Am 22. Januar fand in der Abgeordnetenkammer eine Aktuelle Stunde zur Wehrpflicht statt. Zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert wurde dieses Thema politisch ernsthaft diskutiert. Aktueller Hintergrund sind der Ukrainekrieg und die Herausforderungen, die er an die Nato, die EU und auch an Luxemburg stellt. Der historische Hintergrund ist die Zwangsrekrutierung unter der Nazi-Besatzung, und es sind die fast 25 Jahre ab 1944, während denen eine allgemeine Wehrpflicht galt. Im kollektiven Gedächtnis ist Erstere ein nationales Trauma. Letztere löste ein nationales Kopfschütteln aus. In jedem Fall ist Wehrpflicht ein Begriff, der bei der großen Mehrzahl der Luxemburger instinktive Ablehnung hervorruft.
Kein Wunder, dass es in der Kammersitzung zu einem Überbietungswettkampf bei der Ablehnung einer allgemeinen Wehrpflicht kam. Doch in den Äußerungen der Fraktionen gab es Nuancen. DP-Verteidigungsministerin Yuriko Backes und Generalstabschef Steve Thull hatten offenbar in einer konzertierten Aktion auf eine Wehrpflichtdebatte hingearbeitet. Die bestehenden Strukturen und Prozesse zur Personalgewinnung für die Freiwilligenarmee versagen. Bis 2030 braucht die Armee circa 300 Kräfte zusätzlich. Einerseits, um schon bestehende Personallücken zu füllen, andererseits, um das binationale Aufklärungsbataillon mit Belgien zu bilden. Dieses Projekt, das auf einer Nato-Vorgabe beruht, ist laut Verteidigungsministerin eine politische und militärische Priorität.
Weitere Schweißperlen dürfte den Verantwortlichen die Luftverteidigung auf die Stirn treiben. Eine gute Woche nach der parlamentarischen Aktuellen Stunde musste die Regierung über die Nato-Vorgabe beraten, die je eine Batterie zur Verteidigung gegen ballistische Raketen sowie zur Luftnahverteidigung fordert. Die Verteidigungsministerin hatte schon im vorigen Jahr angekündigt, dass man eine eigene Luftabwehr aufbauen wolle. In diesem Zusammenhang wird auch klar, warum CSV-Innenminister Léon Gloden und die CGDIS-Spitze zunächst verklausuliert, aber später immer deutlicher „Resilienz“ gegen alle möglichen Bedrohungen forderten, beziehungsweise ankündigten. Die Rede geht von der zunehmend sich verschlechternden geopolitischen Lage. Das bedeutet im Klartext, dass man an einem veritablen Luftschutz bastelt. Was nur folgerichtig ist: Wer Luftabwehr sagt, muss auch Luftschutz sagen.
Dass der Begriff Wehrpflicht im Herbst vergangenen Jahres auf Ablehnung stieß, war zu erwarten. Die Ministerin ruderte zurück. Doch Wehpflicht und Resilienz waren nun in der Öffentlichkeit. Im Parlament vor zwei Wochen musste zwar alles, was nicht bei drei auf den Bäumen war, als Argument gegen eine Wehrpflicht herhalten. Doch dürfte in manchen Positionen ein taktisches Verhältnis zur Wahrheit eine Rolle gespielt haben.
So enthielt die Position der CSV den Begriff der „Wehrfähigkeit“, die wieder hergestellt werden müsse. Der Abgeordnete Alex Donnersbach forderte auch „mehr Berührungspunkte zwischen Gesellschaft und Armee“ ein. Für die DP sagte Guy Arendt interessanterweise, eine Wehrpflicht sei „im Moment“ nicht nötig. Die Armee sei dafür zurzeit infrastrukturell nicht aufgestellt und mit substanziellen Veränderungen bei Personal, Struktur und Material beschäftigt. Die DP setze auf Freiwilligkeit. Der Soldatenberuf sei eine „noble Aufgabe“, die durch materielle Verbesserungen attraktiver gemacht werden müsse. Auch Arendt plädierte für eine stärkere Integration des Militärischen in die Gesellschaft. Außerdem bemerkte er, dass Luxemburg das einzige Nato-Land ohne militärische Reserve sei.
Sam Tanson von den Grünen postulierte, dass eine Wehrpflicht zu einem verspäteten Berufsstart und verpassten Chancen für die Jugend führe. Doch müsse in die Armee „extrem investiert“ werden. Und Tanson brachte die Idee vor, die Laufbahn eines Zeitsoldaten zu schaffen, der zehn Jahre lang aktiv dient.
Als letzte Rednerin ergriff Yuriko Backes das Wort, um die Priorität des binationalen Bataillons hervorzuheben, für das man Berufssoldaten brauche und wobei eine Wehrpflicht nicht weiterhelfe. Ausdrücklich wies sie darauf hin, dass für eine Luftabwehr noch mehr Soldaten gebraucht würden und dieses Jahr noch weitere Vorgaben der Nato anstünden. Derzeit sei nicht die Zeit des Sparens am Militär, erklärte Backes, um anschließend den wegen seiner häufigen Wiederholung schon an Catos „Carthago delenda est“ erinnernden Satz zu formulieren, dass eine Wehrpflicht nicht im Koalitionsabkommen stehe. Die Regierung werde den Hochkommissar für nationale Sicherheit (HCPN) mit der Bildung einer interministeriellen Arbeitsgruppe beauftragen, um Konzepte auszuarbeiten.
Zusammenfassend lassen sich in der Kammerdebatte folgende Argumentationsschienen isolieren:
Die Armee hat nicht genug Infrastrukturen für eine Wehrpflicht. Dem ist entgegenzuhalten, dass der Aufbau einer Wehrpflichtarmee mit der inhärenten Reserve über Jahre geschehen muss. Ein Geburtenjahrgang zählt rund 3 000 Luxemburger. Im Rahmen einer Wehrpflicht ist nicht jeder tauglich und nicht jeder wird gebraucht. Ehe Deutschland 2011 seine Wehrpflicht suspendierte, wurde 2010 nur noch die Hälfte der Wehrpflichtigen für tauglich befunden. Wenn Wehrpflicht also eine allgemeine Dienstpflicht bedeutet, kann die Armee die Tauglichsten einberufen. Dafür könnte auch die Motivation ein Kriterium sein. Die anderen Dienstpflichtigen könnten in einem anderen Rahmen einer allgemeinen Dienstpflicht genügen. Würden beispielsweise zu Beginn einer Wehrpflicht jährlich nur 300 Wehrpflichtige für zwölf Monate einberufen, so stünden nach drei Jahren 900 Reservisten zur Verfügung. In diesen Jahren könnte das Infrastrukturproblem der Armee gelöst, anschließend die Zahl der Einberufenen erhöht werden. Müssten Reservisten einberufen werden, würden sie nicht in der Kaserne sitzen bleiben, sondern nach der Einkleidung und Ausrüstung an ihre Einsatzstellen verlegt. Für Reserveübungen wären selbstverständlich Infrastrukturen zu schaffen. Diese Übungen hätten aber einen wesentlich kleineren Rahmen als eine Mobilmachung.
Die Armee hat nicht genug personelle Ressourcen, um eine Wehrpflichtarmee auszubilden und zu führen. Auch hier gilt, dass diese Ressourcen nicht sofort in vollem Umfang bereitstehen müssen. Die Reserve aus Gedienten, die nun ins Auge gefasst wird, kann einen Teil der aktuellen Probleme abfedern, aber auch bei der Ausbildung und Führung von Wehrpflichtigen einen großen Beitrag leisten. Nach dem Motto: „Reserve führt Reserve“.
Die modernen und komplexen Waffensysteme brauchen lange Ausbildungszeiten. Deshalb sind Wehrpflichtige ungeeignet. Dieses Argument ist in seiner Absolutheit zu hinterfragen. Die Wehrpflicht ermöglicht es, aus einem viel größeren Pool zu rekrutieren. Darunter auch die geeigneten Profile, die komplexe Waffensysteme sehr schnell beherrschen. Darüber hinaus zeigen Zahlen aus der Wehrpflicht in Deutschland, dass bis zu 50 Prozent der Berufs- und Zeitsoldaten ursprünglich als Wehrpflichtige eingezogen wurden. Eine Wehrpflicht hilft demnach auch, Berufs- und Zeitsoldaten zu rekrutieren, die ja so dringend gebraucht werden.
Man muss auch bereit sein, heilige Kühe zu schlachten. Die Armee muss sich davon verabschieden, dass es nur Freiwillige und Berufssoldaten gibt. Neue Wege müssen beschritten und das Statut so angepasst werden, dass länger dienende Zeitsoldaten eine Rolle in einem grundlegend geänderten Gesamtkonzept übernehmen können. Durch diese Anpassung würden auch höherrangige Reservisten generiert, die im Rahmen einer Reserve Führungsaufgaben erfüllen können.
Dass die Schaffung einer Reserve aus Gedienten und die perspektivisch angepasste Form einer Wehrpflicht grundlegende Änderungen in Struktur und Kultur der Armee zwingend notwendig machen werden, liegt auf der Hand. Reservisten und Wehrpflichtige sind nicht die Teenager, mit denen die Armee heute als Freiwillige konfrontiert ist. Es wird sich dementsprechend viel an den Führungsprinzipien und Führungsgewohnheiten ändern müssen. Ein „Haut commissaire aux affaires militaires“ mit klaren Kompetenzen und Befugnissen ist unumgänglich, um die nötige Akzeptanz zu erreichen. Der schon seit längerem geforderte Hochkommissar wäre eine Institution, die als Anlaufstelle für Beschwerden, Fragen und Vorschläge aus den Reihen der Militärs fungieren würde. Sie wäre unabhängig von der Militärhierarchie, würde über Untersuchungs- und Zugangsbefugnisse sowie direkten Zugang zur Politik verfügen. Neben der offensichtlich notwendigen Ventilfunktion bei unterdrückten Konflikten wäre der Haut Commissaire Teil der demokratischen Kontrolle der Streitkräfte und würde über die Rechte der Militärs in einem demokratischen Staat wachen. Während die Direction de la défense als Teil des Außenministeriums die zivile Kontrolle über die Streitkräfte als solche sicherstellt.
Schon mehrfach wurde die Distanz zwischen Gesellschaft und Armee beklagt, die es abzubauen gelte. Dazu wurde schon vor einigen Jahren die Idee eines Armee-Lyzeums in den Raum gestellt, aber mit der Begründung abgelehnt, man wolle keine Militarisierung der Gesellschaft. Doch Militarisierung ist nicht mit Wehrfähigkeit gleichzusetzen, wie sie auch in der Aktuellen Stunde vor zwei Wochen gefordert wurde.
Sehr triftig in diesem Zusammenhang ist ein Interview in der Land-Ausgabe vom 15. April 2022 mit dem Präsidenten der Armeegewerkschaft Spal, Christian Schleck: „Die Realität ist die, dass die Armee Leute an die Wirtschaft und zivile Verwaltungen verliert, aber keiner von dort den Weg zurück zur Armee findet“, stellte Schleck fest. Generell sei die Trennung von Armee und Gesellschaft ein Problem. Ein beruflicher Austausch müsse möglich sein. Was umso wichtiger sei, als die Armee mittlerweile sehr diversifiziert aufgestellt sei: „Rekrutiert wird vom Koch über den Mechaniker bis hin zum Cyber-Spezialisten. Erfahrung und Können aus dem Zivilleben müssen für die Armee nutzbar sein. Auch die Vernetzung, Präsenz und Akzeptanz der Armee in der Gesellschaft muss verbessert werden.“ Der gesellschaftliche Wandel müsse sich in der Armee widerspiegeln, so der Spal-Präsident. „Man darf es nicht beim überholten Narrativ der Eltern und Großeltern von der Wehrpflichtarmee bis 1968 belassen.“
Ein pensionierter Spitzenmilitär brachte es auf den Punkt: Er habe den Eindruck, dass Resilienz als rein technischer Begriff verstanden werde. Das sei falsch, sonst würde es reichen, von Redundanz zu sprechen. Man würde sich zusätzliche Mittel geben, und schon wäre man resilient. Doch Resilienz einer Gesellschaft habe auch eine menschliche und soziale Dimension, die mindestens so wichtig sei wie technische Aspekte. Weiter fragte der ehemalige Offizier, was die Luxemburger Gesellschaft auf sich zu nehmen bereit wäre, falls sie mit einer Lage wie in der Ukraine konfrontiert wäre. Was oder wer ist die Luxemburger Gesellschaft eigentlich? Resilienz beginnt bei den Menschen und nicht bei Technik. Sie ist also eine hochpolitische Frage.