Jean-Claude Juncker ist vom Europäischen Parlament in Straßburg zum Präsidenten der Europäischen Kommission gewählt worden. Seine Wahl mit 422 Stimmen war entgegen dem ersten Anschein kein großer Erfolg. Um gewählt zu werden, benötigte der Luxemburger die absolute Mehrheit von 376 Stimmen. Europäische Volkspartei und die Sozialisten verfügen gemeinsam über 412 Stimmen. Was nach einem klaren Ergebnis der großen Koalition aussieht, die Juncker durchgesetzt hat, stellt sich bei genauerem Blick als viel komplizierter dar.
Aus den Reihen der französischen, spanischen und britischen Sozialisten sollen nach Information der belgischen Zeitung Le Soir rund 50 Stimmen gefehlt haben. Die Liberalen haben beinahe geschlossen für den Kandidaten gestimmt, nachdem sie bis zum Abend vor der Wahl heftig um Posten gerungen hatten. Allem Anschein nach hat Juncker feste Zusagen vermieden, dennoch haben Guy Verhofstadt und seine Fraktion ihn am Ende unterstützt. Selbst von den Grünen, darunter der Luxemburger Abgeordnete Claude Turmes, sollen rund ein Drittel für ihn gestimmt haben.
Damit ist klar, dass sich Jean-Claude Juncker nicht einfach auf eine feste Koalition der beiden größten Fraktionen im Parlament stützen kann, die ihn auf den Schild gehoben haben, zu kompliziert ist die Gemengelage. Er wird sich seine Mehrheiten für seine Politik jeweils suchen müssen, vorausgesetzt, er will überhaupt eine eigene Politik vorlegen und durchsetzen. Von einer festen Koalition wie auf den nationalen Ebenen kann auf der europäischen Ebene weiterhin keine Rede sein, von einer Kommission als europäische Regierung im Umkehrschluss auch nicht. Nicht nur die britische Loyalität ist im Zweifelsfalle national überlagert, wenn nicht dominiert. Die Europaabgeordneten verfügen generell über eine nur rudimentär ausgeprägte Koalitionsdisziplin. Es kommt nicht selten vor, dass zum Beispiel kleinere Fraktionen wie die Grünen zu einem Drittel einem Gesetzesvorschlag zustimmen, ein Drittel lehnt ab und das letzte Drittel enthält sich.
Damit ist auch alles Gerede des Parlamentes, es wolle Juncker auf ein Programm verpflichten, obsolet. Das Parlament selbst kann sich über generelle Leitlinien hinaus nicht einigen. Jean-Claude Juncker hat in einer ruhigen Rede, in der er immer wieder vom Französischen ins Englische und Deutsche wechselte, zehn Punkte vorgestellt, von denen die zusätzliche Mobilisierung von 300 Milliarden Euro zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit der spektakulärste gewesen sein dürfte. Es bleibt abzuwarten, ob er bis Frühjahr 2015 ein entsprechendes Programm vorlegen kann. Im Großen wie im Kleinen wird es jetzt auf die gesamte Equipe ankommen. Juncker hat wenig Einfluss, wen er von den Mitgliedstaaten als Kommissar vorgesetzt bekommt. Mutig ist seine Ankündigung, dass er die Arbeitsweise und innere Struktur der Kommission ändern will. Wenn diese effektiv arbeiten soll, müssen Hierarchien eingezogen werden. Da die Mitgliedstaaten die vorgesehene Reduzierung der Kommissare im letzten Jahr wie immer verschoben haben, muss Juncker Senior- und Juniorkommissare einrichten, will er effektiv arbeiten, 28 Ministerien sind einfach zu viel. Sogar eine starke Außenpolitik will er durchsetzen, notfalls gegen den Rat. Den Briten hat er Verhandlungen über ihre Forderungen angeboten.
Die Ruhe, mit der Juncker im Parlament seine Vorstellungen auf höchst unaufgeregte Weise abhandelte, ließ an David Camerons Einlassung denken, dieser Mann sei alt und verbraucht. Dass man sich da ja nicht täusche! Der Luxemburger war zwar sichtlich bemüht, sowohl seine Befürworter als auch seine Gegner mit wohlgesetzten Worten einzulullen, aber klar ist auch, dass der Mann feste Überzeugungen hat. Steht er dazu, wird er sich schon allein dadurch wohltuend von der Kommission unter José Manuel Barroso abheben.
Juncker ist in Europa ein Überzeugungstäter. Daran gibt es nichts zu deuteln. Niemand muss Angst haben, dass er zum Beispiel den Briten das Tor dafür öffnen wird, die Europäische Union politisch zu entkernen. Das Gegenteil wird der Fall sein. Die Verhandlungen mit den Briten wird Juncker dazu nutzen, die Eurogruppe weiter zu konsolidieren und zu integrieren. Er war schon früh von Eurobonds überzeugt, die früher oder später kommen würden, und tritt für eine echte europäische Wirtschaftsregierung ein. Beides wären Meilensteine für ein föderales Europa. Seine angekündigte Politik der kleinen Schritte ist deshalb viel mehr vorsichtige Rhetorik als das Backen von kleinen Brötchen. Juncker will und muss die EU verändern. Einmal im Sattel wird er zeigen müssen, wie gut er reiten kann.
Der Europäische Rat konnte sich am Mittwochabend nicht auf weitere Personalentscheidungen einigen. Vor allem der Posten des Hohen Repräsentanten der Außenpolitik ist umstritten. Es ist gut möglich, dass es am Ende wieder eine Abstimmung gibt und keinen Konsens. Mit Macht drängen die osteuropäischen Staaten darauf, dass jemand gewählt wird, der ihre Interessen hart genug gegenüber Russland vertritt. Das ist auch gut so. Nichts spricht dafür, eine unerfahrene Italienerin zu berufen, nur weil Matteo Renzi die Wahlen in Italien gewonnen hat. Wenn sich Europa ändern will, dann muss sich zuallererst der Rat ändern. Europas führende Politiker müssen weniger na-tional und viel europäischer denken. Juncker muss so selbstbewusst wie möglich und so diplomatisch wie nötig gegenüber den Staats- und Regierungschefs auftreten, um eine leistungsfähige Mannschaft zusammen zu bekommen. Die Fähigkeiten dazu hat er. Ob er auch den Willen mitbringt, den Rat zur Not auch einmal am Nasenring durch die Arena zu führen, muss er erst noch beweisen.