Der Prix Servais, der am kommenden Mittwoch, den 17. Juni im Merscher CNL verliehen wird, geht dieses Jahr an Pol Sax für sein Erstlingswerk U5 – an einen Autor also, den zumindest im Luxemburger Literaturklüngel bis dato kaum jemand registriert hat, und für ein Buch, das zumindest in eben jenem Luxemburger Literaturklüngel bisher kaum jemand gelesen haben dürfte. Das wird sich zum Glück in absehbarer Zeit ändern. Denn um es kurz zu machen: Das Buch ist gelb, das Buch ist gut. Nicht: „gut für einen luxemburgischen Schriftsteller“, mit welchem an sich unglaublich beleidigendem Urteil man die Ungenügsamkeit einheimischer Sprachergüsse gern mal eben wegretuschiert, sondern richtig gut, uneingeschränkt gut; man könnte auch sagen: so gut, dass es knallt. Wenn die Preisträger kommender Jahre sich am Niveau dieses Buchs messen lassen müssen, braucht man sich bald nicht mehr für das Luxemburger Aufgebot zu internationalen Buchmessen zu genieren.
Pol Sax wurde 1960 in Schifflingen geboren und lebt in Berlin, wo auch sein Roman spielt. In abwechselnden Ich-Perspektiven verwebt Sax die Schicksale seiner drei Hauptfiguren, die alle mit dem gleichen Problem zu kämpfen haben: Ihre jeweiligen Lebenspläne haben sich auf tragische Weise zerschlagen. Der Künstler Paul hatte sich auf ein erfülltes Familiendasein eingestellt, doch durch eine Verkettung von Ereignissen, für die er sich später die Schuld geben wird, kommt seine hochschwangere Frau bei einem Unfall ums Leben. Barbara hingegen ist mit ihrem Bruder Peter, der gleichzeitig ihr bester Freund ist, aus der Provinz nach Berlin gezogen. Zunächst arbeiten beide in belanglosen Jobs, dann schreibt sich Peter an der Universität ein, um Medizin zu studieren. Wenig später aber wird seine Krebserkrankung festgestellt. Um eine neue Behandlungsmethode finanzieren zu können, sieht Barbara keine andere Möglichkeit, als sich zu prostituieren. Der gutaussehende, hochsensible Heinrich schließlich hat mit Paul zusammen die Kunsthochschule besucht. Als ein Dozent seine Videokonstruktionen rundweg als „Scheißdreck“ tituliert, rastet Heinrich aus. Er verkapselt sich in einer wundersamen Eigenwelt, in der es ihm zum Beispiel mit einer verkorksten Selbstverständlichkeit möglich erscheint, zu Fuß und mit nur einem Rucksack voll Kühlschrankresten bepackt, in die Taiga auszuwandern.
Ein paar Zufälle, die in einer Weise zusammenkommen, dass das Leben dadurch nahezu wie Fatum aussieht, führen Paul, Barbara und Heinrich zusammen und lassen eine Konstellation von Abhängigkeiten zwischen ihnen entstehen: Paul verliebt sich in Barbara und fühlt sich von Heinrich bedroht, Heinrich liebt Barbara auch – freilich auf seine eigene, verschrobene Weise und sucht Zuflucht bei Paul, wenn sie nicht verfügbar ist. Paul vermittelt Barbara ein Gefühl der Geborgenheit und Stabilität, während sie aber nur im Zusammensein mit Heinrich ihre Sorgen loslassen kann.
Das erste, was an U5 auffällt, ist die sorgfältige und elegante Komposition, die auch die Jury des Prix Servais in der Begründung der Preisvergabe ausdrücklich hervorhebt. Im Repertoire von Pol Sax ist kein Raum für Geschwätz; die einzelnen Episoden sind lückenlos miteinander verzahnt, jeder Gedankengang ist notwendig und folgerichtig. Dass die Struktur dabei nicht durchschimmert und der Roman keine Sekunde lang schematisch wirkt, ist nur eine seiner vielen bewundernswerten Qualitäten. Zwar besteht der Text aus einem dichten Geflecht literarischer Referenzen, doch hütet Sax sich davor, sie dem Leser aufs Auge zu drücken. Er ist kein Angeber, der es nötig hätte, mit dem Umfang seiner Bibliothek zu prahlen.
U5 kann man ganz gut lesen, wenn man das mittelalterliche Epos vom Armen Heinrich des Hartmann von Aue nicht kennt, und über Heinrichs kurzzeitigen Aufenthalt in einer Mülltonne wird man auch schmunzeln, wenn man den Fingerzeig auf Becketts Endspiel übersieht. Besonders sympathisch aus Luxemburger Sicht wirkt die Verneigung vor Roger Manderscheids Künsterroman Kasch; ähnlich wie Manderscheids Protagonist, der Bildhauer Luc Freilinger, macht sich Paul mit lebensgroßen, anthropomorphen Holzskulpturen einen Namen. Diese intertextuellen Verweise kann man bemerken und sich über ihre kluge Anbringung freuen, doch man muss sie nicht sehen, um den Roman mit Gewinn lesen zu können.
Schon allein die wunderbare Berliner Kaltschnäuzigkeit, mit der Sax seine Figuren sprechen lässt, bereitet eine wahre Freude. Keine Schnörkel, kein Gelaber: nur Präzision in glasklarer Sprache. Auf diese Weise kann man über Gefühle schreiben, ohne dass sie trivial wirken, und seine Figuren als glaubwürdige Vertreter der condition humaine gestalten. Anders als Hiob, das biblische Exempel, an dem sich auch Hartmann orientierte, ergeben sich Sax’ Protagonisten jedoch nicht in ihr Schicksal. An einer besonders markanten Stelle randaliert Paul gegen die Logik der Theodizee: „Es gibt keine Sauerei, die der Menschheit erspart geblieben wäre. Was für ein schrecklicher Gott muss das sein, der sich so eine Wirklichkeit hat einfallen lassen?“
Pol Sax rüstet seine Handlungsträger mit einer gehörigen Portion Überlebenswillen und Hoffnungsbereitschaft aus. Obwohl ihre Lebensentwürfe an den Widrigkeiten der Welt zerschellen, verlieren sie nicht den Glauben an Auswege und Alternativen, an die bloße Möglichkeit künftigen Glücks. Doch sie kämpfen gegen etwas an, das sie nicht bewältigen können – das Leben in seiner ganzen Absurdität und Unwegsamkeit; sie sind, mit einem Wort von F. Scott Fitzgerald, „boats against the current“, die sich von ihrer Vergangenheit nicht lösen können. Von der Fürsorge für seine Figuren, die man ihm allenthalben anmerkt, lässt sich der Autor nicht dazu verführen, ihnen ein märchenhaftes Ende anzudichten, wo alles wieder gut würde. Anders als sein literarisches Vorbild Hartmann lässt Sax diese Figuren nicht in einer glücklichen Zukunft ankommen: Die fiktionale Wirklichkeit ist nicht besser als das Leben; sie bietet keine Erlösung.
U5 ist der beste Roman eines Luxemburgers seit langem und auch unabhängig von der Herkunft des Autors absolut empfehlenswert. Wer dieses Buch nicht liest, ist selber schuld.
Pol Sax: U5. Roman; Elfenbein Verlag; Berlin, 2008; ISBN 978-3-932245-94-7; 19,90 Euro