„Mini-Merz“ nannten Internet-User CSV-Premierminister Luc Frieden, nachdem dieser im Januar 2024 auf der Plattform X auf einem Foto neben dem CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz auftauchte. Die Kommentare spielten auf physische Ähnlichkeiten der beiden Christdemokraten an – beide haben eine Halbglatze, ein eher kantenloses Gesicht, tragen eine Brille mit dunklem Rand und eine blaue Krawatte. Neben stilistischen Gemeinsamkeiten sind auch programmatische und biografische Überschneidungen zwischen beiden kaum zu unterscheiden.
Vor vier Monaten reiste Luc Frieden nach Berlin zur christdemokratischen Mittelstands- und Wirtschaftsunion, wo er in der Kategorie „Politik“ mit dem Mittelstandspreis ausgezeichnet wurde. In seiner Rede ging Frieden auf seinen und Merz Lebensweg ein. 2009 verließ Merz vorübergehend die Politik, um seine Karriere in der Finanzindustrie fortzusetzen. Vier Jahre später fasste Luc Frieden den selben Entschluss und kommentierte das Drehtürprinzip während seiner Rede in Berlin: „Ich wollte eigentlich für Friedrich Merz testen, deshalb habe ich mir gedacht, nach der Privatwirtschaft versuchst du, ob es möglich ist, an die Spitze der Regierung zu kommen.“ Luc Frieden sieht in seiner Entscheidung weniger opportunistischen Karrierismus als Inspiration: „Ich denke, dass die Wirtschaft etwas effizienter ist als der Demokratiebetrieb.“ In der Wirtschaft gelte das Prinzip der Wettbewerbsfähigkeit, und diese Mentalität wolle er in die Politik einbringen.
Während seiner politischen Auszeit netzwerkte Frieden als Geschäftsanwalt. Er war Berater der Deutschen Bank sowie Vorsitzender der BIL und der Handelskammer. „Et war mega cool, an enger Rise-Stad ze wunnen“, sagte er rückblickend vor zwei Jahren im Podcast Gëlle Fro. Er lebte in London wie ein Junggeselle; seine Frau sei in Luxemburg geblieben. Merz war seinerseits unter anderem im Aufsichtsrat von Blackrock, der Versicherungsgesellschaft Axa und dem Chemiekonzern BASF tätig. Dem aus dem ländlichen, katholischen Sauerland Stammenden wird nachgesagt, Multimillionär zu sein. „Danke für deine Präsenz“, schrieb Frieden im Anschluss an seine Rede in Berlin auf Facebook – er ist per Du mit dem CDU-Vorsitzenden.
Seit dem Bestehen der CSV hat sich kein Politiker der Partei als „liberal-konservativ“ bezeichnet. Nun aber beansprucht Luc Frieden diese Eigenbezeichnung für sich. Weder das „C“ ist von Bedeutung, noch das „S“. Der Publizist Pierre Lorang spricht von einer Zäsur in der Parteigeschichte. Unter Frieden sei der wirtschaftsliberale Flügel der Partei angeschwollen, die CSV habe sich der CDU angeglichen, die im Gegensatz zur CSV schon immer ein wirtschaftsliberales Handgepäck mit sich trage. Beide bauen einen Wahlkampf rund um Steuersenkungen für Bürger und Unternehmen auf. Im Wahlprogramm der CDU wird versprochen: „Wir beseitigen mit Entrümpelungsgesetzen und Bürokratie-Checks überflüssigen Papierkram.“ Man will zu einem „Innovationsstandort für Zukunftstechnologien werden – von der Luft- und Raumfahrt bis zum Quantencomputing“. In der Landwirtschaft sagt die CDU „der Bürokratie den Kampf an“. Man will „die zwangsweise Stilllegung von Flächen“ wieder beheben. Landwirte sollen wieder Landwirte sein dürfen. Im neuen CDU-Grundsatzprogramm steht: „Unsere Sicherheitsstrategie heißt: Null Toleranz!“ Alles Wortwendungen, die ein Echo zum CSV-Wahlkampf 2023 bilden. In punkto Ukraine und Israel folgt die CSV ebenfalls dem CDU-Kurs. Beide grenzen sich zudem von grüner Umwelt- und Klimapolitik ab. Bei der CDU kippt dieser Diskurs häufig ins Green-Bashing: Der hessische CDU-Politiker Sven Simon hielt beim CSV-Nationalkongress im März 2024 in Hesperingen eine Rede, in der er vor den wirtschaftsschädigenden Folgen grüner Politik warnte: „Was denken die in den grünen Hirnen?!“, rief er in den Raum. Die CDU stieg unter Angela Merkel nach dem Fukushima-Unfall 2011 aus der Atomkraft aus. Nun ist sie wieder dafür – wie sie es auch im 20. Jahrhundert war. Die CSV war bis zum Ukrainekrieg gegen diese Form der Stromerzeugung. Nun hat sie sich ins CDU- und Macron-Lager geschlagen.
Die CSV inspiriert sich, seit Wahlprogramme im Internet hochgeladen werden, verstärkt inhaltlich bei der CDU. Und ist seit einigen Jahren sogar bei der gleichen Werbeagentur wie die CDU unter Vertrag – nämlich Guru aus Hamburg. Eine Agentur, in der wiederum der CDU-Politiker Marcus Weinberg als Business-Partner mit im Boot sitzt. Guru schuf die Erzählung vom „neie Luc“, einem rollkragenpullitragenden, volksnahen Typen. Der neie Luc hält einen toten Fisch in einer Sandweiler Fischhandlung in der Hand und schaut bei den jungen Unternehmern von LëtzeBurger vorbei. CSV-Konvente unterlegte die Agentur mit Musik von David Bowie - „Ch-ch-ch-ch-changes, turn and face the strange“. Mit Türkis wählte Guru einen neuen Erscheinungsakzent, er wird zur Hintergrundfarbe der CSV-Homepage, von Plakaten und Bannern. Im Juni 2022 präsentierte die Werbeagentur das neue CSV-Logo – mit Parteikürzeln in Türkis, Gelb und Weiß. Ein Jahr später heißt es in den deutschen Medien: „Die CDU gibt sich ein neues Logo, es ist türkis.“ Die Fachzeitschrift für Marketing und Werbung Horizont warf nach Bekanntgabe der Partei Intransparenz in Bezug auf die Etatvergabe vor. In der ARD-Sendung Zapp kommentierte der Kommunikationsanalytiker Hendrik Wieduwilt letzte Woche, man habe „den Eindruck“ Friedrich Merz werde in der Wahlkampagne „etwas versteckt“, was man „verstehen kann“. Er habe eine Art „die manchmal nach Achtzigerjahren oder Fünfzigerjahren klingt – eine sehr formale, steife, distanzierte Art“. Eine Profilbeschreibung, die auch auf Luc Frieden zutrifft. Im Wahlkampf wählte die Partei jedoch eine andere Strategie, nämlich seinen Kopf mit der Partei gleichzusetzen.
Das Verhältnis der CSV zur CDU war im Vergleich zu den belgischen Christdemokraten distanziert. Auf europäischer Ebene kooperierte die CSV mit der belgischen Schwesterpartei, indem sie die „Nei“ (Nouvelle Équipe Internationale) führten. „Der Antikommunismus wird einer der Bestandteile der europäischen Idee“, kommentierte das Wort 1948 die Arbeit des Nei-Zusammenschlusses. Aloyse Hentgen, CSV-Wirtschafts- und Landwirtschaftsminister von 1948 bis 1950, mahnte gegenüber den Deutschen: „Die politische Klugheit zwingt uns zur Vorsicht.“ Dennoch glaubte er an die völkerverbindende Botschaft des Christentums. Man könne die „Deutschen vor ihren Fehlern schützen, indem man sie rechristianisiert“. Im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl arbeiteten die Benelux-Christdemokraten allerdings eng mit der Union zusammen. Als 1976 die EVP gegründet wurde, kam es bald zu Spannungen wegen der neoliberalen Ausrichtung der CDU und den österreichischen Christdemokraten. Die Christdemokraten aus den Benelux-Staaten wollten die Aufnahme der neoliberalen Konservativen aus Großbritannien in die EVP unbedingt verhindern – wallonische Abgeordnete drohten mit Rücktritten. Dies gelang ihnen bis zum Amtsende der Premierministerin Margaret Thatcher. Später setzte sich die Konrad-Adenauer-Stiftung der CDU zudem für die Aufnahme der ungarischen Fidesz-Partei in die EVP ein.
Darüber hinaus traten bis zur Jahrtausendwende die strukturellen Unterschiede zwischen der CSV und der CDU deutlich hervor. Die CSV war eine katholische, kirchennahe Milieupartei, die zum einen im Norden als Bauernpartei hervortrat und zum anderen über ihre Gewerkschaft LCGB Arbeiter im Süden ansprach. Die CDU ist eine überkonfessionell breit aufgestellte Volkspartei, ohne eigene Gewerkschaft und mit einer liberaleren Ausrichtung – weshalb die Wahlresultate der FDP im Nachbarland nie besonders hoch ausfallen, anders als es für die Liberalen in Luxemburg gilt.
Als 1982 Helmut Kohl, ein rheinländischer, sozial ausgerichteter Katholik, Bundeskanzler wurde, wuchs der Zusammenhalt zwischen der CSV und der CDU. Auf dem CSU-Parteitag 1998 in München lobte der damalige CSV-Premier Jean-Claude Juncker Helmut Kohl als „einzigartigen Europäer“. Bei der Verleihung des Internationalen Karlspreises 2006 an Jean-Claude Juncker im Aachener Rathaus bezeichnete Altbundeskanzler Kohl den Luxemburger in seiner Laudatio als „Glücksfall für Europa“. Juncker ließ es sich jedoch nicht nehmen, die CDU zu kritisieren: In einem Stern-Interview bekundete er Sympathien für die SPD. Wäre er in Deutschland geboren, hätte er sich für die Sozialdemokraten entschieden. Dies lag auch daran, dass er die Ostpolitik der CDU ablehnte, die lange Zeit die neuen Grenzziehungen im Osten nicht anerkennen wollte. Neben Helmut Kohl fungierten Norbert Blüm, Rita Süssmuth und Heiner Geißler als Vorbilder für die CSV. Sie gehörten dem sozialen, einem sich in der Minderheit befindenden Flügel der deutschen Christdemokraten an.
Nachdem Angela Merkel zur Bundeskanzlerin gewählt worden war, bot sich Jean-Claude Juncker bei ihr als Sonderberater und Vermittler in europäischen Fragen an – auch weil es Befürchtungen gab, die Union könnte das Verhältnis zu Frankreich zugunsten Washingtons schwächen. Pierre Lorang meint, Kanzlerin Merkel habe sich anfangs sogar an Juncker orientiert, beispielsweise indem sie – wie zuvor die CSV – das in der Union unbeliebte Gesetz zur doppelten Staatsbürgerschaft durchboxte. In ihrer vor zwei Monaten veröffentlichten Biografie zitiert Merkel Junckers erste „Rede zur Lage der Europäischen Union“ vom September 2015: „Europa, das sind diejenigen, die in München am Bahnhof stehen und die Flüchtlinge begrüßen und ihnen applaudieren.“ Merkel sieht sich durch Juncker in ihrer Entscheidung, die Einreise von Flüchtlingen zugelassen zu haben, bestätigt.
Weil der Druck EU-weit nicht nachließ, verhandelte sie anschließend gemeinsam mit Juncker den EU-Türkei-Aktionsplan, um die Weiterreise von Flüchtlingen aus der Türkei zu verhindern. Sie habe in jener Zeit große Unterstützung durch den EU-Kommissionspräsidenten gefunden, „für die ich gar nicht dankbar genug sein kann“, schreibt Merkel. „Er unterstützte das EU-Türkei-Abkommen, half, die humanitäre Lage in den Ländern des westlichen Balkans zu verbessern und förderte auch die internationale Zusammenarbeit, vorneweg mit Afrika,“ lobt sie Juncker in ihrem Buch „Freiheit“. Ob die Altbundeskanzlerin in seinen Erinnerungen ebenso positiv abschneiden werde, wisse Jean-Claude Juncker noch nicht, meinte er vor zwei Wochen in der Revue. „Auch wenn wir immer ein gutes Verhältnis hatten, hat sie mich in meiner Funktion als Chef der Eurogruppe und als Retter Griechenlands viele Nerven gekostet.“ Merkel und ihr Finanzminister Wolfgang Schäuble forderten harte Sparmaßnahmen in Griechenland, während Juncker in sozialdemokratischer Tradition vor den sozialen und wirtschaftlichen Folgen eines radikalen Sparkurses warnte. „EU-Finanzchef Juncker geht auf Merkel los“, polterte damals die Bild-Zeitung.
Nicht nur Junckers Abgang bahnte den Weg für die fast Spiegelbildartige Merz-Frieden-Konstellation: In den letzten 15 Jahren ist das ehemals homogene katholische Milieu der CSV zerbröselt. Kein Organ hält die katholischen Antennen - Bistum, Caritas, LCGB, Luxemburger Wort, CSV – noch zusammen. Davon abgesehen existiert die Caritas nicht mehr und das Wort gehört mittlerweile dem flämischen Unternehmen Mediahuis. Die interne Weiterbildung zur katholischen Soziallehre, die unter Laurent Zeimet (Generalsekretär der CSV von 2012 bis 2019) organisiert wurde, wurde nach der Wahlniederlage 2018 nicht wiederbelebt. Hinzu kommt, dass sich die religionsbezogenen Konflikte unter der von Blau-Rot-Grün durchgeführten Trennung von Kirche und Staat aufgelöst haben – die CSV schärft ihr Profil nicht mehr über das C. Man ist nun indifferent und geschichtsvergessen; das C stehe heute für „Grundwerte“, erklärte Luc Frieden während des letzten Wahlkampfs. Die CSV unterscheidet sich mittlerweile kaum noch von seiner einstigen antiklerikalen Erzrivalin DP.
Doch die neue Zwillingsschwester könnte der CSV bald dauerhaft Probleme bereiten. Am Donnerstag vor einer Woche behauptete Friederich Merz während einer Pressekonferenz, er werde im Falle seiner Wahl zum Bundeskanzler am ersten Tag seiner Amtszeit das Bundesinnenministerium über die Richtlinienkompetenz anweisen, „die deutschen Staatsgrenzen zu allen unseren Nachbarn dauerhaft zu kontrollieren und ausnahmslos alle Versuche der illegalen Einreise zurückzuweisen.“ Am Tag zuvor hatte Merz gemeinsam mit der AFD einen Antrag zur Verschärfung der Migrationspolitik beschlossen. Woraufhin sich Angela Merkel, seine ewige Konkurrentin, öffentlich gegen Merz aussprach und ihm vorwarf, die Brandmauer zwischen Union und AFD niedergerissen zu haben. In ihrer Wortmeldung ruft sie die demokratischen Parteien zur Zusammenarbeit auf, „auf Grundlage des geltenden europäischen Rechts“. Merz Vorschlag wie unter anderem die dauerhafte Kontrolle der Grenzen ist nach europäischem Recht nicht zulässig. Auslöser für Merz Wunsch, die Grenzen dauerhaft zu kontrollieren, war ein Messerangriff in Aschaffenburg am 22. Januar eines ausreisepflichtigen Afghanen.
Einen Tag bevor Merz seinen Antrag einbrachte, bekräftigte Luc Frieden bei einem Treffen mit der CDU-Politikerin und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Bedeutung „des Binnenmarkts und des Schengener Abkommens für Luxemburg“, wie er anschließend dem Wort mitteilte. Die Grenzkontrollen, die SPD-Innenministerin Nancy Faeser im vergangenen September angeordnet hatte, würden der Schengener Idee und Kooperation zuwiderlaufen. Die Kommission müsse sicherstellen, dass die Grundprinzipien von Schengen nicht dauerhaft ausgehebelt werden könnten. Von der Leyen habe Verständnis für Luxemburgs Anliegen gezeigt, so Frieden. Innenminister Léon Gloden betonte seinerseits in einem Virgule-Interview am Freitag, dass er mittlerweile „viele Nachrichten von Grenzgängern erhält, die die durch diese Kontrollen verursachten Staus satt haben. Sie brauchen zwischen einer und zwei Stunden länger, um zur Arbeit nach Luxemburg zu kommen.“ Doch die Moselbrücke Wellen-Grevenmacher interessiert in Berlin niemanden. Der Innenminister will dennoch nicht nachgeben. Wenn die Kontrollen im April weitergeführt werden, „werden wir bei der Kommission intervenieren“. Die Kommission als „Hüterin der Verträge muss dann prüfen, ob die ergriffenen Maßnahmen die erhofften Ergebnisse im Hinblick auf die angestrebten Ziele erbracht haben“. Und ob die Kontrollen rechtlich noch haltbar sind.
Ist die gute Zusammenarbeit zwischen der CDU und CSV nun gefährdet? Das wollte das Land diese Woche vom Staatsminister wissen. Luc Frieden antwortet, die CDU würde im Parteienspektrum nicht mit einer partikularen Position auffallen:„D‘Positioun ass momentan bei all de grousse Parteien an Däitschland déi nämmlecht op deem Sujet.“ Premierminister Luc Frieden wollte von keinem neuen Momentum in der Beziehung zur CDU sprechen. Angela Merkel hingegen sieht eine Zäsur in der Europapolitik heraufziehen: „Das Thema Migration hat das Potenzial, in Europa erhebliche Spannungen auszulösen. Und ich sage, angesichts der globalen Situation, eines amerikanischen Präsidenten, der zuerst an Amerika denkt, und eines Krieges in der Ukraine muss Europa zusammenhalten.“ Es sei „wichtig, dass wir versuchen, alles zu geben, um dieses Europa zusammenzuhalten“, erklärte sie an diesem Mittwoch im Gespräch mit der Wochenzeitung Zeit. Die Aussage war auch als Kritik an Merz gedacht. Merkel macht den Juncker. Eigentlich wollten beide nicht von der Seitenlinie aus die Arbeit ihrer Nachfolger kommentieren. Ende 2024 sagte Jean-Claude Juncker in einem RTL-Interview, er sei „radikal gegen“ die auf acht Stunden verlängerte Sonntagsarbeit und forderte seine Partei auf, sich wieder auf ihr „S“ zu besinnen. Seinen Politikerfreunden gab er mehrfach den Hinweis: „Wann een de Rietspopulisten noleeft, amplaz sech hinnen an de Wee ze stellen, da gëtt ee lues a lues wéi si.“