Jean-Paul Frising, Oberstaatsanwalt, ist einigermaßen sauer. Ende Juli hatten die Strafverteidiger ziemlich dick aufgetragen. Bei einer Pressekonferenz ihrer Vereinigung Alap beschwerten sie sich, das vor zwei Jahren eingeführte Instrument des jugement sur accord, der gerichtliche Vergleich, das es im Strafrecht ermöglicht, dass sich die Staatsanwaltschaft mit einem Angeklagten im Gegenzug für ein Geständnis auf ein Strafmaß einigt, bevor der Fall in die Gerichtssitzung kommt, werde nicht oft genug eingesetzt. Die Staatsanwaltschaft lehne Vorschläge der Verteidiger ab, monierten die Vertreter der Alap, Philippe Penning und Rosario Grasso. Sie beschränke sich auf Fälle, in denen es um Steuerfragen gehe. Außerdem lehnten es die Staatsanwälte ab, zu verhandeln, was den Strafverteidigern nicht gefiel. Warum keine Drogen- oder Straßenverkehrsdelikte über einen Vergleich regeln? Und warum könne man über das Strafmaß nicht diskutieren? Die Forderung der Strafverteidiger: Sie wollen mehr jugements sur accords abschließen, in mehr Bereichen.
Dabei ist das Instrument an sich nicht unumstritten. In Belgien ermittelt derzeit eine parlamentarische Untersuchungskommission die Umstände, unter denen der Anwendungsbereich der transaction pénale 2011 auf Finanzdelikte ausgeweitet wurden, die es dem usbekischen Geschäftsmann Patokh Chodiev und seinen Geschäftspartnern, allgemein als „Trio“ bekannt, erlaubten, sich im Gegenzug für ein Millionenbußgeld einem Prozess wegen Geldwäsche zu entziehen, und ob sich der ehemalige französische Präsident Nicolas Sarkozy hierfür stark gemacht hat. Dies, um der kasachischen Regierung, die zusammen mit dem Trio Rohstoffe abbaut, französische Kampfhelikopter verkaufen zu können (d’Land, 38).
Doch auch bevor Kazakhgate ans Licht kam, gab es bereits Diskussionen um die transaction pénale. Denn 2013 kaufte sich die Gesellschaft Bois sauvage gegen ein Bußgeld von 8,5 Millionen Euro von einem Prozess wegen Insidergeschäften frei. Sie hatte kurz vor der Zerschlagung der Bankgruppe Fortis eine größere Menge Aktien verkauft und damit auch die Wut belgischer Kleinanleger auf sich gezogen. Danach wurde in Belgien Kritik laut, die transaction pénale führe zu einer Zwei-Klassen-Justiz, wenn sich Wirtschaftsverbrecher durch das Zahlen von Bußgeldern vorab einigen und dadurch einen Gerichtsprozess vermeiden könnten.
Für die Gegner der transaction pénale und ähnlicher Instrumente sind sie ein Schritt in Richtung amerikanisches Justizwesen, in dem außerhalb der Gerichtssäle kostspielige Vergleiche gefunden werden, um noch kostspieligere Gerichtsurteile zu verhindern. Zu einer privatisierten Justiz hinter verschlossenen Türen, so wie es auch die in internationalen Freihandelsabkommen vorgesehenen Schiedsgerichte sind, in denen Staaten ihre Souveränität an Geschäftsanwälte abgeben.
Auch in Luxemburg gibt es nicht nur Juristen, die mehr jugements sur accord fordern, sondern Risiken sehen. Wie beispielsweise Albert Rodesch. Das jugement sur accord, gibt Rodesch zu bedenken, könne zur Zwei-Klassen-Justiz führen, wenn sie in der Praxis vornehmlich von erfahrenen Anwälten abgeschlossen würden. Das setze voraus, dass sich die Klienten einen erfahrenen Anwalt leisten könnten, mit guten Kontakten. Keine Lösung also für Kleinkriminelle, sondern nur für finanzkräftige Beschuldigte? Ist etwa auch in Luxemburg das jugement sur accord ein Mittel für Ärzte und andere liberale Berufsstände, diskret ihre Differenzen mit der Steuerverwaltung zu lösen?
Gegen diesen Vorwurf wehren sich die Oberstaatsanwälte der Bezirksgerichte Luxemburg und Diekirch energisch. Seit das jugement sur accord 2015 eingeführt wurde, wurden in Luxemburg rund zwei Dutzend abgeschlossen. Während Jean-Paul Frising durch seine Dateien scrollt, zählt er auf: einmal Unterschlagung von Gesellschaftsvermögen und Geldwäsche, vier Diebstähle mit Einbruch, ein Betrugsfall, ein Fall von Fälschung und Gebrauch gefälschter Dokumente, zweimal Nichteinhaltung der beruflichen Verpflichtungen in Bezug auf die Geldwäschebestimmungen, ein Verstoß gegen das Waffengesetz, achtmal Steuerhinterziehung und ein Diebstahl. Aloyse Weirich, Oberstaatsanwalt in Diekirch, sagt, er habe Diebstähle und sogar Drogendelikte über jugements sur accords geregelt, aber nur eine einzige Steuersache, hat er bisher abgeschlossen. Weirich, der in den Vorbereitungsarbeiten zur Einführung des Instruments stark eingebunden war, bedauert wie die Strafverteidiger, dass es nicht öfter zum Einsatz kommt. Er ist realistisch und optimistisch – „es läuft langsam an“. Dass die Fallzahl steigt, zeigen die Statistiken: 2015 und 2016 wurden insgesamt nur sechs jugements sur accord in Diekirch und in Luxemburg gemacht. Dass es bisher nicht mehr sind, liegt aber laut Weirich und Frising nicht an den Staatsanwaltschaften, sondern an den Anwälten. „Bisher“, sagen beide, „ist noch kein einziger, konkreter Vorschlag von einem Verteidiger eingegangen.“ Denn laut Gesetz können beide Seiten ein jugement sur accord vorschlagen. Wie ein solcher Vorschlag auszusehen hat, was er beinhaltet, sei genau festgelegt. „Es reicht nicht, dem Subsitut im Flur vor dem Gerichtsaal zu sagen: ‚Sag mal, sollen wir in der Sache keinen Vergleich machen?’“, resümiert Frising die Situation.
Weirich will den Anwälten keinen schlechten Willen unterstellen. So ein Vergleich, sagt er, mache Arbeit. Arbeit, die normalerweise weder die Staatsanwaltschaft, noch die Verteidiger übernehmen würden, sondern die Richter. Denn im Endeffekt, erklärt er, müsse quasi eine fertige Urteilsschrift verfasst werden, während die Staatsanwaltschaft das üblicherweise in der Prozessvorbereitung nicht tut und die Verteidigung schon gar. Dass die Anwälte zögern, fertig ausformulierte jugements sur accord vorzulegen, erklärt Weirich auch damit, dass sie im Regelfall versuchen, alle Tatbestände zu minimisieren, ebenso wie das Strafmaß. Beim jugement sur accord aber gehe es darum, erstens die Tatbestände klar aufzuzählen, die der Beschuldigte zugibt, und dann ein angemessenes Strafmaß festzusetzen. „Das ist nicht in ihrer Logik als Verteidiger“, gibt Weirich zu bedenken. Die Staatsanwaltschaften hingegen hätten Erfahrungswerte, was sie für die verschiedenen Delikte an Strafen vor Gericht durchgesetzt hätten und könnten dann, im Gegenzug für ein Geständnis, am unteren Ende der Skala ansetzen.
Die jugements sur accord verursachten auch aus anderen Gründen Arbeit und seien oft keine geeignete Lösung, erklärt der Oberstaatsanwalt aus Diekirch: „Man muss klären, ob es Opfer und Geschädigte gibt. Mit ihnen reden, die Situation erklären, sehen, ob sie einverstanden sind, wenn kein normaler Prozess stattfindet.“ Weirich fährt fort: „Wenn es in einer Drogenhandelssache sieben Beschuldigte gibt, und ich kann einem davon ein jugement sur accord anbieten, ergibt das nicht viel Sinn, denn den anderen sechs muss trotzdem ein Prozess gemacht werden.“
Die Faktenlage in der jeweiligen Fallakte spiele dabei eine ganz wesentliche Rolle, erklären Weirich und Frising. Für die Staatsanwaltschaft gehe es darum, abzuwägen, welche Strafbestände sie vor Gericht belegen könnten, und bei welchen es schwieriger werde. Wenn Letztere bei der Festlegung des Strafmaßes auch in Rahmen eines richtigen Prozesses keinen großen Einfluss habe, dann sei das ein guter Fall für ein jugements sur accord, erklärt Jean-Paul Frising. Dann kann sich die Staatsanwaltschaft beim Vergleich auf die klar nachgewiesenen Taten beschränken und zeitaufwändige Prozeduren sparen, deren Ausgang und Erfolg ungewiss ist.
Das ist laut Frising auch die Erklärung dafür, dass mehr Steuerhinterziehungsfälle über einen solchen Vergleich geregelt wurden. Vor Gericht habe die Staatsanwaltschaft in der Vergangenheit Probleme gehabt, Ärzten und anderen Freiberuflern die Dokumentenfälschung in der Buchhaltung nachzuweisen, weil sie gesetzlich nicht verpflichtet sind, eine Buchhaltung wie eine Gesellschaft zu führen. Ohne den Tatbestand der Dokumentenfälschung und deren Gebrauch aber gibt es keinen Steuerbetrug, sondern nur den Tatbestand der Steuerhinterziehung, für den es ein Bußgeld gibt. In den durch Vergleich geregelten Steuerfällen habe die Steuerverwaltung die Akten an die Staatsanwaltschaft übermittelt. Sie zog es dann vor, lässt sich aus Frisings Erklärungen schließen, den Betroffenen im Vergleich direkt ein Bußgeld vorzuschlagen, anstatt ohne Aussicht auf Erfolg den Versuch zu starten, die Dokumentenfälschung nachzuweisen und dadurch eine Verurteilung wegen Steuerbetrugs zu erzielen. Die Aktenlage sei auch der Grund, weshalb für Frising jugements sur accord bei Verkehrsdelikten keinen Sinn ergeben würden: „Nichts ist einfacher zum Prozess zu bringen, als ein Verkehrsdelikt. Wenn Sie zu schnell gefahren sind, oder zu viel getrunken haben, gibt es nicht viel zu diskutieren.“ Das bringe der „Prozessökonomie“ nichts.
Dass von den Vergleichen nur gutbetuchte Wirtschaftskriminelle oder Steuerhinterzieher profitieren könnten, die sich einen guten Anwalt leisten können, bestreitet Frising. „Der Dieb, der in der Rockhal 21 Smartphones gestohlen hat, hat ein jugement sur accord bekommen. Der hatte einen Pflichtverteidiger“, nennt er ein Beispiel. Solange die Initiative ausschließlich bei der Staatsanwaltschaft liegt, weil die Verteidiger keine Vorschläge ausformulieren, dürfte er Recht behalten.
Stellen die jugements sur accords die Transparenz der Justiz durch eine öffentliche Verhandlung in Frage? Anders als in Belgien, wird das Urteil hierzulande von einem Gericht bestätigt und auch in einer Sitzung aufgerufen. Dort werden zwar die Angeklagten vorgeführt und der Tatbestand vorgelesen. Aber Sinn und Zweck ist ein zügiges Verfahren, was es dem Publikum im Saal, also der Öffentlichkeit, nicht einfacher macht, nachzuvollziehen, was passiert ist. Dennoch glaubt Frising: „Das Modell, das in Luxemburg gewählt wurde, ist ein guter Kompromiss.“