Es ist die drängendste pädagogische Frage unserer Zeit. Wieviel Zeit sollen Kinder und Jugendliche vor dem Bildschirm verbringen, und was machen sie in dieser Zeit konkret? Seit 2011 ist Medienbildung durch eine großherzogliche Verordnung als transversale Kompetenz im Lehrplan der Grundschule verankert. Schenkt man dem kurz vor den Wahlen publizierten Whitepaper für den neuen Lehrplan Glauben, soll „Digitalität“ auch ein von vier Hauptthemen im neuen Lehrplan der Grundschule sein, der für 2025 angekündigt ist – neben Partizipation, Mehrsprachigkeit und Wohlbefinden. Seit 2020 werden die Köpfe im Koordinations- und Rechercheorgan Script des liberal geführten Bildungsministeriums mit verschiedenen Schulpartnern zusammengesteckt, um dem Fondamental einen „neuen Rahmen“ zu geben. Dabei geht der erste Punkt im Whitepaper eindringlich auf die großen gesellschaftlichen und geopolitischen Veränderungen in der Welt ein, die sich auch in der Bildung widerspiegeln. Auch geht die Rede von Digitalität, nicht Digitalisierung – ein Begriff, der sich auf die neu geschaffenen sozialen und kulturellen Realitäten um den digitalen Wandel bezieht.
Die Schule sehe sich „verpflichtet“, den Kindern digitale Kompetenzen beizubringen, um sie auf die Zukunft vorzubereiten, „schrittweise“ und „altersgerecht“ , heißt es. Dabei wird unterschieden zwischen der éducation par les médias (regelmäßiger Einsatz von Medien im alltäglichen Lernprozess) und der éducation aux médias (der verantwortungsvolle Umgang mit diesen Medien). Weiter soll die Integration der digitalen Technologien „pädagogisch sinnvoll und zielführend“ zum Vorteil von Schülern und Lehrpersonal benutzt werden. Viel konkreter wird es im ersten Vorgeschmack auf den neuen Lehrplan nicht – man werde sich an den 2022 erschienenen Medienkompass halten, der sich wiederum auf europäische Referenzrahmen bezieht und genauere digitale Kompetenzen festlegt und Beispiele aufzählt – allesamt ab dem Cycle 3. Soviel zur Theorie.
In Luxemburg gibt es – wie im Ausland – kaum Daten zum Einfluss von digitalen Lehrmitteln auf die Schüler/innen. Das liegt zum einen daran, dass laufende Recherchen zu neuen Lehrmethoden schwierig sind, Ursachen und Wirkung sehr komplex agieren. Schüler existieren nicht in einem Vakuum, externe Faktoren können die Forschung beeinflussen. „Wie messen wir den Erfolg einer Maßnahme, etwa den Einsatz eines digitalen Tools? Das hängt eng mit Bildungszielen zusammen“, sagt Bob Reuter, Assistenzprofessor an der Uni.lu. Eine „Hauptwirkungsforschung“ gibt es in der Bildungswissenschaft nicht. Recherchen müssen sehr gezielt und präzise erfolgen. Fest steht: Benutzt man ein I-Pad auf die exakt gleiche Weise, wie man vorher ein analoges Übungsblatt genutzt hätte, birgt es keinen Mehrwert. „Wenn es darum geht, auswendig zu lernen, was die Lehrerin sagt, stellen die neuen Technologien eher eine Ablenkung dar.“ Klassischer Frontalunterricht könne damit nicht mehr funktionieren. Wenn man sich jedoch davon wegbewege und die Entwicklung von Fähigkeiten in den Vordergrund stelle, könnten sie hilfreich sein. Die Forschung hierzulande fokussiert sich denn auch darauf, zu schauen, wie das Lehrpersonal die neuen Technologien nutzt. Bob Reuter erklärt, die meisten Lehrer/innen kämen mittlerweile gut mit den Tools klar. Allerdings wüssten viele immer noch nicht, was sie genau damit machen sollen.
In Schweden hielten erstaunte neunjährige Schüler kürzlich zum ersten Mal wieder ein analoges Schulbuch in den Händen. Die liberale Bildungsministerin Lotta Edholm hat einen „Rollback“ der Digitalisierung angekündigt; seit mehreren Jahren waren Grundschüler/innen exklusiv mit digitalen Büchern, Laptops und I-Pads beschult worden. Grund für das Umdenken war ein Gutachten einer medizinischen Universität, das das Erreichen von den angestrebten Bildungszielen infrage stellte. Im Dezember vergangenen Jahres haben eine Reihe deutsche und Schweizer Professor/innen und Ärzt/innen einen offenen Brief unterschrieben, der ein IT-Moratorium für Kindergärten und Schulen fordert. So weit ist man mit der Digitalisierung in Luxemburg nicht. Die Situation in den Klassensälen gestaltet sich in der Praxis sehr unterschiedlich, was nicht nur mit der ungleichen Ressourcenverteilung zu tun hat. Wie so oft, steht und fällt es mit der Lehrerpersönlichkeit. Ist sie motiviert, entwicklungsfähig und pädagogisch versiert, kann der verantwortungsvolle Umgang mit den digitalen Medien klappen.
Ein Lehrer an einer sozial eher benachteiligten Schule im Süden des Landes etwa bedauert, manch eine digitale Innovation des Ministeriums werde eingesetzt, bevor sie funktionstüchtig sei. Ein Beispiel hierfür sei das E-Bichelchen, das das analoge Hausaufgabenbüchlein ersetzt, jedoch zu Beginn kaum funktioniert hat. Er ziehe das analoge Bichelchen vor, auch weil die digitale Version einen Mangel an Autonomie für Kinder darstelle, denn der Lehrer trägt die Hausaufgaben für das Kind ein. 2020 sind flächendeckend Coding-Kurse eingeführt worden. „Im ersten Jahr wussten die Wenigsten, was das genau ist. Wir mussten uns das Fach selbst aneignen.“ Im Klassensaal benutzt er mit seinen Achtjährigen eine interaktive Tafel und regelmäßig I-Pads, Letztere zum Beispiel für Google Maps und Lern-Apps. Dabei teilen sich drei Schüler ein Gerät.
Er beobachtet, dass Schüler, die zuhause viel vorm Bildschirm sitzen, einen anderen Umgang mit den Geräten hätten. Sie seien – rein anekdotisch – nicht insgesamt weniger konzentriert, landeten aber schneller auf YouTube oder bei Aktivitäten, die nichts mehr mit dem Unterricht zu tun haben. Schüler, die zuhause nicht dauernd am I-Pad spielen dürften, hätten auch im Unterricht eher die Tendenz, das Hilfsmittel für die geplante Aufgabe zu benutzen. „Es ist wichtig, dass die Kinder begreifen: Wir machen Französisch, nicht I-Pad. Wir nutzen das I-Pad, um etwas im Französischunterricht zu erörtern.“ Positiv sei, dass er durch Lern-Apps schneller Feedback bekomme, und dahingehend die Aufgabenstellung und Arbeitsaufteilung des Schülers effizienter anpassen könne.
Eine Lehrerin in einem gut situierten Viertel der Hauptstadt arbeitet mit ihren Achtjährigen hingegen kaum mit digitalen Tools. Sie benutzt lediglich ein eigenes Laptop, um E-Mails von Eltern zu lesen. Der Beamer kommt zum Einsatz, um Übungen an die Wand zu projizieren. Es gebe zwar I-Pads, aber die Ressourcen seien limitiert. Wenn sie – selten – zum Einsatz kommen, sei das mit viel Aufregung bei den Kindern verbunden. „Die Kompetenzen sind sehr unterschiedlich: Die einen suchen ewig nach einem Buchstaben, die anderen sind sehr versiert.“ Manche Schulen könnten sich den Zugang zu interessanten Lern-Apps leisten. Bei Antolin, einer Lesespiele-App, stelle sich zum Beispiel ein positiver Konkurrenzkampf bei den Schülern ein, wer mehr gelesen hat. Da manche Lehrkräfte ihren Laptop kaum nutzten, geht sie davon aus, dass sie auch sonst keine digitalen Hilfsmittel in der Unterrichtsgestaltung einsetzen. In den Bilan-Gesprächen fragten vor allem Väter, wann die Kinder denn Coding erlernen würden.
Menschen, die die Digitalisierung in der Grundschule – und insgesamt der Kindheit – skeptisch sehen, wird schnell Rückwärts-Gewandtheit vorgeworfen. Auf politischer Ebene ist es den Rechten überlassen worden, die gute alte Zeit zu beschwören, als Kinder noch mehr draußen spielten und vermeintlich kaum fernsahen. Die ADR wollte im Wahlkampf Smartphones an Schulen verbieten und der Digitalisierung mit einem Back-to-Basics des Lesens und Schreibens trotzen. Allein Déi Lénk sprach in ihremWahlprogramm die „psycho-mentalen und sanitären Risiken“ einer starken Bildschirmnutzung an.
Ein Grundschulumfeld, das garantiert komplett bildschirmfrei ist, ist die Waldorfschule in Limpertsberg. Das pädagogische Konzept dort schließt den Bildschirm bis zum Lyzeum kategorisch aus. „Wir arbeiten wie früher, bevor die Entkörperlicherung begann“, sagt ein Mitglied der Schulorganisation. Dabei handle es sich nicht um einen ideologischen Widerstand gegen Technologie, sondern das Resultat einer andauernden, stetigen Reflexion über die Nutzen und Risiken. Zukunftskompetenzen wie Kreativität und Kollaboration würden in der Waldorfpädagogik hinreichend gefördert – und es gebe auch junge Menschen, die nach ihrer Zeit an der Waldorfschule erfolgreich Informatiker werden.
Obwohl es um Werte und um Grundsätzliches geht, wird die politische Diskussion um Digitalisierung oft quantitativ geführt. Das heißt, dass die Anzahl an Geräten, die in den Schulen zur Verfügung stehen, vordergründig ist. Das klingt gut, denn man geht mit der Zeit, man wappnet Kinder für die Zukunft. Nachdem Schulen sich auf eine gewisse Anzahl an Geräten geeinigt haben, stellt die zuständige Gemeinde ihnen im Idealfall das gewünschte Kontingent zur Verfügung. Mit Sicherheit ist die Hardware wichtig, doch dadurch bleibt die Diskussion an der Oberfläche. Die LSAP wiederholte vor den Wahlen oft, wie wichtig die Schule als sozialer Lift sei. In der Digitalisierung ging die Überlegung verkürzt ein bisschen so: Wenn alle Schüler Zugang zu I-Pads haben, ist die digitale Bildungsgerechtigkeit auf diese Weise schon mal erreicht. Denn natürlich tut sich der sozioökonomische Graben auch bei diesen Fragen auf. Der schulische Alltag ist nur ein Teil des Lebens eines Kindes. Wer zuhause auf engem Raum zusammensitzt und weniger Ressourcen hat, um den Kindern andere Aktivitäten zu bieten, greift mitunter schneller zum Tablet als Babysitter und weiß oftmals weniger, was die Kinder damit treiben. (Der Markt für elterliche Kontroll-Apps wie Bark und OurPact boomt.) Auf der anderen Seite gibt es bildungsferne Familien, die das Geld für ein Tablet vielleicht gar nicht erst haben und ihren Kindern darauf auch keine hochwertigen Lehrmaterialen anbieten können.
Die Richtlinien für adäquate Bildschirmzeit bei Kindern variieren. Die WHO verkündete 2019, Kinder unter zwei Jahren sollen gar keinen vor die Nase bekommen, zwischen zwei und vier Jahren nicht mehr als eine Stunde täglich, weniger sei besser. Der britische National Health Service spricht von einem Maximum an zwei täglichen Stunden für alle Kinder. Augenärzt/innen empfehlen gar keinen Bildschirm vor drei Jahren, ähnlich wie der französische Psychiater Serge Tisseron, der die 3-6-9-12-Regel aufstellte: kein Bildschirm vor drei Jahren, kein Videospiel vor sechs, kein Internet vor neun und kein Internet ohne Eltern vor zwölf Jahren. Letztere Dimension wird von Experten immer wieder betont: Elterliche Supervision, also das gemeinsame Schauen und Begleiten der Inhalte, ist von großer Bedeutung – ebenso wie geeignetes altersgerechtes Material. Dass Eltern Unterstützung brauchen, hat auch das Bildungsministerium erkannt. Seit vergangenem Jahr liegen regelmäßig Flyer der Eltreforen zur Erziehung im Briefkasten, die auch auf Bildschirmzeit eingehen. Ob sie von den Familien gelesen werden, die sie am meisten brauchen?
Tatsächlich hat niemand „beschlossen“, dass wir nun alle von morgens bis abends vereinzelt auf unsere Bildschirme starren. Der deutsche Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs sagte kürzlich in einem Gespräch im SRF, wir würden die zentralen Fragen, was wir eigentlich mit der Digitalisierung wollen, gar nicht stellen. Es herrsche eher das Gefühl eines Ausgeliefertseins vor. Niemand wisse so genau, wo es hingeht. Da ist es bezeichnend, dass Entwickler im Silicon Valley, die dafür zuständig sind, Plattformen und Smartphones so zu gestalten, dass sie das größtmögliche Suchtpotenzial entfalten, ihrem Nachwuchs in Kindheitsjahren den Zugang zur Technologie verwehren oder ihn stark einschränken. Sie hüten sich vor den möglichen Effekten von zu viel Screentime: Übergewicht, Konzentrations-, Schlaf- und Verhaltensprobleme sowie kognitive Entwicklungsverzögerungen, zum Beispiel beim Spracherwerb. Bei älteren Kindern und Teenagern steigt das Risiko für Angstzustände und Depressionen, vor allem, sobald Social Media ins Spiel kommt.
Die Entwicklung ist eindrücklich. 1970 waren Kinder erst ab vier Jahren regelmäßig Medien ausgesetzt, fast 50 Jahre später liegt die Zahl bei vier Monaten. Dem Radar 2024 von Beesecure nach kommen 35 Prozent der Kinder vor dem Alter von vier Jahren mit einem Gerät mit Internetzugang in Berührung. 30 Prozent der Drei- bis Elfjährigen haben ein eigenes Tablet; mit zwölf Jahren haben 86 Prozent der Kinder ein eigenes Smartphone. Gleichzeitig gaben 50 Prozent der befragten Eltern an, ihr Kind zwischen drei und elf Jahren habe überhaupt kein eigenes digitales Gerät.
Was folgt aus all dem für die Schule? „Schule ist inhärent reproduktiv“, sagt Bob Reuter. Ohne Widersprüche lasse sich nicht über sie nachdenken. Sie versucht, Kinder und Jugendliche mit der Vergangenheit zu verbinden und sie gleichzeitig auf die Zukunft vorzubereiten, eine Zukunft, die heute schwerer greifbar ist: 65 Prozent der jetzigen Grundschüler werden später in Arbeitsbereichen und Berufen tätig sein, die es heute in dieser Form noch nicht gibt. Im Gespräch mit dem Land erklärt ein Lehrer es mit folgender Metapher: Während ihre Eltern mittlerweile 90 Prozent ihrer Bezahlungen mit der Karte tätigen, lernen Kinder immer noch über Münzen und Bargeld in der Schule. Was per se nicht schlecht ist, immerhin bringt es ihnen etwas, wenn sie auch die Vergangenheit verstehen. Und was sagen die Schüler/innen selbst? Die Vizepräsidentin des Schülerkomitees, Laly Chivard, die zwar im Wesentlichen für Kinder ab zwölf Jahre spricht, forderte Anfang der Woche auf einer Pressekonferenz für Schüler/innen das „Recht auf Unerreichbarkeit“ ein: Sie sollen schulische Nachrichten ab einer gewissen Uhrzeit, an Wochenenden und während Ferien nicht lesen müssen.