„Es sind alarmierende Zahlen“, sagte Bildungsforscher Romain Martin im Gespräch mit dem Land – und er meinte nicht die hohe Durchfallerquote beim jüngsten Lehramtsexamen. 60 Prozent der angehenden Grundschullehrer, bei den Vorschullehrerinnen sogar rund 90 Prozent, bestanden das Examen trotz vierjährigem Unistudium nicht – ein Schock, den das Erziehungsministerium nun bis Herbst analysieren will.
Martins Sorgen beziehen sich auf etwas anderes. Vor zwei Wochen hatte das Ministerium Daten zur Orientierung veröffentlicht: Von 5 090 Schülern, die die Grundschule 2013-2014 verließen, wurde nur jeder Dritte in den Secondaire classique orientiert. Fast die Hälfte, 48,5 Prozent, bekamen eine Empfehlung für den Technique und fast 18 Prozent sogar nur eine Empfehlung für den Regime Préparatoire, in dem besonders Lernschwache unterkommen. Gleichzeitig wächst die Zahl jener Eltern, die ihre Kinder lieber in Privatschulen schicken.
Für Romain Martin ist das nichts Neues: „Das deckt sich mit dem, was wir von Pisa kennen.“ Schlüsselt man die Daten nach sozioökonomischem Status auf, landen Kinder aus bildungsfernen Familien eher im Technique als im Classique. Nirgendwo sonst in der EU hängt der schulische Erfolg so sehr vom Status der Eltern ab wie in Luxemburg. Aber noch immer wird viel zu wenig getan, um das zu ändern. Die blau-rot-grüne Koalition ist mehr als sieben Monate an der Regierung, die Bildungsdebatte jedoch praktisch zum Erliegen gekommen. Im Herbst, so versprach Erziehungsminister Claude Meisch Anfang Juli, wolle er sein Konzept zur Sekundarschulreform vorstellen. Das ist keinen Moment zu früh. Es brennt in Luxemburgs Schulen – und die Politiker scheinen das Löschen aufgegeben zu haben. Nicht einmal die CSV, die sonst jede Umgehungsstraße kommentiert, rührt sich.
Dabei ist völlig unklar, ob die bildungspolitische Rechnung der Dreierkoalition aufgehen wird. Mehr Autonomie für die Schulen lautet das Credo der liberalen Bildungspolitik. Was Claude Meisch und seine Regierungskollegen darunter verstehen und ob mehr Autonomie tatsächlich geeignet ist, um die brennenden Probleme der Bildungsmisere zu beheben, ist ebenfalls ungewiss.
Vieles spricht eher dagegen. Schon Bildungsministerin Anne Brasseur (DP) hatte mittels mehr Autonomie und gestraffter Strukturen versucht, Sekundarschulen zu mehr Innovation anzuregen. Über zehn Prozent des Stundenplans verfügen die Schulen frei, um sie mit Ideen jenseits des Lehrplans zu gestalten. Das ernüchternde Fazit: Nur wenige nutzten den erweiterten Spielraum. Als Brasseurs Nachfolgerin Mady Delvaux-Stehres Schulen bat, Vorschläge zur Verbesserung des Unterrichts zu machen, war mehr Autonomie nicht darunter. Von zwei Schulen abgesehen, schien niemand darin einen Gewinn zu sehen.
Trotzdem rief Delvaux über den Service de coordination de la recherche et de l’innovation pédagogiques et technologiques das Netzwerk Lycées pionniers ins Leben. Austausch von Best practises, gemeinsame Ansätze zur Schulentwicklung – der Gedanke, Schulen mit nachweisbaren Erfolgen in der Förderung als Speerspitze einer pädagogischen Erneuerung aufzubauen, leuchtete ein. Doch das Proci-Projekt gegen schulischen Misserfolg im untersten Zyklus des Sekundarunterrichts wurde von den Gewerkschaften bekämpft. Erst als die wissenschaftlichen Beweise des Erfolgs erdrückend waren, traute sich die Ministerin, Eckpunkte des Modellversuchs auf den gesamten Technique auszudehnen. Nicht aber auf den Classique, wo sich die Lehrervertretungen besonders energisch wehrten.
Das ist ein weiterer Grund, warum Schulreformen so schwierig sind: Viele Lehrer, Gewerkschaften und Eltern wollen den Reformbedarf nicht erkennen. Wie aber soll Schulentwicklung geschehen, wenn selbst die, die es besser wissen müssten, sich gegen Öffnung und Veränderung sperren? Der Widerstand der Gewerkschaften blieb nicht ohne Folgen. Nicht nur, dass Delvaux ihre Pläne verwässerte, übrigens gegen den Willen der Schüler- und Elternvertretungen, die DP versuchte in den Koalitionsverhandlungen, den mühsam errungenen Kompromiss zurückzuziehen. Ausgerechnet jene Zwischenstrukturen, die die pädagogische Entwicklung in den Riesenschulen koordinieren, scheint die neue Regierung in Frage zu stellen.
„Mehr Basisdemokratie“ hat Meisch versprochen – was er damit meint, weiß bis heute niemand. Sollte es bedeuten, die Lehrerkomitees zu stärken, sie mehr noch als bisher in die pädagogische Entwicklung einzubeziehen, klingt das gut, aber eine Garantie für mehr Chancengleichheit und erfolgreiche Schulentwicklung ist das nicht. Oder glaubt jemand ernsthaft, dass Megaschulen von 1 000 und mehr Kindern basisdemokratisch gesteuert werden können?
Mehr Autonomie sollen die Schulen auch bei den Methoden und der Wahl des pädagogisch-didaktischen Materials bekommen. Wenn manche Proci-Schulen nach über elf Jahren Modellversuch erst jetzt zaghafte Schritte unternehmen, einen Aufgabenpool einzurichten, damit nicht jeder Lehrer wieder bei Null anfangen muss, andere Schulen einen Aufgabenpool angelegt haben, der jedoch kaum genutzt wird, dann wirft das Fragen über die Steuerbarkeit und die Innovationsfähigkeit des Lehrkörpers auf. Dass Luxemburger Sekundarschullehrer im Ausland eine Ausbildung in einem Fach, nicht aber in Didaktik und Methodik bekommen, ist ein großes Handicap mit schweren Folgen für die Unterrichtsqualität, wie nicht zuletzt der Europarat feststellte.
Seitdem sind viele Jahre ins Land gegangen, aber welche Schlussfolgerungen erfolgten daraus? Pädagogische Freiheit wird in Luxemburg noch viel zu oft eben nicht als die Freiheit verstanden, gemeinsam den Unterricht zu verbessern, sondern eher als Abwehrhaltung, Außenstehende mögen bitte ja nicht in die eigene Unterrichtspraxis hineinreden. Nicht zuletzt aus den Reihen des sozialistischen Koalitionspartners stammt daher die Sorge, ob die Schulen, deren Leitungen teilweise weder in Organisationsentwicklung, Management noch pädagogischer Entwicklung geschult sind, gut genug aufgestellt sind, um die Impulse und Lösungen zu liefern, die das Land so dringend braucht.
In der Grundschule stehen Lehrern neben der Agence pour le développement de la qualité scolaire, die die nötigen Rahmendaten und Planungsinstrumente für den Plan de la réussite scolaire zur Verfügung stellt, Instituteurs-ressources zur Seite. Die ausgebildeten Lehrer-Trainer helfen Schulen, die sich methodisch-didaktisch weiterentwickeln wollen. Wie sehr sie gebraucht werden, zeigt die große Nachfrage: Wurden am Merscher Weiterbildungsinstitut zu Beginn der Grundschulreform 2009 zehn Instituteurs-ressources ausgebildet, werden es bis Ende 2014-2015 voraussichtlich über 30 sein. Im Sekundarschulbereich gibt es diese Expertise nicht – und sie würde von den Gewerkschaften wohl misstrauisch bekämpft. Wo aber sollen Schulen, die neue Wege gehen wollen, die nötigen Ressourcen finden? Zumal in Zeiten, da der Staat den finanziellen und personellen Gürtel immer enger schnallt? Claude Meisch hat angekündigt, das Merscher Weiterbildungsinstitut für Lehrer auszubauen. Aber bisher gibt es keinen politischen Plan, was Luxemburgs Sekundarschulen brauchen, wenn sie Meischs Vision von Autonomie und Leistung mit Leben füllen sollen.
Noch etwas unterscheidet die Sekundarschulen von den Grundschulen: Es fehlt ein Inspektorat, das darüber wacht, dass Lernziele erreicht und Ressourcen fair verteilt werden. Laut Regierungsprogramm gibt das Ministerium „allgemeine Bildungsziele via Lehrplan“ vor. Dafür sollen die Programmkommissionen professionalisiert und erweitert werden. Aber woher sollen beispielsweise neue Experten für Methodik und Didaktik plötzlich kommen?
Die Programme sind veraltet, überladen mit Fachwissen, das in der Form keiner mehr braucht. Es fehlen kompetenzorientierte Bildungsstandards im Classique – weil der sich gegen eine Einführung sträubt. Nicht einmal über die Mehrsprachigkeit herrscht Einigkeit: Vorgabe ist, dass alle Kinder die drei Landessprachen Luxemburgisch, Deutsch und Französisch lernen sollen. Nur allmählich zeichnet sich ein Konsens darüber ab, dass die Sprachanforderungen im Technique und Classique nicht dieselben sein müssen. Wie weit die Flexibilität geht, ob Schüler auf Französisch alphabetisiert oder ob eines Tages frankophone Filières kommen werden, ist nicht entschieden. Die Regierung lässt die Alphabetisierung auf Französisch prüfen. Meisch hat versprochen, sich dabei nicht von politischem Kalkül leiten zu lassen, sondern die Spracherwerbsforschung zu Rate zu ziehen. Nur wo sind die Sprachwissenschaftler, die Luxemburger Befindlichkeiten ausreichend kennen, um helfen zu können?
Seit Jahren wirbt Luxemburgs mit dem Atout Mehrsprachigkeit und doch herrscht über den adäquaten Sprachenunterricht für eine Schülerschar, von der bald die Hälfte daheim kein Luxemburgisch spricht, allgemeine Ratlosigkeit. Zehn Jahre nach ihrer Gründung ist die Bedeutung der Spracherwerbsforschung der Uni Luxemburg für den hiesigen Schulunterricht noch bescheiden. An Ideen mangelt es nicht: Eine Gruppe von Forschern wollte vor Jahren schon die Alphabetisierung auf Französisch im Modellversuch testen. Aber Delvaux traute sich nicht. Außer einem Schulversuch – die Laborschule Eis Schoul – gelangten viele Ideen nicht über das Entwicklungsstadium hinaus, bei Eis Schoul wurde der „Labor“-Charakter sogar zurückgenommen. Nur woher wollen Bildungsexperten wissen, was bei einer so heterogenen Schülerpopulation funktionieren kann, wenn nie jemand etwas Neues ausprobiert?
Bei den Koalitionsverhandlungen im Dezember seien die bildungspolitischen Vorstellungen des Koalitionspartners schwammig geblieben, kritisieren Teilnehmer. Bildungsforscher Romain Martin betont: „Wenn die Schulen mehr Autonomie bekommen, müssen sie Rechenschaft ablegen. Andernfalls bleibt unklar, ob sie die Lernziele auch erreichen.“
Selbst wenn die Schulen sich spezialisierten und mehr didaktisch-methodische Kompetenz aufbauten – das Problem der eklatanten Chancenungleichheit ist damit nicht automatisch gelöst: Wie erfahren Eltern davon, welche Schule zu ihrem Sohn oder ihrer Tochter passt? Wer wird zugelassen, und erhalten Kinder aus bildungsfernen Schichten eine faire Chance, ihren Schulwunsch zu verwirklichen? Derzeit läuft die Auswahl vor allem über die Leistungen in den Hauptfächern Sprache und Mathe – was erklärt, warum Kinder, die sich dort schwertun, im Nachteil sind. Auch die Examen für Wackelkandidaten, die dennoch den Sprung auf die höhere Schule wagen wollen, gehören auf den Prüfstand: Wenn von 116 Bewerbern nur fünf das sechsstündige Examen bestehen, dann kann es mit der „zweiten Chance“ nicht weit her sein. Wie aber wirkt sich das auf die Lernmotivation aus und wie pädagogisch wertvoll ist ein Examen, das den Wackelkandidaten alles abverlangt, um ihn doch nur zu belehren, dass er (oder sie) für den angestrebten Schulzweig nicht taugt? Die Erfahrung zeigt: Ist ein Schüler erst einmal in den niedrigeren Schulzweig orientiert, gelingt nur wenigen später der Aufstieg. Das Luxemburger Schulsystem ist nach oben kaum durchlässig. Nicht nur auf der Sekundarstufe.
Leistungstests in der Grundschule zeigen, dass schon im dritten Zyklus der Anteil der Schüler, die einen Zyklus wiederholen, bei fast 20 Prozent liegt, das Gros stellen Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern. „Wir müssen davon ausgehen, dass die Weichen für den späteren schulischen Erfolg oder Misserfolg sehr früh gestellt werden“, schlussfolgert Romain Martin. Die Grundschulreform, gedacht, um der Segregation mit Hilfe von Differenzierung und individualisierten Lehrangeboten sowie mit (kostspieliger) Unterstützung durch multiprofessionelle Teams entgegenzuwirken, hat die weit verbreitete Kultur der negativen Auslese nicht gebrochen. Stattdessen sind die Gewerkschaften und der Schulminister dabei, umstrittene Änderungen wieder zurückzunehmen, siehe Grundschulzeugnisse.
Derselbe Backlash lässt sich in anderen Ländern beobachten. Als in Kanada mit Hilfe von Wissenschaftlern das Bildungssystem generalüberholt wurde, wurde dies von einer Lobby aus Lehrern und Eltern energisch bekämpft und daraufhin teils zurückgenommen. Statt dieses Phänomen mit kühlem Kopf zu analysieren, liefert die Uni Luxemburg der jetzigen Regierung noch die Vorlage fürs Zurückrudern. Von Bildungsforschern der Uni kommt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, zu nationalen bildungspolitischen Streitfragen sonst recht wenig.
Die Dreierkoalition will die Frühförderung verbessern, um die Chancengleichheit zu erhöhen. Eine löbliche Idee, nur leider ist auch die Kinderbetreuung der sozialen Segregation nicht unverdächtig: Noch fehlen verlässliche Daten, aber vieles deutet darauf hin, dass luxemburgischsprachige Kinder eher in ressourcenstärkeren konventionierten (luxemburgischsprachigen) Kindergärten, während luso- und frankophone Kinder eher in privaten Einrichtungen unterkommen – die vielen portugiesischen Tagesmütter nicht zu vergessen.
Stimmt dies, dann wäre die Herausforderung eine doppelte: Die Politik müsste mehr in die Kinderbetreuung investieren, die pädagogische Qualität deutlich verbessern und den Zugang sozial gerechter gestalten. Die Stolpersteine sind ganz ähnliche wie in der Schule: Es fehlt an qualifiziertem Fachpersonal und an pädagogischen Konzepten, die der (sprachlichen) Heterogenität der Kinder gerecht werden. All das kostet. Claude Meisch wünscht sich bilinguale Kinderbetreuungseinrichtungen, mit Luxemburgisch und Französisch. Aber wie hilft das Kindern, die daheim Portugiesisch oder Serbisch sprechen? Fragen über Fragen, auf die Politiker und Wissenschaftler, aber auch die Schulen endlich überzeugende Antworten liefern müssen, wenn sie, wie alle Seiten beteuern, die Bildungschancen aller Kinder in Luxemburg wirklich verbessern wollen.