„Willkommen zum Steuerdialog mit den Bürgern“ hieß Finanzminister Pierre Gramegna (DP) vergangene Woche eine Handvoll Interessenten, die über Mittag in die Direktion der Steuerverwaltung am hauptstädtischen Boulevard Roosevelt gekommen waren. Dort warteten sie, einige mit ihren Aktenordnern unter dem Arm, an einem halben Dutzend Cocktail-Tischen, wo geduldig bereitstehende Steuerbeamte ihnen die versprochene kostenlose Steuerberatung liefern sollten.
Der Minister betonte, dass die zum 1. Januar angekündigte Steuerreform Einsparungen für die meisten Steuerpflichtigen bedeute, so dass es wichtig sei, dass „die Reform genau verstanden“ werde. Er wolle deshalb an allen neun Rendezvous zum „Steuerdialog“ im Land teilnehmen, umso mehr als Luxemburg glücklicherweise eines der Länder sei, wo die Nähe zwischen Steuerpflichtigen und Steueramt am größten sei, und nun sogar die erfreuliche Möglichkeit bestehe, seinen Steuerbeamten persönlich kennenzulernen. Aber die so viel Öffentlichkeit nicht gewohnten Steuerbeamten dürften sich gefragt haben, ob sie nicht gerade für Wahlveranstaltungen von Gramegna on tour eingespannt worden waren.
Die vergangenen größeren Steuerreformen fanden 1991 und 2001/2002 statt; der Jahrzehntezyklus schien 2011 durch die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise gestört worden zu sein. Im Vergleich zu diesen Reformen ist der Umfang der für 2017 versprochenen Steuerreform bescheiden, misst man ihn am Steuerausfall für den Staat und damit an der Ersparnis für die Steuerpflichtigen. Also muss der Finanzminister, müssen die Regierung und insbesondere die DP umso kräftiger auf die Pauke hauen. Denn die Steuerreform ist vielleicht die letzte Chance für die DP/LSAP/Grünen-Koalition.
Im Gesetzentwurf 3431 zur großen Steuerreform von 1991 (S. 65) wurde der „coût en régime de croisière“ auf 13 860 Millionen Franken veranschlagt. Im Vergleich zu für 1990 erwarteten Gesamteinnahmen von 97 295,8 Millionen Franken machte der Steuerausfall demnach 14,2 Prozent aus.
Im Gesetzentwurf 4855 zur großen Steuerreform von CSV/DP 2001 und 2002 (S. 61) wurde der Steuerausfall auf 23 800,00 Millionen Franken, beziehungsweise 589,99 Millionen Euro geschätzt. Im Vergleich zu Gesamteinnahmen im Jahr 1999 von 4 974,57 Millionen Euro machte das 12,3 Prozent aus.
Doch laut Gesetzentwurf 7020 vom Juli dieses Jahres werden nach einer Anlaufphase künftig Steuerausfälle von 524,4 Millionen Euro jährlich erwartet (S. 251). Im Vergleich zu den für 2016 erwarteten Gesamteinnahmen von 13 066,5 Millionen Euro macht der Steuerausfall damit gerade 4,0 Prozent aus. Das stellt nicht einmal ein Drittel der Steuerreformen vergangener Jahrzehnte dar. Schon die im Dezember 2012 von CSV und LSAP zum Gesetz gemachten Steuererhöhungen stellten laut Gesetzentwurf 6497 eine Mehrbelastung von 400 Millionen Euro jährlich dar (S. 9).
Allerdings wurden die Steuerreformen von 1991 und 2001/2002 in Zeiten vorgenommen, da der Staat jedes Jahr Milliarden Euro an „Mehreinnahmen“ aus dem Finanzplatz verbuchte, die er nicht in seinem Haushalt vorgesehen hatte. So dass der Einkommensteuerteil der für 2002 geplanten Reform sogar um ein Jahr vorverlegt werden musste – rechtzeitig zur Internet-Blase. Doch auch wenn sich die Staatsfinanzen nach der Krise über Erwarten erholt haben, sind einstweilen die Zeiten der Rekordüberschüsse jenen der mit den Maastrichter Stabilitätskriterien institutionalisierten Austerität gewichen.
Deshalb hatten sich DP, LSAP und Grüne nach ihrem Wahlsieg noch als Kreuzritter des europäischen Stabilitätspakts gefühlt und ein mittelfristiges Haushaltsziel von +0,5 Prozent in ihr Koalitionsabkommen geschrieben. Die Staatsfinanzen befanden sich zwar nicht in einer vergleichbaren Krise wie in anderen Ländern, auch wenn die Folgen des Rückgangs der Mehrwertsteuereinnahmen aus dem elektronischen Handel unablässig als katastrophal dargestellt wurden. Aber die Unternehmerfreunde der Koalition, die Wahlkampf für den liberalen Wechsel betrieben, das Wahlprogramm mitausgearbeitet und danach das Steuerkapitel des Koalitionsabkommens geschrieben hatten, hielten die über den Sozialstaat gewährten materiellen Zugeständnisse inzwischen für unnütz teuer.
Die autoritäre Wende der europäischen Finanzpolitik mit ihren Defizitbremsen, Strafverfahren und Bußgeldern, die Bußpredigten des Doktor Schäuble waren, zusammen mit dem Sturz der CSV/LSAP-Koalition, eine einmalige Gelegenheit, um auch hierzulande eine als Modernisierung des Luxemburger Modells dargestellte ökonomische Disziplinierung durchzusetzen.
Die dazugehörende Steuerreform wurde deshalb als für den Staat „kostenneutral“ angekündigt: Eine mit der Notwendigkeit des Haushaltsdisziplin erklärte Mehrwertsteuererhöhung und eine Haushaltsausgleichssteuer sowie Kindergeldkürzungen sollten eine mit der internationalen Wettbewerbsfähigkeit erklärte Senkung der Unternehmensbesteuerung erlauben. Im Zeichen der Kostenneutralität sollte sogar eine Senkung des Körperschaftsteuersatzes durch eine Vergrößerung der Bemessungsgrundlage neutralisiert werden.
Aber in ihrem anfänglichen Siegestaumel hatte die Koalition sich verrechnet. Selbst der Rückgriff auf die Werbeindustrie konnte den erhofften passiven Konsens in der Öffentlichkeit für die moderne Sparpolitik nicht herstellen. Der grüne Nachhaltigkeitsminister François Bausch ließ 727 Laternen an den Autobahnen fällen, um die Notwendigkeit der Kindergeldkürzungen von DP-Familienministerien Corinne Cahen zu unterstreichen. Doch die 30 Jahre lang dominierende neoliberale Welterklärung hatte 2008 in der Finanz- und Wirtschaftskrise ihre Legitimation eingebüßt – viele Leute glaubten sie nicht länger.
Sogar in der DP von Premierminister Xavier Bettel gab es als traditionelle Steuersenkungspartei Unmut über die Steuererhöhungen; in der LSAP gab es Widerstand gegen die Austeritätspolitik. Bei den Europawahlen erlebte die Koalition 2014 ihre erste schwere Niederlage, gefolgt 2015 vom Desaster des Referendums über die Verfassungsreform und einer Serie demoralisierender Meinungsumfragen.
Vor die Wahl gestellt, bei fast fünf Prozent Wirtschaftswachstum den politischen Märtyrertod für ihre Freunde von der Finanz- und Steuerberatungsbranche zu sterben oder sich noch rechtzeitig vor dem Wahlkampf nächstes Jahr die Sympathie der Wähler zu kaufen, kündigte die Regierung vor fünf Monaten in ihrer Erklärung zur Lage der Nation die Kehrtwende an: Sie gab ihr im Koalitionsabkommen abgemachtes mittelfristiges Haushaltsziel auf und ersetzte eiskalt den Überschuss von 0,5 Prozent durch ein Defizit von 0,5 Prozent. So entsteht Spielraum, um notfalls defizitfinanziert Steuern in Höhe einer halben Milliarde Euro zu senken.
Im Jahr der Gemeindewahlen und im Vorjahr der Kammerwahlen soll der größte Teil dieser halben Milliarde Euro an die Wähler, die Privathaushalte, verteilt werden. Laut Motivenbericht des damaligen Gesetzentwurfs entfielen 1991 rund 75 Prozent der Steuerausfälle von CSV und LSAP auf die Haushalte und 25 Prozent auf die Unternehmen. Umgekehrt, entfielen bei der Reform von CSV und DP ein Jahrzehnt später 31 Prozent der Ausfälle auf die Haushalte und 68 Prozent auf die Unternehmen.
Dieses Jahr machte die Regierung keine genauen Angaben darüber, wie viel Unternehmen und Privathaushalte jeweils sparen sollen. Hält man sich aber an die Fiche financière zum aktuellen Gesetzentwurf (S. 248), dann belaufen sich nach einer Übergangsphase die jährlichen Steuereinsparungen der Privathaushalte auf 466 Millionen Euro oder 86,6 Prozent, diejenigen der Unternehmen auf 72 Millionen Euro oder 13,4 Prozent. Weitere 50 Millionen Euro soll die verschärfte Jagd auf private und gewerbliche Steuerhinterzieher einbringen.
Weil der Anteil der Unternehmen an den Steuereinsparungen diesmal niedriger ausfallen soll als bei vorherigen Steuerreformen, stellte der Finanzminister den Unternehmerverbänden bereits eine Nachbesserung in Aussicht, wenn in nächster Zeit die Bemessungsgrundlage der Körperschaftsteuer international harmonisiert werden sollte.