Noble, moderne Melodramatik

d'Lëtzebuerger Land vom 24.01.2025

Das englischsprachige Spielfilmdebüt des spanischen Filmautors Pedro Almodóvar, The Room Next Door, wird von zwei grandiosen Darstellerinnen in nobler Melodramatik, leuchtenden Farben und eleganter Musik getragen. Dass zwei der anerkanntesten Schauspielerinnen des gegenwärtigen amerikanischen Films, Julianne Moore und Tilda Swinton, zu dem spanischen Filmkünstler fanden, dürfte bei näherer Betrachtung nicht verwundern: Ihre vergangenen Darbietungen eindringlicher Frauenschicksale prädestinieren Moore und Swinton nahezu dazu, zu Almodóvars amerikanischen Musen zu werden, hat der Regisseur doch bereits zu Beginn seiner Karriere gerne dezidiert die weibliche Perspektive eingenommen.

The Room Next Door, in Venedig während der vergangenen Filmfestspiele mit dem Goldenen Löwen als Bester Film ausgezeichnet, zeugt einmal mehr von Almodóvars virtuosem Gespür das Genre des Melodrams in ein zeitgenössisches Setting zu überführen und präsentiert dabei ein Schauspielduell, das diesen 23. Spielfilm des Künstlers ganz durchdringt: Die Grundlage bildet der Roman What Are You Going Through von Sigrid Nunez, der thematisch gut in Almodóvars Repertoire passt: „Etwas, das lebt, sollte nicht enden“, ist der erste Satz, den Ingrid (Moore) im Film äußert. Sie ist eine New Yorker Bestseller-Autorin, die in ihrem letzten Werk „On Sudden Deaths“ ihre Angst vor dem Tod zu verarbeiten versucht. Ihre lebensfrohe Überzeugung wird auf die Probe gestellt, als sie die Nachricht erhält, dass ihre enge Freundin Martha (Swinton) an Krebs erkrankt ist und nicht mehr lange zu leben hat. Marthas Wunsch ist es, dass ausgerechnet Ingrid ihr im Raum nebenan beisteht, während sie sich für den Freitod durch illegale Substanzen entscheidet – ein Akt, der in den USA unter Strafe steht.

Während das Motiv, die Kontrolle über das eigene Leben und das Leben anderer bis zum Schluss zu bewahren, wechselseitig thematisiert wird, kreist dieser neue Film ganz um die Themen, die Almodóvar schon immer interessiert haben: Mutterschaft, Lust, Liebe und tiefe Verbundenheit. Dann gibt es die Narben der Vergangenheit, die Entfremdung der eigenen Tochter, verflossene Liebschaften. Der Spanier verdichtet all dies jedoch im Kontext des Todes und der Angst, nicht mehr genug Zeit zu haben. Es ist zunächst überraschend, dass dieser lebensbejahende Filmemacher sich nun mit Abschied, Trauer und der Angst vor dem Tod auseinandersetzt. Diese Entwicklung erscheint indes nur folgerichtig: Obwohl Almodóvar die „wilde“ und „rauschhafte“ Dimension seines Frühwerks – er ist immerhin einer der wenigen Filmkünstler, der seit rund einem halben Jahrhundert für die Freizügigkeit in der Darstellung von Begierde, Lust und Leidenschaft immer wieder internationale Anerkennung erlangte – nicht aufgegeben hat, bringt er sie nun mit Bedacht und einer gewissen Wehmut aus der Rückschau zum Ausdruck. Dabei verwebt er spielerisch Verschwörungstheorien rund um Gesundheit, Großkapital und Klimawandel, setzt ferner ebenso spitze wie nachdenkliche Kommentare über ein grundlegendes Absterben des Affekts im Kontext gegenwärtiger gesellschaftlicher Umbrüche. Almodóvars unzuverlässige filmische Autobiographie Dolor y gloria (2019) war eine nachdenkliche Reflexion über seine Karriere, in der Antonio Banderas als Alter Ego auftrat. Doch es war sein letzter Film, Madres Parallelas (2021), der viele seiner vertrauten Motive vereinte und zum ersten Mal die Franco-Diktatur in Spanien direkt thematisierte, ein Thema, das in früheren Werken oft nur im Hintergrund präsent war. Mit 74 Jahren spricht Almodóvar nun offen über dieses kollektive Trauma Spaniens und betrachtet sich selbst als Künstler, was darauf hindeutet, dass er eine neue, altersbedingte Phase der künstlerischen Auseinandersetzung eingeleitet hat.

Allein in der Kurzskizze der Handlung von The Room Next Door, die essenziell von der Sterbehilfe erzählt, zeigt sich, wie sehr Almodóvar darauf aus ist, einen Kern des Melodrams zu treffen, nämlich die Vermittlung eines Gefühls über das menschliche Leiden. Die Schicksalsschläge, die die Menschen in einem Almodóvar-Film treffen, sind überaus einschneidend, lebensverändernd und bringen oftmals ihr wahres Wesen hervor. Das Los der Protagonistinnen ist auch hier einmal mehr verschlungen in Missverständnisse; emotionale Wendungen treffen die beiden Heldinnen nachhaltig und unverhofft. Und doch, den beiden Heldinnen genügt es, die Schönheit in den kleinen Dingen überall um sie herum zu sehen, in der Natur, etwa im Fallen der ersten winterlichen Schneeflocken. Diese Schönheit muss sich nicht wie im klassischen Hollywood-Melodram noch etwaige Male spiegeln in der Musik oder in der Architektur – sie muss bei Almodóvar nicht unentwegt beschworen werden. Da genügt ein Besuch in der Bibliothek, ein ausgewogener Spaziergang oder noch ein gemeinsamer Filmeabend.

Das melodramatische Leid birgt auch eine Form des vitalen Protestes, vielleicht nicht so sehr gegen die Ungerechtigkeit der Welt als gegen das Unglück in ihr, das Unglück, das der Mensch erfahren muss. Marthas unheilbares Krebsgeschwür ist ein Unglück, das über sie hereinbricht, doch mehr noch scheint sie mit der amerikanischen Rechtslage zu kämpfen, die ihr die Selbstbestimmung verweigert. Im Angesicht des Todes, durch den Akt des Suizids, noch einmal die ganze Lebensfreiheit zu beschwören, bringt diese Frau ganz zu sich. Almodóvars Figuren sind unserer Erlebniswelt somit zunächst ganz angepasst und bilden Projektionsflächen, die unseren Lebensverhältnissen analog sind. Und doch sind sie Teil eines ästhetischen Programms, Teil einer poetischen Anordnung, die die Kunst hervorbringt und für diese konstitutiv ist, demnach bewegen sie sich zugleich in einem Rahmen, von dem wir ganzheitlich ausgeschlossen sein müssen. Dafür genügt allein der Blick auf das innere filmische Verweissystem von The Room Next Door: Anspielungen auf Ingmar Bergmans Persona und Alfred Hitchcocks Vertigo sind deutlich spürbar.

The Room Next Door ist ein typischer Almodóvar-Film, der alle seine charakteristischen Elemente vereint: die Themen, den unverwechselbaren Stil, insbesondere in der Farbgestaltung und der Streicher-Musik seines Hauskomponisten Alberto Iglesias. Einzig das Schauspiel von Julianne Moore und Tilda Swinton will nicht ganz zur vollen Entfaltung kommen. Seltsam fühlt man sich an Asghar Farhadis Todos lo saben (2018) erinnert, in dem das spanische Schauspielpaar Penélope Cruz und Javier Bardem in einem Drama über Vergangenheit, Liebe, Schmerz und Vertrauen zusammengeführt wurde. In der Zusammenarbeit zwischen dem iranischen Regisseur und dem spanischen Duo scheint etwas in der Schauspielführung verloren gegangen zu sein, was sich auch in diesem spanisch-amerikanischen Dialog andeutet. Gleichwohl: So sehr Almodóvar die Kernaspekte des Melodrams abruft und affirmiert, so sehr entzieht er dem Genrestoff die Larmoyanz, schafft Zugangshilfen durch Anbindungen an allgegenwärtige Lebensrealitäten und modernisiert es so immerzu – dies bleibt seine Gratwanderung, sein großer Kunstgriff: The Room Next Door ist ein Film, der in seinen stärksten Momenten über die großen Sinnfragen des Lebens nachdenkt, es ist klarerweise ein Alterswerk, in dem Almodóvar mit sehr viel Feinfühligkeit den einstigen Themenkomplexen seines Werkes nachspürt – ohne Dramatik, ohne tränenreiche Wendepunkte, ganz kammerspielartig auf die Präsenz seiner zwei Hauptdarstellerinnen fokussiert. Mehr braucht er nicht, um großes Gefühlskino, im noblen Sinne des Wortes, freizusetzen.

Marc Trappendreher
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