Es suppt an diesem Mittwoch an Vokalöffnungen der Infinitiv-Endungen, ein harter „ei“-Diphtong wird zum Monophtong „ähhhh“ überspannt, so manche Syntax wird mit einem Stellvertreter-„es“ auf den Kopf gestellt: „E:s i:s äään stäändig Di:chtan“. Die luxemburgische Darstellerin Josiane Peiffer und der österreichische Mime Nikolaus Haenel rezitieren aus der literarischen Tradition der Wiener Kaffeehaus-Dichtung unter dem Schlagwort Kaffeehaus ist Weltanschauung!. Das Duo führt mit den Texten namhafter Autoren dieses wienerischsten aller Intellektuellentreffs durch sehr unterschiedliche Stimmungsbilder: melancholische Gedichte von Theodor Kramer, Endzeitprosa von Joseph Roth, subtil komische Anekdoten von Egon Friedell, Beobachtungen von Franz Werfel.
Es wird den Literaturfreund kaum wundern, dass der melancholische Weltschmerz der Wiener Literatur der Jahrhundertwende eine tragende Rolle spielen dürfte. Interessanterweise kann man dieser Kasemattentheater-Produktion jedoch auch zutiefst komische Töne abgewinnen, für die Autoren wie Friedell, Altenberg und Alfred Polgar verantwortlich zeichnen. „Das Café Central ist eine Weltanschauung, und zwar eine, deren innerster Inhalt es ist, die Weld nicht anzuschauen“: Mit diesen Worten etwa stellt Polgar spöttisch wie selbstironisch fest, wie sehr sich so mancher Kaffeehaus-Besucher als selbstgefälliger Küchenphilosoph in diese Welt des Kurzen Schwarzen und der Schaumschnittchen eingeigelt hat. Unter zahlreichen Umschreibungen dieser geistig-kulturellen Einzelgänger bietet sich auch Anton Kuhs Perspektive an: „Ein Mensch, der Zeit hat, im Kaffeehaus darüber nachzudenken, was die anderen draußen nicht erleben.“ Das Kaffeehaus sei der ideale Ort für Menschen, die nach Geselligkeit suchten, um hier zugleich eine bizarre Art des individuellen Alleinseins zu ritualisieren. Ein Genuss ist es, Haenel zuzuhören, wie er die artikulatorischen Vorgänge der wienerischen Mundart höherer Kreise in seine Einzelbestandteile zerlegt (Lenin und Demel von Anton Kuh).
Dieser Abend im karg, aber gesellig eingerichteten Kasemattentheater bietet ein Potpourri an leisen Tönen und subtiler Komik. Es wird zugehört, es wird mehrheitlich geschmunzelt, vereinzelt gelacht. Mit Genuss stellt der Zuhörer fest, mit welcher selbstverständlichen Ironie Kaffeehaus-Autoren ihre kulturelle Selbstgefälligkeit feiern und sie gleichzeitig karikieren. Die völlige Renitenz gegen jegliche Form der Fortschrittlichkeit, der Abwechslung oder Öffnung nach außen hin wird seitenweise als Grundton der Wiener Intellektuellen unterstrichen und zugleich belustigt zur Kenntnis genommen.
Doch endet der Abend nicht in jenem erfrischenden Ton der feinen Komik – er endet mit Joseph Roths Texten Die Totenmesse und Epilog/Exil, die ihrerseits an eine besonders bemerkenswerte Beobachtung Franz Werfels mit Die Stimme des Kanzlers schließen. In diesem Kurztext wird die Verwobenheit österreichischer Identität mit der Kaffeehaus-Tradition am gemeinsamen Absturz anlässlich des scheidenden Kanzlers Kurt Schuschnigg im Jahre 1938 deutlich: „In diese Musik Haydns war sein altes Kaiserlied mit eingewoben. Nicht nur die Gäste des Kaffeehauses verschwanden einer nach dem andern, sondern auch die Kellner, bis auf den schlohweißen gichtigen Ober, der mir wissend zunickte.“
Josiane Peiffer und Nikolaus Haenel laden mit ihrem Auftritt ein, die Literatur der Wiener Moderne neu zu lesen, gerade auch jenseits der bekannten Melancholie, die der Leser zurecht mit Kaffeehaus-Literatur in Verbindung bringt, deren Fokussierung jedoch einschränkend wirkt. In Zusammenarbeit mit der Kulturfabrik ist den Verantwortlichen dieser kleinen aber feinen Lesung ein ruhiger, ein atmosphärischer, ein guter Abend gelungen.