Es ist eine elektrisch gesteuerte Hand. Jedes Fingerglied wurde sorgfältig nachgebaut und an einen Schalterkreis angeschlossen. Über ein Schaltpult lassen sich die Finger bewegen, mit einem Surren wird die Prothese zu einer Hand, die greifen kann. Die Roboterhand haben Schüler des Athenäums gebaut und dafür einen Preis erhalten. Stolz zeigt Schuldirektor Jos Salentiny sie dem Besucher: Stunden haben die Schüler in ihr Projekt investiert, viele davon außerhalb des regulären Stundenplans. Von dort stammen auch zwei der Luxemburger Preisträger der Mathe-olympiade 2013 in Belgien.
Umso erstaunlicher ist es, dass die Schule, die Schüler nur nach einem Zugangsexamen aufnimmt, kein systematisches Förderprogramm speziell für Hochbegabte ihr Eigen nennt. „Was bedeutet hochbegabt?“, fragt Salentiny. „Wir verstehen darunter in der Regel Schüler mit einer besonderen Auffassungsgabe, die leichter lernen, denen abstraktes Denken wenig Schwierigkeiten bereitet.“ Offiziell ist Hochbegabung ein überdurchschnittlicher Intelligenzquotient von 130 und mehr. Das kann ein Indikator sein, muss es aber nicht. Erfahrungsgemäß beträgt der Anteil an Hochbegabten der Normalpopulation zwischen zwei und fünf Prozent. Der brave Streber, der auf jede Frage eine Antwort zu haben scheint, muss nicht unbedingt dazugehören: Er kann auch einfach sehr fleißig sein.
Inzwischen weiß die Forschung, dass Verhaltens-auffällige, die den Unterricht stören, dies vielleicht auch aus Langeweile tun, weil sie durch den Unterricht unterfordert sind. „Viele sind in ihrer sozialen Kompetenz eingeschränkt“, weiß Giny Deltgen vom Hochbegabtenverein Mensa und selbst Mutter eines hochbegabten Jungen.
Mitunter verbirgt sich jemand mit einer besonderen Begabung hinter dem Problemschüler im Régime préparatoire. Die nur nicht erkannt wird, weil manche Lehrer nie auf die Idee kommen, dass Schüler aus ganz unterschiedlichen Motiven in der Regelschule versagen – und nicht immer, weil sie lernschwach sind.
Mathelehrer Bernard Felten, der den Matheclub am Athenäum gemeinsam mit einer Kollegin organisiert, betreut so einen Überflieger. „Da sehe ich als Lehrer oft nur die Rücklichter“, beschreibt er die mathematische Kompetenz seines Zöglings. Diesen Mittwoch war er mit Luxemburger Schülern nach Belgien zur Matheolympiade unterwegs. „Es macht Spaß“, sagt Mathecrack Gilles Englebert. Der Schüler der 2e ist seit der 7e im Matheclub des Athenäums, liest in seiner Freizeit Mathebücher und trainiert auch sonst viel für sich selber. „Wenn mir jemand auffällt, der sich leicht mit Mathe tut, dann frage ich ihn, ob er bei uns mitmachen möchte“, erklärt Felten. Dort ist Zeit, komplizierte Matheaufgaben zu lösen und über Gleichungen mit einem viel höheren Schwierigkeitsgrad zu tüfteln, als sie der gewöhnliche Lehrplan vorsieht.
Manche Schüler, wie die Kolléisch-Schülerin Hannah Laura Runge, die den Wettbewerb der besten Französisch-Schüler im Land gewann, schreiben, spielen Musik oder Theater, programmieren Computer, wieder andere gehen für einige Monate ins fremdsprachige Ausland, sammeln dort Erfahrungen – auch weil sie das verlorene Semester dank ihrer Auffassungsgabe rasch wieder aufholen können. „Grundsätzlich versuchen wir jeden Schüler gemäß seines Potenzials zu fördern“, betont Salentiny.
Während im Ausland Schulen gezielt versuchen, Hochbegabte zu erkennen, und diese teils an Spezialschulen mit ihresgleichen unterrichten, ist das bisher in Luxemburg kaum der Fall. Sicher, jede Schule versucht Schüler zu fördern, aber regelrechte Hochbegabtenprogramme existieren hierzulande nicht. „Eine zusätzliche Förderung hängt ganz vom Engagement des Lehrers ab“, sagt Giny Deltgen. „Oft werden die Talente nicht erkannt. Schlimmstenfalls werden die Kinder in ihrer Entwicklung gebremst.“
Die internationale Bildungsstudie Pisa hat, neben der allgemein mäßigen Leistungen der 15-Jährigen Luxemburger, leider auch gezeigt: Luxemburgs Schulen tun sich schwer, selbst begabte Schüler zu Höchstleistungen anzuspornen.
Einige Schulen versuchen, talentierte Jungen und Mädchen mit Zusatzangeboten zu locken: Das kann durch Projekte sein, wie der Bau der Roboterhand am Athenäum, oder durch die Teilnahme an speziellen Kursen, die oft außerschulisch laufen. Im Lycée Echternach gibt es seit 2013 eine Klasse, in der Schüler gezielt auf die Eignungsprüfung der 39 französischen Handels- und Managementhochschulen, bekannt als Grandes écoles de commerce, vorbereitet werden.
Das private Lycée Fieldgen bietet neben Latein Altgriechisch und Chinesisch an. Weil die Sprache auf einer anderen Struktur beruht als die europäischen Sprachen gilt sie als besonders geeignet, um Hochbegabte sinnvoll zu beschäftigen. Daneben will das Fieldgen Englisch ab der 6e anbieten und, das Konzept dafür wird gerade entwickelt, der gesamte untere Zyklus auf Französisch soll angeboten werden. „Wir wollen damit gezielt unsere Frankophonen, aber auch die Luxemburger fördern, die eine Leichtigkeit mit dem Französischen haben“, sagt Koordinatorin Isabel Wiseler.
Die Luxemburger Sektion der internationalen Hochbegabtenvereinigung Mensa, die regelmäßig Intelligenztests für Hochbegabte organisiert, lädt am 14. Mai um 20 Uhr ins Merscher Kulturhaus gemeinsam mit dem Script zu einer Konferenz mit der Diplompsychologin Kerstin Sperber ein. Sperber leitet in Trier ein Kompetenzzentrum, das unter anderem Lehrern und Eltern Förder- und Erziehungshilfen im Umgang mit hochbegabten, aber auch mit so genannten „verhaltensauffälligen“ Jungen und Mädchen bietet. Bisher haben sich rund 150 Interessierte angemeldet. Ein anderes Seminar zum selben Thema diesen Januar am Merscher Weiterbildungsinstitut, mit dem Psychopädagogen Philippe Remy, war ebenfalls binnen Kurzem ausgebucht. „Das Thema ist am Kommen”, bestätigt Institutsleiter Camille Peping im Land-Gespräch.
Laut Grundschulgesetz von 2009 dürfen Kinder, die sich leicht mit dem Lernen tun, einen Zyklus in einem statt in den üblichen zwei Jahren absolvieren. Die Zahlen zeigen aber: Bislang wird davon zögerlich Gebrauch gemacht. Während das Wiederholen einer Klasse für viele immer noch als die Option für lernschwache Kinder gesehen wird, obwohl Bildungswissenschaftler dessen pädagogischen Sinn bezweifeln, scheint es für dem umgekehrten Fall, das begabte Kind, diese Flexibilität kaum zu geben. Das Argument, das Lehrer dann oft ins Feld führen, ist die Sorge, durch das Überspringen könnten kleine Intelligenzbestien in ihrer psychologischen und sozialen Entwicklung Schaden nehmen, in der Klasse isoliert sein. „Da ist so eine gewisse Barriere bei den Schulen, viele Lehrer sehen Hochbegabung als Luxusproblem“, sagt Deltgen von Mensa Luxemburg.
Sogar Äthenäum-Direktor Jos Salentiny sieht das Überspringen einer Klasse eher skeptisch: „Das geschieht nicht oft, wir haben eher negative Erfahrungen damit gemacht. Oft bringt es mehr Schwierigkeiten für die Schüler, die in der Pubertät sind, als es ihnen bringt“, ist er überzeugt.
Diese Sichtweise ist insofern bemerkenswert, als nirgendwo sonst in Europa die Schüler weiter entfernt sind vom Regelschulalter als in Luxemburg. Der Retard scolaire liegt mit durchschnittlich anderthalb bis zwei Jahren Verspätung über dem EU-Durchschnitt. Dass in einer Klasse homogene Altersgruppen sitzen, die noch dazu auf derselben Entwicklungsstufe sind, ist also ein Mythos.
Gleichwohl ist auch Mathecrack Gilles Deltgen froh, in seiner Klasse geblieben zu sein: „Ich habe die erste Grundschulklasse übersprungen. Das war okay. Aber jetzt, im Lycée, kenne ich meine Kollegen und bin froh, bei ihnen zu bleiben.“ Das Gros, das er hinzulernt, so räumt Englebert zugleich ein, lerne er außerhalb des Regelunterrichts. In der Informatik habe ihm sein Lehrer mit den Worten: „Mach’ was du willst, aber störe nicht den Unterricht“ freie Hand beim Lernen gelassen.
Ein weiterer Grundsatz, der die Unterrichtspraxis vieler Lehrer prägt, könnte ein verbreiteter pädagogischer Irrglaube sein, der letztlich verhindert, dass talentierte Schüler gemäß ihren Begabungen gefördert werden: dass nämlich jeder Schule durch den gleichen Lehrstoff muss, egal wie gut oder schlecht er oder sie ist. „Sie müssen alle durch dasselbe Programm, sie müssen ja auch dasselbe Examen schreiben“, betont Mathelehrer Bernard Felten. Aber warum nicht innerhalb einer Klasse oder eines Kurses unterschiedliche Leistungsniveaus anbieten? „Das gibt es in Luxemburg kaum, das ist zusätzliche Arbeit. Viele Lehrer haben dafür keine Zeit oder keine Ideen, wie sie die Hochbegabten fördern können“, bedauert Giny Deltgen.