deuxième chance sind Jungen stärker vertreten. Besonders besorgniserregend: Bei ihnen wird mehr als doppelt so häufig ein sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt.

Der erste Bildungsbericht der OECD mit Fokus auf den Geschlechtern vom März dieses Jahres (ABC of Gender equality in education: aptitude, behaviour and confidence) bestätigt den desolaten Eindruck: Jungen sind die Bildungsverlierer von heute. Mädchen haben in fast allen Bereichen aufgeholt und die Jungen sogar überholt. Eine Ausnahme bildet die Mathematik, wo die Jungen, in Luxemburg zumindest, noch einen kleinen Leistungsvorsprung haben.

Bloß, wie lange noch? Jungen seien insgesamt weniger motiviert zu lesen, so die OECD-Studie weiter. Lesen gilt aber als Grundstein für das weitere Lernen und um sich andere Fächer und Disziplinen zu erschließen. Die Mädchen haben ihre männlichen Klassenkameraden insbesondere bei den Sprachen und bei den Lesekompetenzen abgehängt.

All dies ist eigentlich sattsam bekannt, doch bildungspolitische Konsequenzen, die gezielt das Geschlecht berücksichtigen, erfolgen daraus kaum. Gab es früher hierzulande zumindest vereinzelt Ansätze, wo sich Erzieher und Sozialpädagogen um einen „gendersensiblen“ Unterricht bemühten, ist von solchen Initiativen kaum mehr etwas zu hören. Das Lehrerinstitut in Walferdingen bietet zwar eine Hand voll Weiterbildungen an, etwa zum „Rangeln und Raufen als Thema der sozial-emotionalen Entwicklungsförderung“. Doch während Kurse zu Mediation und Gewaltprävention bei Jungen seit vielen Jahren eine feste Größe im Programm und gut besucht sind, ist das Lehrerinteresse an Weiterbildungen zur „Vielfalt des Lernens“ oder „Kann denn Lesen männlich sein?“ eher mau. Eine koordinierte Strategie, um dem wachsenden Bildungsgefälle zwischen den Geschlechtern beizukommen, gibt es nicht.

Dabei machen sich Bildungswissenschaftler durchaus Gedanken darüber, wie der Schere zwischen Mädchen und Jungen in der Schule beizukommen ist. Eine Studie mit dem sperrigen Titel School alienation, patriarchal gender-role orientations and the lower educational success of boys, die international Aufmerksamkeit erhielt, stammt von der Uni Luxemburg. Dort haben Forscher untersucht, inwiefern Leistungsunterschiede zwischen Jungen und Mädchen mit Rollenstereotypen zusammenhängen. Ihr Fazit: Jungen mit traditionellem Rollenverständnis, die überzeugt sind, dass Männer Frauen „führen sollen“, tun sich schwerer mit dem Lernen, sie stören öfters den Unterricht und sind weniger motiviert zu lernen. Grundsätzlich beeinflussen stereotype Rollenvorstellungen die Leistungen von Mädchen und Jungen gleichermaßen negativ, doch bei Jungen sind diese Klischees weiter verbreitet. Außerdem zeigten Jungen deutlich weniger Interesse an der Schule, entsprechend schlechter waren ihre Noten. Medien griffen die Studie auf, eine Diskussion unter Lehrern und Pädagogen erfolgte daraus aber nicht.

Dass die Lernmotivation von Jungen geringer ist als die der Mädchen, ließ sich aus vorigen Pisa-Bildungsstudien herauslesen. Laut der Wohlbefindlichkeitsstudie von 2010 der Weltgesundheitsorganisation ist aber in Luxemburg die Schule besonders unbeliebt: Nur acht Prozent der Mädchen und zwölf Prozent der befragten 15-jährigen Jungen gehen „sehr gerne“ in die Schule, Luxemburg rangiert damit weit unten auf der Liste der 38 untersuchten Staaten. Doch was die Null-Bock-Haltung fürs Lernen bedeutet, inwiefern diese mit einer ungenügend reflektierten und unangepassten Unterrichtspraxis zusammenhängt, davon ist bisher wenig die Rede. Geht es um die schlechteren Bildungschancen von Jungen, dann wird in einem ersten Reflex oft auf den hohen Anteil an Frauen in den Schulen und insbesondere in der Grundschule hingewiesen. Von insgesamt 8 766 Lehrern sind 5 808 weiblich, Männer machen in der Grundschule gerade einmal 24 Prozent aus.

Eine Analyse der Klassenwiederholer im Luxemburger Bildungsbericht 2015 belegt jedoch: An einer ungerechten Behandlung durch einen weiblich dominierten Lehrkörper liegt es eher nicht. Zeigen Mädchen und Jungen dieselben Leistungen, werden sie vom Lehrpersonal in der Regel auch gleich bewertet. Die These, dass Lehrerinnen Jungen diskriminieren, sie gewissermaßen dafür abstrafen, dass sie stören, weniger lesen oder im Unterricht schlechter aufpassen, ist empirisch nicht haltbar.

Bleibt die Frage, was tun, um zu verhindern, dass Jungen nicht noch mehr abgehängt werden. Hirnforscher wie der Göttinger Professor Gerald Hüther betonen die unterschiedlichen biologischen Voraussetzungen beider Geschlechter: Bei Jungen findet die Hirnentwicklung wegen des Testosterons unter anderen Rahmenbedingungen statt. Sie haben einen stärkeren Antrieb, sich zu konzentrieren, falle ihnen daher schwerer. Das Gehirn bei den Mädchen reift früher und verschafft ihnen Vorteile beim sprachlichen Aufgaben, Jungen haben dagegen Vorteile im verbal-räumlichen Denken. Die Unterschiede sind allerdings nicht so groß, dass sie zwangsläufig zu unterschiedlichen Leistungen führen müssen. Wichtiger ist es, wie Lehrer und Eltern mit den Unterschieden umgehen, inwiefern sie sie betonen oder sie versuchen auszugleichen.

Die Forscher der Luxemburger Studie empfehlen einen „autoritativen“ Unterrichtsstil, also mehr auf den individuellen Schüler zugeschnitten, mehr Struktur und klare Vorgaben, aber auch mehr Offenheit und Verständnis sowie mehr Kontrolle bei den Hausaufgaben. Und dafür weniger Zeit an der Videokonsole und vor dem Computer. Laut der Weltgesundheitsbehörde sitzen Jungen hierzulande doppelt so häufig vor dem Computer oder der Spielkonsole wie Mädchen. Mit dramatischen Folgen: Nur wer einen ordentlichen Schulabschluss vorweisen kann, wird sich auf dem Arbeitsmarkt durchsetzen können.

Das Spätzünden in der Schule kann eine regelrechte Abwärtsspirale in Gang setzen. Denn auch in der Berufswelt geraten Männer allmählich ins Hintertreffen. Sicher, nach wie vor gehen mehr Männer als Frauen einer Erwerbsarbeit nach, sie bekommen für die gleiche Arbeit mehr Lohn, sie dominieren in den Führungsetagen. Doch Frauen holen auch hier auf. In Luxemburg stieg die Erwerbstätigkeit der 37-Jährigen 2001 von 65,3 auf 77,8 Prozent im Jahr 2011. Gleichzeitig liegt die Arbeitslosenquote trotz der anhaltenden Nachfrage an Arbeitskräften, in den vergangenen Jahren bei rund sieben Prozent. Unter männlichen Jugendlichen ist sie fast doppelt so hoch.

Von den Arbeitslosen fällt jenen mit schlechtem oder gar keinem Schulabschluss der Weg in die Erwerbstätigkeit besonders schwer. Sie machen über die Hälfte, rund 54 Prozent der bei der Adem eingeschriebenen Arbeitsuchenden aus, wobei Männer hier deutlich stärker vertreten sind als Frauen. Sich weiterzubilden ist wahrscheinlich das beste Mittel, um den Sprung zurück in die Arbeitswelt zu schaffen. Unternehmen wollen gut qualifizierte Fachkräfte, die Ansprüche an die Aus- und Weiterbildung steigen. Gute Voraussetzungen also für Frauen, die auch bei den Universitätsabschlüssen aufholen.

Für viele Männer ist das insofern eine gefährliche Entwicklung, als sie nicht mehr davon ausgehen können, diesen Konkurrenzkampf zu gewinnen. Zumal die Wirtschaft ganz allmählich die Kräfte der Frauen entdeckt. Analysen jüngerer Alterskohorten der Beschäftigten des Tätigkeitsberichtes des Ministeriums für den öffentlichen Dienst zeigen zudem, dass im Staatsdienst, in den nur kommt, wer den Sprachtest besteht, Frauen in fast allen Bereichen auf dem Vormarsch sind, mit Ausnahmen hartnäckiger Männerdomänen, wie dem technischen Dienst, dem Militär oder der Forstverwaltung. Damit gerät das Bild des Mannes als dem Haupternährer, dessen Einkommen die Familie hauptsächlich trägt, weiter ins Wanken.

Gleichzeitig schrumpft der Niedriglohnsektor seit vielen Jahren. Der ehemalige Industriestandort Luxemburg hat sich längst zu einer Dienstleistungsgesellschaft gewandelt – mit den entsprechenden Folgen. Arcelor-Mittal, einst der größte Arbeitgeber in Luxemburg, sank die Zahl der Beschäftigten von rund 30 000 im Jahre 1991 auf nunmehr 4 260. Dafür legen Unternehmen in weiblich dominierten Bereichen wie der Pflege oder Kinderbetreuung rasant zu. Die Versprechen der Politik, mehr Stellen für gering Qualifizierte etwa in der Logistikbranche zu schaffen, wurden bisher nicht eingelöst. Auch dort müssen sich die Bewerber auf eine harte Konkurrenz durch Arbeitskräfte aus der Großregion einstellen, die oft günstiger sind. Was die wachsende Bedeutung einer guten Grundausbildung zusätzlich unterstreicht.

Und trotzdem wird auf die männlichen Sorgenkinder nicht systematisch eingegangen und ihre Entwicklung ihnen selbst, den Eltern und dem Zufall überlassen. Wo sind die pädagogischen Konzepte und Initiativen, die gezielt bei den Jungen ansetzen? Stattdessen tummeln sich immer mehr Bildungsverlierer in Beschäftigungsinitiativen und drehen Ex-trarunden in Weiterbildungsmaßnahmen.

Wahrlich keine rosigen Aussichten für lernschwache Jungen, von denen immer mehr in Ein-Elternfamilien aufwachsen. Mittlerweile wachsen über 16 Prozent der Jungen und Mädchen ohne beide Eltern auf, oft bei der Mutter. Dass muss nicht per se ein Nachteil sein, vor allem wenn die Beziehung der Eltern konfliktreich ist. Aber zum einen müssen insbesondere alleinerziehende Mütter mit deutlich weniger Einkommen auskommen als herkömmliche Familien. Mehr als die Hälfte der Alleinerziehenden kämpft laut Statec mit finanziellen Problemen, das Armutsrisiko ist entsprechend hoch.

Zum anderen wirft die Abwesenheit der Väter die Frage nach den männlichen Vorbildern für Jungen (und Mädchen) auf, sowie die nach der Beziehung zwischen den Geschlechtern allgemein. Manche gehen sogar so weit, eine ausgemachte Identitätskrise des Mannes festzustellen, die durch den Familienwandel, durch neue, teils widersprüchliche Rollenvorstellungen und veränderte Bedingungen in der Arbeitswelt noch befeuert würde. Wenn es aber stimmt, dass Jungen, die traditionellen Rollenvorstellungen nachhängen, schlechter in der Schule sind, und sich dies folglich auf ihren späteren Werdegang auswirkt, spricht einiges dafür, dass es in Zukunft noch mehr männliche Verlierer geben wird, die hart arbeitenden ambitiösen Frauen beruflich nicht länger das Wasser reichen können. Sofern nicht gegengesteuert wird, und insbesondere Männer sich stärker ändern.

Statt nun diesen Rollenwandel aktiv zu begleiten, ist er in der Schule und in der pädagogischen Praxis hierzulande wenig Thema. Auch die Regierung spricht gerne von neuen Familienformen, dem „modernen Mann“ und einer notwendigen „Modernisierung“ der Gesellschaft, tut aber zu wenig, um diese zu unterstützen. Sicher, heutzutage nehmen deutlich mehr Väter Elternurlaub (2013 über 1 050) als noch vor rund 15 Jahren, als es nur 90 Väter waren. Und mit der geplanten Reform des Elternurlaubs könnten es mehr werden. Obwohl die Anhebung des Elterngelds auf bis maximal 3 200 Euro nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein dürfte. Bei den Wohnungspreisen wird kaum eine Familie auf das höhere Einkommen – das häufig noch der Mann nach Hause bringt – verzichten können. In einkommensschwachen (und bildungsfernen) Familien müssen meistens beide Eltern arbeiten, um über die Runden zu kommen.

Womit sich der Kreis schließt und wir beim Ausgangspunkt wären: der Bildung. Es wird Zeit, dem Geschlechteraspekt endlich die Beachtung zu schenken, die er verdient. Nicht nur in Tabellen und Diagrammen, sondern in der Praxis.

Ines Kurschat
© 2023 d’Lëtzebuerger Land