Früher war alles besser. Zum Beispiel in punkto Anstand und Manieren. Da wusste man noch, was sich gehört und was nicht. Zum Beispiel auch, was den Bildungsstand anbelangt. Oder das Sprachgefühl und die Beherrschung der Grammatik. Früher war jeder Luxemburger einwandfrei triglott. Mindestens. Heute kann ein Abiturient nicht mal mehr einen fehlerfreien Brief aufsetzen – von Stilfragen und Bildungshintergrund ganz zu schweigen. O tempora, o mores!, seufzt die vom Aussterben bedrohte Spezies der Bildungsbürger, während sie der schier unaufhaltsamen äußerlichen wie moralischen Verlotterung der Jugend zusieht. Doch zum Glück gibt es noch einige wenige dieser raren Exemplare: unverwüstliche Settembrinis, echte Humanisten, die den lieben langen Tag nichts anderes zu tun haben, als Essays zu schreiben und sich über Literatur zu unterhalten. Eine paradiesische Existenz, so recht nach dem Geschmack von Jansen und Reisiger, zwei Lehrern, die sich gemeinsam auf den Ruhestand vorbereiten. Zusammen mit ihren Ehefrauen ziehen sie in ein ehemaliges Pfarrhaus und lesen, schreiben, veröffentlichen, was das Zeug hält. Die alten Herren begleiten sich gegenseitig zu akademischen Tagungen und diskutieren über ihre literari-schen Ergüsse. Sie lesen gemeinsam die Tagebücher von Thomas Mann, ergehen sich in Plänen einer Festschrift für Walter Jens, halten Hassreden auf George Bush und das luxemburgische Schulsystem und stänkern mit einer Selbstgerechtigkeit gegen Zeitungswesen und Literaturbetrieb, dass es eine wahre Freude ist. Dieses erfüllte Leben in der Elfenbeinturm-WG wird nicht wesentlich gestört, als zwei junge Menschen auftauchen, die behaupten, Kinder Jansens und Reisigers aus früheren Tübinger Liebschaften zu sein. Am Ende geraten sich Jansen und Reisiger, die man bis dahin fast für siamesische Zwillinge gehalten hat, urplötzlich in die ergrauten Haare und segnen bald darauf das Zeitliche. So überraschend – um nicht zu sagen: wenig nachvollziehbar – dieses Ende ist, so verblüffend ist der Stil, in dem die alternden Möchtegern-Literaten mit Bildungswust wild um sich werfen. Mit einigen verhunzten Zitaten („Was bleibt [sic!] aber, das stiftet die Nachdenklichkeit.“) ist es dabei leider nicht getan. Gleich haufenweise werden antiquierte Vokabeln aus der Mottenkiste hervorgezaubert, um sie dem Leser genüsslich unter die Nase zu reiben: Ein Aufsatz Reisigers wäre kein Gewinn, sondern eine „Zierde“ für Jansens Zeitschrift, Ähnlichkeiten scheinen oder wirken nicht auffällig, sondern „muten an“; man fährt nicht mit dem Auto, sondern mit dem „Kraftwagen“. Das „ß“ kommt auch dort zu Ehren, wo man es nach etlichen Rechtschreibreformen nicht einmal mehr vermuten würde, („Erstkläßler“) und Fremdwörter wie „Colloquium“ und „Carton“ behalten ihr etymologisches „c“. So weit, so gut. Würde dieser eigentümlich angestaubte Stil konsequent durchgehalten, könnte man ihm vielleicht sogar etwas abgewinnen – einen ironischen Unterton zum Beispiel. Warum es dann allerdings „Foto“ heißt und nicht „Photo“, bleibt undeutlich. Auch dass dem angeblichen Germanisten alle paar Seiten ein idiomatischer und/oder grammatischer Schnitzer unterläuft, will nicht zu seinem aufdringlichen Bildungsgehabe passen. Das Erzähler-Ich lebt zügel- los einen unerklärlichen Groll auf das Indefinitpronomen „etwas“ zugunsten der umgangssprachlichen Variante „was“ aus („was halbwegs Prächtiges“, „was verloren Geglaub-tes“) und nimmt es mit dem Konjunktiv der indirekten Rede nicht besonders genau. Gut, dass Jansen das Tagebuch Thomas Manns liest und nicht umgekehrt. Einem ehemaligen Deutschlehrer wie dem Autor des Buches wird man unterstellen müssen, dass er dem Leser absichtlich derart schlechtes Deutsch vorsetzt. Mit welcher Absicht aber könnte das so sein? Sollte er diese Quälerei von immerhin über hundert Seiten nur veranstaltet haben, um das fragwürdige Bildungsbürgertum seiner Protagonisten zu verhohnepipeln? Will er mit dem Dünkel und den Vorurteilen einer vermeintlichen intellektuel-len Elite aufräumen? Bestünde darin vielleicht die vom Verlag angekündigte Kritik des Kulturbetriebs? Oder ist die Ironie selbstreflexiv, nämlich insofern der Autor autobiografische Details in seinen Figuren verarbeitet? Veräppelt er sich womöglich selbst? Oder doch nur den Leser?
Cornel Meder: Reisiger. Aufzeichnungen. Éditions Le Phare, 2007.