In der Finanzbranche würden sich „viele Arbeitnehmer“ Fragen über ihre berufliche Zukunft stellen. „Unsichere Arbeitsplätze, Umstrukturierung, Zusammenschluss, Auslagerung – all diese Gespenster verfolgen die im Finanzsektor Beschäftigten bis in den Schlaf hinein ... und stören diesen gewaltig!“
Nicht der OGBL oder die Bankengewerkschaft Aleba sagt das, sondern die ASTF, der arbeitsmedizinische Dienst für den Sektor. 550 Unternehmen, von der Großbank bis zum Mini-Service-Betrieb, sind der ASTF angeschlossen. Seine Direktorin Patrizia Thiry-Curzietti hat den Befund dem Jahresbericht 2013 als Vorwort vorangestellt. Was der neue wirtschaftliche Wind, der im Lande wehe, für Auswirkungen hat, bekämen die Arbeitsmediziner „tagtäglich“ zu spüren, heißt es noch. Die Angst um den Arbeitsplatz sei zum Stressfaktor Nummer eins in den Firmen geworden. Die ASTF setze „alles“ daran, Gesundheit und Wohlergehen der Beschäftigten abzusichern.
Wie die Dinge ganz genau liegen, kann Thiry-Curzietti derzeit noch nicht sagen. Diagnosen werden in der Arbeitsmedizin, wie in den anderen medizinischen Sparten hierzulande auch, nach einem veralteten und wenig präzisen Schlüssel dokumentiert. Sie separat davon zu erfassen, sei die ASTF „bisher nicht strikt genug gewesen“, erklärt die Direktorin, die ihr Amt erst vor neun Monaten neu angetreten hat, im Gespräch mit dem Land. Das werde sich aber ändern, verspricht sie.
Doch auch ohne quantitative Belege ist man sich bei der ASTF sicher: Seit fünf, sechs Jahren, seit dem Ausbruch der internationalen Bankenkrise also, griffen die Ängste immer mehr um sich. Dass in anderthalb Jahren das Bankgeheimnis fallen soll und allenthalben über „Auswirkungen“ auf den Finanzplatz spekuliert wird, macht die Ängste verständlicherweise nicht kleiner. Dass das Statistikinstitut Statec vor sechs Wochen prognostiziert hat, allein die höheren Verwaltungskosten, die der automatische Informationsaustausch mit sich bringe, könnten im Bankwesen an die 800 Jobs kosten und durch den Abzug von Aktiva aus Luxemburg über 1 000 weitere Stellen gefährdet sein, auch nicht.
Bei der ASTF beobachtet man aber noch eine weitere Tendenz. Burn-out-Fälle nehmen ebenfalls zu, und wiederum seit fünf bis sechs Jahren. Ob das mit den Zukunftsängsten zu tun hat, die in der Branche umgehen? Schon möglich, meint die Arbeitsmedizinerin. Zurzeit mache nicht nur das Angst, worüber geredet wird, sondern auch alles „worüber nicht geredet wird“. Dergleichen könne ein Auslöser für Burn-outs sein – die eigentlich hochmotivierte Mitarbeiter betreffen. „Die haben noch gestern zu zweihundert Prozent ihre Arbeit gemacht, sie gerne gemacht. Und am Tag danach morgens stehen sie morgens in der Tiefgarage und finden plötzlich kaum mehr die Kraft, aus ihrem Auto auszusteigen. Und sind anschließend vielleicht monatelang krank und wissen weder ein noch aus.“
Ob und in welchem Umfang sich in der Finanzbranche dadurch der Krankenstand erhöht hat, ist bei der ASTF unbekannt. „Dass es mehr Krankschreibungen gibt, nehme ich an, aber wir erhalten nicht jeden Burn-out-Fall gemeldet.“ Und nicht jeder der Gemeldeten wird als Patient bei einem Arbechtsdokter der ASTF vorstellig. Anhand derjenigen Patienten, die von ASTF-Medizinern betreut wurden, weiß Patrizia Thiry-Curzietti aber, dass „die Problematik alle Schichten betrifft, vom jungen Uni-Absolventen von Anfang zwanzig, der noch voller Ideale steckt, bis hin zum Direktor“. Und es mag schwerfallen, sich vorzustellen, dass ein gestandener Mann, der Verwaltungsratsmitglied einer renommierten Bank ist, in Tränen aufgelöst vor dem Arbeitsmediziner sitzt – „das gibt es aber“.
Zum Glück nehme in den Betrieben das Problembewusstsein zu. „Das ist auch eine ganz deutliche Tendenz.“ Es werde versucht, Burn-outs und psychischen Problemen am Arbeitsplatz gezielt entgegenzusteuern und beizeiten zu erkennen, wenn ein Mitarbeiter gefährdet sein könnte. Für einen Betrieb sei das auch eine Kostenfrage: Die Betroffenen fallen lange aus. Sogar Krankschreibungen von 52 Wochen, auf die eine interne Umsetzung auf eine andere oder eine halbe Stelle folgte, habe es schon gegeben. Die eine oder andere Invalidenverrentung wegen Burn-out gab es auch.
Richtig verstanden wurde die Problematik mit ihren Ursachen und Wirkungen bisher noch nicht. „Es liegt nicht etwa nur am Patron, der immer mehr verlangt“, sagt die ASTF-Chefin. Die Sachverhalte seien „komplexer und persönlichkeitsbezogen“, da Burn-out-Opfer sich ja aus scheinbar freien Stücken verausgaben. Man könne eigentlich sogar behaupten, dass im Finanzwesen noch nie so wenig gearbeitet wurde wie heute, wo tarifvertraglich 33 Tage Jahresurlaub garantiert sind. Und trotzdem nehmen die Probleme zu.
Dass der Patron nicht viel verlangen würde, wäre allerdings ebenfalls ein Trugschluss. „Der Leistungsgedanke wird in der Branche immer ausgeprägter.“ Immer öfter, weiß Thiry-Curzietti, werden die Mitarbeiter am Jahresende einer Bewertung unterzogen. „Da reicht es nicht, gut gewesen zu sein. Man muss besser gewesen sein als im Jahr zuvor.“ Zunehmend häufiger fänden auch externe „Reportings“ über Bankangestellte durch die Mutterhäuser im Ausland statt. „Da bewerten dann Manager aus Frankfurt, London oder New York Leute von hier, denen sie noch nie in ihrem Leben begegnet sind.“ Die Kooperation innerhalb der Belegschaft fördere so etwas nicht: „Eigentlich sollen sie ein Team sein. Aber warum sollte, wer individuell bewertet wird, sich nicht individualistisch verhalten?“
Gleichzeitig habe im Finanzwesen das Zugehörigkeitsgefühl unter den Mitarbeitern zum Betrieb abgenommen. „Früher wusste man, wenn man mit zwanzig in einer Firma anfing, dass man mit sechzig dort als Pensionär ausscheiden würde. Das traf für alle zu.“ Heute dagegen sei, wer von der Uni kommt, von vornherein darauf eingestellt, nur ein paar Jahre im Unternehmen zu bleiben, danach zu wechseln und so fort. Für Thiry-Curzietti ist das der „Zeitgeist“, dem nicht nur Finanzplätze unterlägen. Aber vielleicht werden ja dort besonders viele Einzelkämpfer produziert, die irgendwann zusammenbrechen, weil ihnen ihre Arbeit fremd geworden ist und die Sorgen um den Job und ob man noch gut genug dafür sein wird, zu groß geworden sind?
Für die stark internationalisierten Unternehmen vor Ort ist es nicht unbedingt einfach, gegenzusteuern, wenn Entscheidungen über Restrukturierungen im Ausland getroffen werden und Evaluations- und Reporting-Modelle zu den Leistungen der Mitarbeiter ebenfalls von den Mutterhäusern eingeführt wurden. Die Luxemburger Betriebe würden auf der Ebene ihres mittleren Managements viel unternehmen, meint die ASTF-Chefin, damit vor allem dort das Problembewusstsein für psychische Gesundheit am Arbeitsplatz wächst. Der arbeitsmedizinische Dienst versuche, eine „Plattform“ für Betroffene wie für die Firmen zu sein. Seine Chefin gibt sich überzeugt, dass es gelingen werde, die Situation zu verbessern, nennt sich selber jedoch eine „Optimistin“.