Über die Maison Relais wird seltsam undifferenziert diskutiert. Die Debatte spiegelt Angst vor gesellschaftlicher Veränderung wider

Bauchgefühl

Bewegung für die Drei- bis Sechsjährigen
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 17.01.2025

„Je suis convaincue, en effet, qu’un des problèmes de notre école sont les horaires saccadés. Dans cette nouvelle école, les horaires s´étaleront sur la journée, ce qui permettra aux enseignants de mieux connaitre leurs élèves.“ Ehemalige LSAP-Bildungsministerin Mady Delvaux-Stehres, 19.08.2004,Voix du Luxembourg.

Die Folge schlug ein. Drei Tage nach dem Kleeserchersdag erklärte der Psychologe und ehemalige Präsident der Menschenrechtskommission Gilbert Pregno in einer Folge des Background auf RTL, ein „Eltern-Führerschein“ sei sinnvoll. Immerhin bräuchte man ja auch einen Führerschein, um mit dem Auto zu fahren. Es folgte ein kleiner Shitstorm von empörten Eltern. 53 Minuten lang kommt Pregno auf das Kindeswohl hierzulande und die brisantesten Erziehungsfragen zu sprechen, etwa die Zeit, die Kinder in Betreuungsstrukturen verbringen. Wer sich das anhört, könnte meinen, man lebe in einem strukturschwachen Land, in dem die meisten Sprösslinge vernachlässigte Kinder sind, die in unangepassten Strukturen mit schlecht ausgebildetem Personal zwölf Stunden lang von verantwortungslosen Eltern geparkt würden. Pregno lässt sich in diesem Zusammenhang zur Aussage hinreißen, dass Kinder, die zu viel Zeit in den Maison Relais verbringen, spätestens als Jugendliche unglücklich sind. Mehrmals unterstreicht er, er sei kein Forscher, sondern ihn interessiere der „Einzelfall“. Die Rede geht immer wieder von „vielen“ sehr stark fremdbetreuten Kindern. Eine Vorschullehrerin wird mit den Worten zitiert: „Natürlich gibt es noch gute Eltern, nur leider nicht mehr soviel.“

Ein paar Wochen später zeigt sich Gilbert Pregno im Gespräch mit dem Land ein wenig erstaunt über seine Aussage über den unglücklichen Jugendlichen. „Habe ich das gesagt?“ Er relativiert etwas, und wiederholt, er würde sich kein Urteil über Alleinerziehende, die keine andere Wahl haben, erlauben. Stand er als Vater selbst vor mehreren Jahrzehnten um 10 vor 4 pünktlich vor der Schule? Ja, antwortet er. Nicht im gleichen Maße wie seine Frau, aber dennoch. Er gesteht, dass Eltern heute stark unter Druck stehen.

43 837 Kinder zwischen drei und zwölf Jahren werden in einem Service d’éducation et d’accueil agréé pour enfants scolarisés (SEAS) betreut (Stand Oktober 2024), also etwa die Gesamtbevölkerung von Esch/Alzette und Steinfort zusammengerechnet. Vor einem Jahr lag der Prozentsatz der eingeschriebenen Kinder bei 61 Prozent. Im Dezember 2005 gab es 87 Maison Relais, im Oktober 2024 lag diese Zahl bei 367, eine Vervierfachung. Dass über die eigenen Kinder nicht ohne Emotion, nicht ohne eigene Wertvorstellungen gesprochen werden kann, ist verständlich. Wie pauschal und undifferenziert die Debatte angesichts dieser gesellschaftlichen Realität auf allen Kanälen vonstatten geht, ist dennoch einzigartig. Im Podcast zu Erziehungsthemen 1000 Deeg erklärt die deutsche Psychologin Veronika Verbeek in der Folge „Fremdbetreuung: Hilfe oder Risiko?“ im Kontext einer fehlenden Eingewöhnung im Précoce, ihr scheine es, als würden „eigentlich alle Errungenschaften der Bindungstheorie in Luxemburg außen vorgelassen“. Sie wirft insgesamt die Frage auf, ob die Entwicklungsypsychologie ausreichend in die politischen Überlegungen zur Kinderbetreuung einbezogen werden.

Wie wichtig die Bindung zwischen Kindern und Eltern ist, stellt heute niemand mehr ernsthaft infrage. Ohne dieses Fundament wird ein Kind seinen Weg durchs Leben kaum finden. Bindung entsteht außerhalb der Familie langsam zu anderen Bezugspersonen, etwa Erzieher/innen. Dass Kinder nicht zwölf Stunden außer Haus betreut werden sollten, leuchtet ebenfalls allen ein. Weder das Erziehungspersonal in den Maison Relais noch die allermeisten Eltern wünschen sich das für ihre Kinder. Alle sind sich einig, dass die Qualität der pädagogischen Betreuung äußerst wichtig ist, dass der Erziehermangel ein reales Problem ist. Doch die Debatte ist von einem Phantom gekapert worden, das aufgrund der sehr dünnen Forschungslage weder Wissenschaft noch Anekdoten aus der Praxis bestätigen: die „sehr viel fremdbetreuten Kinder“ und wie schlimm das doch alles sei. Die einzigen, die davon profitieren, sind die ADR und die CSV, die das Thema politisch ausschlachten.

In Mamer scheint am Montagmittag die Sonne, die Kälte klirrt. Die Kinder laufen auf dem Kinneksbond aus der Schule in das Backsteingebäude der Maison Relais. Im Gebäude des Cycle 1 (Drei- bis Sechsjährige) wuseln die Kinder durch die verschiedenen Räume der Einrichtung. 150 Kinder besuchen dieses Haus, knapp 500 Kinder der Gemeinde sind insgesamt in der von Arcus geführten Maison Relais eingeschrieben, von etwa 700 Schüler/innen. Im Bewegungsraum hängen zwei Kinder in Aerial-Tüchern von der Decke; im Rollenraum, das wie ein Zuhause eingerichtet ist, steht ein Mädchen und wickelt eine Babypuppe, ein Junge gibt ihr Tipps. Der Lärmpegel variiert je nach Raum und Kinderanzahl, mal ist es lauter, mal sehr ruhig. Nebenan im Bauraum werden raketenähnliche Konstruktionen erschaffen. Hinter einer verschlossenen Tür neben dem Essensraum befindet sich das „Stäreland“. Ein paar Betten stehen dort, es ist dunkel. In einer Ecke sitzt eine Erzieherin und liest einer Handvoll Mädchen eine Geschichte mit einer Taschenlampe vor. Sie hören aufmerksam zu. Ein Mädchen hat sich alleine in ein Häuschen in die Ecke zurückgezogen. Die Erzieherin klappt das Buch zu, es ist Zeit zum Essengehen. Im Restaurant Frupsi gibt es circa 40 Plätze, die gestaffelt eingenommen werden. Die Kinder haben anderthalb Stunden Zeit, essen zu gehen – den Zeitpunkt können sie frei wählen. Der Ablauf wurde so geregelt, dass die Kinder ihr Foto von der roten (noch nicht gegessen) zur grünen Tafel schieben, wenn sie ihre Mahlzeit eingenommen haben.

Das Essen und seine Organisation sorgt vor allen Dingen bei kleinen Kindern für Diskussionsstoff. Können, sollen Dreijährige sich selber aussuchen können, wann sie essen, was sie essen? Zuviel Autonomie bei den Kleinsten macht wenig Sinn und führt zu Überforderung. In manchen Maison Relais wird in dieser Alterssparte das Essen auf den Tisch gestellt, ohne Selbstbedienung. In Mamer surren zwei bis drei Erzieherinnen ständig um die Kinder herum, helfen ihnen, sich die Mahlzeit am Buffet auf den Teller zu heben, bieten ihnen Wasser oder Nachtisch an. „Wir halten ein Auge drauf, dass ein Gemüse auf dem Teller liegt“, sagt Sarah, eine Erzieherin, die das Mittagessen heute begleitet. Das Team würde die Kinder motivieren, Neues zu probieren. Von den Anwesenden essen tatsächlich fast alle ihre Möhren und Tomaten auf. Lee, vier Jahre alt, Amin, fünf, und Tom, fünf, sitzen an einem kleinen Tisch. Sie unterhalten sich über Fußball. Kommen sie gerne her? Ja, antworten sie.

Im neuen, ganz in Holz ausgekleideten Gebäude beteiligen sich Kinder zwischen neun und zwölf an Werkateliers, klettern an Boulderwänden hoch und tanzen im Theatersaal. Es entsteht der Eindruck eines Jugendhauses, nur mit hervorragender Infrastruktur. Im Kreativraum spielen vier Kinder eine Runde Karten mit ihrer Erzieherin. Das Verhältnis zwischen ihnen wirkt locker, freundschaftlich. Marie würde lieber nach Hause gehen als herzukommen, weil sie sich dort anders beschäftigen könne, erzählt sie. „Verständlich“, wirft die Erzieherin ein. Im Bauraum haben Luisa und Helena einen Zoo mit Tierfiguren gebaut. Die Löwen stehen gleich hinter den Giraffen. „Ich bin lieber hier als zuhause, denn dort bin ich allein“, sagt Luisa.

Großangelegte Studien zu den non-formalen Bildungseinrichtungen gibt es bisher nicht, dabei wären sie dringend nötig, um die Diskussion differenzierter führen zu können. Laut Daten des Bildungsministeriums lag der Prozentsatz der dreijährigen Kinder, die überhaupt eine Maison Relais in Anspruch nehmen, im Januar 2024 bei 31 Prozent. Bei Vierjährigen, die zur Schule gehen müssen, springt er auf 65 Prozent, um bei maximal 70 Prozent bei Siebenjährigen zu stagnieren. Dann verringert er sich graduell wieder. Knapp über die Hälfte der Elfjährigen gehen noch in eine SEAS, nur noch 23 Prozent der Zwölfjährigen. Daten des Trägers Arcus, erhoben im März 2023 in den Gemeinden Niederanven, Bourscheid und Echternach, zeigen, dass lediglich 5,71 Prozent der Kinder mehr als fünf Stunden pro Tag in der Maison Relais verbrachten. (46 Prozent der Kinder in Crèches waren dort zwischen 20 und 40 Stunden wöchentlich eingeschrieben, lediglich sieben Prozent blieben länger.) Franz Reuter, der die Maison Relais der Croix-Rouge in Lorentzweiler verwaltet, zeichnet heute ein ähnliches Bild. Von den 350 Kindern bleiben weniger als zehn Prozent nach 17.30 Uhr. „Für manche Kinder ist ein solcher Tag natürlich trotzdem lang“, räumt er ein.

In Mamer sitzen Hélène Weber, stellvertretende Direktorin von Arcus, Christian Haag, der die pädagogische Qualität weiterentwickelt und die beiden Direktionsbeauftragten Elisabeth Michaelis und Myriam Schmitz an einem Tisch. Hélène Weber beklagt die pauschalisierenden Aussagen in der Diskussion, und dass aus einem Bauchgefühl heraus argumentiert wird. Es herrsche großes Unwissen darüber, was in den Strukturen passiert. „Wichtig ist, dass die Angebote altersgerecht sind. Und dass immer geschaut wird: Was braucht dieses Kind gerade?“ Wie realistisch ist individuelle Betreuung und emotionale Zuwendung bei einem im Vergleich zum Ausland eher niedrigen Betreuungsschlüssel von 1:11? „Sensibilität entwickeln wir durch Beobachtung“, sagt Christian Haag. In der Background-Folge auf RTL ging es auch um „Missbrauch“ der Strukturen durch Eltern. „Wenn ich in Teilzeit arbeite, nachmittags zum Pilates oder in den Wald spazieren gehe und dann mein Kind ausgewogener abhole – wo ist da der Missbrauch?“, lehnt sich Hélène Weber aus dem Fenster. Sie wehrt sich gegen die belehrende Art und Weise, Eltern ein schlechtes Gewissen zu machen. „Die wenigsten übertreiben.“ „Was hinter dieser Diskussion steckt, ist die Idealvorstellung einer Familie, die es nie gegeben hat“, meint Christian Haag.

Natürlich ist es auch eine Frage des sozioökonomischen Hintergrunds. In sozial schwächeren Vierteln sind der finanzielle Druck und die damit einhergehenden Probleme in den Familien größer. Das kann einen Einfluss auf die Art und Weise, wie die Strukturen genutzt werden, haben. „Kinder, deren Eltern sie lieber in einer Struktur abgeben, sind vielleicht besser in der Maison Relais aufgehoben“, sagt Helène Weber von Arcus. Die Studienlage der Uni.lu belegt, dass Kinder, die eine schwierige Familienlage haben und eine qualitativ hohe Betreuung in der Maison Relais, positive Effekte verzeichnen. Das Gegenteil stimmt ebenfalls: Ist die Betreuung schlecht und die Situation zuhause gut, käme es den Kindern zugute, zuhause zu bleiben.

In Deutschland funktionieren Grundschulen mit gestaffelten Mittagspausen und Klassen von 8 und 15 Uhr. Ganztagsschulen, die mit einer Mischung aus formaler und non-formaler Bildung diese Art von Betreuung anbieten, gibt es derzeit drei in Luxemburg. Das Bildungsministerium ist nicht daran interessiert, sie auszubauen. Stattdessen sieht der Koalitionsvertrag der schwarz-blauen Regierung das „rapprochement“ zwischen Schule und Maison Relais vor. Man kann es als eine Art Ganztagsschule durch die Hintertür verstehen, ein Lückenfüller, um nicht an den fast religiös verankerten Schulzeiten rütteln zu müssen. Am stärksten wird diese Zusammenarbeit in neuen Gebäuden, etwa der Schule Lenkeschléi in Düdelingen, umgesetzt. Dort bewegen sich Lehrpersonal und Erzieher jeweils stundenweise im Bereich des anderen. Josée Lorsché, grüne Schöffin in Bettemburg, verstärkt die Kollaboration auch in ihrer Gemeinde. Dennoch sagt sie: „Wenn ich einen Traum hätte, wäre es, dass die gesamte Schulorganisation umgebaut wird, um der gesellschaftlichen Realität gerecht zu werden.“

Die Entwicklung der non-formalen Bildung ist vergleichsweise jung. Unter CSV-Familienministerin Marie-Josée Jacobs wurden vor knapp zwanzig Jahren die Strukturen, die bis dorthin Foyer hießen, in einer procédure d’urgence Maison Relais getauft und das entsprechende großherzogliche Règlement dazu geschaffen. Die Idee war, die Betreuung der Kinder in Anbetracht der gesellschaftlichen Realität, dass beide Elternteile arbeiten, flexibler zu gestalten. Kinder sollten auch stundenweise in die Maison Relais gehen können. In den darauffolgenden Jahren wurde in den Gemeinderäten des Landes äußerst viel diskutiert, dann investiert und gebaut. Konventionen wurden mit der Croix-Rouge, der Caritas und anderen Trägern unterschrieben. Damals war noch von „Kinderauffangstrukturen“ die Rede, als seien die Kinder im freien Fall und man müsse eben mal schnell ein Rettungsnetz unter sie aufspannen. Heute nennt man die Strukturen „Fremdbetreuung“. „Mich stört der Begriff sehr. Wir bauen eine Beziehung zu den Kindern auf. Die Diskussion ist völlig defizitorientiert“, sagt Franz Reuter. Alle Erzieher erklären im Gespräch, die Sensibilisierung der Eltern sei fundamental. „Wenn wir den Eindruck haben, es geht einem Kind nicht gut und es sollte früher abgeholt werden, sprechen wir das an.“

Doch eigentlich sei das Ganze ein Platzhalter. „Die Debatte um Arbeitszeiten wird auf dem Rücken der Strukturen ausgetragen“, sagt Franz Reuter. Eigentlich geht es darum, wie man im 21. Jahrhundert gleichberechtigt Beruf und Familie vereinbart. Die unbezahlte Arbeit, sowohl der Haushalt als auch die Sorgearbeit, die Erwerbstätigkeit überhaupt erst möglich machen, sind in die Stundenzahl von zwei in Vollzeit arbeitenden Eltern schlicht nicht mit einberechnet. Die französische feministische Autorin Élisabeth Badinter nennt diese Rechnung die „quadrature du cercle“: Sie kann nicht aufgehen. Der Druck des Wohnungsmarktes tut sein Übriges, die Zeit fehlt hinten und vorne.

„Mein Mann und ich haben in den ersten Jahren finanzielle Einbuße für die Kindererziehung in Kauf genommen“, führt Veronika Verbeek im Podcast 1000 Deeg aus. „Ich denke, man sollte als Eltern Mut haben, auch wenn man das Haus fünf Jahre später baut, auch wenn Häme kommt, die Couch ein bisschen älter ist, sich die Zeit zu nehmen.“ Eine Reflexion über die eigene privilegierte Stellung als mutmaßliche Akademiker-Familie, die sich Teilzeit leisten kann, bleibt aus. Das ist charakteristisch für die Diskussion. Die Illusion der Wahlfreiheit, die eine Minderheit wahrnimmt, wird auf die gesamte Gesellschaft verallgemeinert. Dabei sind immer mehr Menschen, nicht nur die Putzfrau und der Bauarbeiter, damit beschäftigt, irgendwie die Miete zu zahlen – von Hauskauf und Häme ganz zu schweigen.

Sarah Pepin
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