„Ich verstehe mich insofern als politische Schriftstellerin als ich wirklich Gegenwart erzählen will und mir selbst erzähle, um herauszubekommen: Wo ist es denn das gute Leben?“ Anke Stellings Erfolg ist bemerkenswert: Ihr Roman Bodentiefe Fenster (2015) schaffte es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2015. Der im linken deutschen Verbrecher Verlag erschienene Roman Schäfchen im Trockenen (2018) wurde 2019 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. 2020 erschien der Erzählband Grundlagenforschung. 1971 in Ulm geboren, absolvierte Stelling ein Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. In ihren Romanen und Kurzgeschichten reflektiert und entzaubert sie die einstigen Ideale wie soziale Wohnprojekte, die ideale Partnerschaft und die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf. Sie nutzt eine schnörkellose Sprache und setzt auf die kühle, präzise Analyse sozialer Beziehungen.
So wurde ihr Roman Schäfchen im Trockenen immer wieder als „Wutschrift“ gelesen. Die Familie der Protagonistin Resi wird von den betuchten Freunden aus einem rot-grünen Berliner Milieu im hippen Szenebezirk Prenzlauer Berg verdrängt. Den sozialen Aufstieg hat die Hauptfigur zwar geschafft, die Bekannten aus der bürgerlichen Mittelschicht lassen sie jedoch bluten, wenn es darauf ankommt, sie lassen sie ihre (Nicht-)Zugehörigkeit spüren. Schäfchen im Trockenen ist ein Anschreiben gegen Selbstzweifel, eigene Überzeugungen und eine Anklage der gut situierten, abstoßenden und sehnsüchtig machenden Mittelschicht. Ähnlich wie der vom Feuilleton gefeierte Edouard Louis kanalisiert Stelling ihre Wut in Selbstreflexion über die eigene Herkunft. Ihre Romane Bodentiefe Fenster und Schäfchen im Trockenen sind zugleich Sozial-und Milieustudie: „Meine Mutter hat alles dafür getan, um zu verbergen, wo sie eigentlich herkam, dass sie kein Abitur und kein Geld hatte. Meine Mutter hat dafür gesorgt, dass Wiebke und ich aufs Gymnasium durften, mithalten konnten (...)“, schreibt ihre Hauptfigur Sandra in Bodentiefe Fenster. In Schäfchen im Trockenen wird es der Wohnort sein, der den Ausschluss vom Freundeskreis besiegelt. Während der in das fortschrittliche Baugruppenprojekt „K23“ (die Pseudokommune von Eigentümerfamilien) zieht, bleibt die Protagonistin Resi mit ihrer Familie zurück. Sie habe beim Erzählen die Wut immer wieder aktiviert, um so die Dringlichkeit zu behalten im Text – auch der politischen Themen. „Natürlich ist mir klar, dass ein Roman keine direkte politische Auswirkung auf den Wohnungsmarkt haben kann. Aber er davon erzählen. Was passiert mit Städten, die entmischt werden, wo irgendwann sogar niemand mehr wohnt, weil es in den Innenstädten nur noch Investoren-Wohnungen gibt“, fragt sich Stelling.
Die Entzauberung des gemeinschaftlichen, selbstverwalteten Wohnprojekts schildert sie eindringlich in Bodentiefe Fenster. In ihren Beschreibungen prallt die Ideologie der einstigen 68er-Ideale auf den schnöden Alltag. „Meine Gruppe ist nicht meine Gruppe, wir haben keine gemeinsame Utopie, wir haben ein Haus mit bodentiefen Fenstern, und das Einzige, was von dem Slogan meiner Kindheit übrigbleibt, ist die Behauptung, dass ‚Gemeinschaft‘ etwas Positives sei, dabei hindert sie uns daran, überhaupt etwas zu tun. Weil wir uns niemals darauf einigen werden, was genau, und es unfair ist, wenn Einzelne vorpreschen. (…) Wir sind auf den Begriff ‚generationenübergreifend’ reingefallen und werden sie also niemals loswerden, die Lebenslügen unserer Mütter, ihre unheilvollen Strategien, sich Selbstverwirklichung einzureden“, so Sandra in Bodentiefe Fenster.
Stelling weiß, wovon sie schreibt: Sie lebt in Berlin in einem selbstverwalteten Mietshaus, als Genossenschaft gegründet und als gemeinschaftlich generationenübergreifendes Projekt angelegt. Auch dort löst der Alltag die Erwartungen nicht ein, dennoch bleibt sie Verfechterin von Versuchen alternativer Wohn- und Lebensformen. „Ich habe eine große Sehnsucht nach dem Experiment. Wenn etwas nicht gut läuft, ok, wie kann es besser gehen?“
Ihre Charaktere sind meist starke Frauenfiguren, die dennoch an den Zwängen in Partnerschaft, Familie und ihrem Dasein fast zerbrechen. In ihrem Kurzgeschichtenband Grundlagenforschung (2020) sind es toxische Beziehungen, die nach außen hin normal (er)scheinen, deren Verhältnisse sich jedoch durch Erniedrigung(en), Selbstaufgabe und Machtspiele auszeichnen. Die Undurchsichtigkeit dieser Geschichten, die für die Leserin bis zuletzt nicht greifbar erscheinen, machen den Reiz und die Spannung aus; Doppelbödigkeit und getrübter Schein. So liegt über der Erzählung Glückliche Fügung bis zuletzt ein Schleier der Ungewissheit wie in David Lynchs Filmen. Stelling legt die Erpressungsmechanismen als Muster männlicher Erniedrigungs-Strategien bloß. Dabei sieht sich die Autorin als Feministin. Zugleich bekomme sie jedoch auch viel Kritik von Feministinnen – gerade für die Zeichnung ihrer Frauenfiguren. Sie seien verhaftet in längst überholten Sehnsüchten oder wirkten erstmal stark, aber wieso befreien die sich nicht? Gerade bei den Widersprüchen werde es interessant, so Stelling: „Wieso eine starke Frau, die so reflektiert ist, dann gleichzeitig dumm, schwach und klein ist.“ Liebe findet sich in Stellings Kurzgeschichten nur in schnell vorüberziehenden Momenten, es dominieren Projektionen und Sehnsüchte, wackliges Provisorium und Kompromiss. Der (Selbst-)Betrug wohnt ihnen von Anfang an inne. Das Augenmerk liegt auf den Schwächen ihrer Figuren, auf den Schattenseiten.
Stelling wäre wohl nicht Stelling, wenn die selbstreflektierte Autorin es vermögen würde, sich über Facebook, Instagram oder Tik Tok medienwirksam zu vermarkten. Ihre Romane und Geschichten wirken gerade durch das Gegenteil von plakativer Vereinfachung. Und vielleicht wird sie ja gerade so den Versprechen der einstigen 68er gerecht: im Hinterfragen dessen, was davon noch geblieben ist und im Leben des gemeinschaftlichen Traums.