Das höchste Gericht gab ihm Recht: Bundespräsident Joachim Gauck darf Mitglieder der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) als Spinner bezeichnen. Obwohl er sich doch eigentlich in politischen Fragen neutral verhalten soll. Macht er ohnehin, stellten die Richter am Bundesverfassungsgericht fest, denn mit der Bezeichnung „Spinner“ habe Gauck nicht Partei für die NPD ergriffen. Konkret ging es um eine Äußerung des höchsten Repräsentanten Deutschlands aus dem Herbst vergangenen Jahres. Damals organisierte die NPD in Berlin Proteste gegen ein Asylbewerber-Heim. Bei einer Diskussion mit Schülerinnen und Schülern zu diesem Ereignis, sagte Gauck wörtlich: „Wir brauchen Bürger, die auf die Straßen gehen und den Spinnern ihre Grenzen aufweisen.“ Vertreter der NPD sahen in dieser Äußerung die parteipolitische Neutralität des Bundespräsidenten verletzt und klagten vor dem Bundesverfassungsgericht. Die Karlsruher Richter ließen die Verfassungsklage scheitern.
Es war die zweite juristische Schlappe der Rechtsextremen an diesem Tag: Wenige Stunden zuvor hatte das gleiche Gericht bereits die Klagen der NPD zu den Präsidentschaftswahlen von 2009 und 2010 zurückgewiesen. Bei diesen Wahlen fühlten sich die Rechtsaußen in ihrem Rederecht vor der Bundesversammlung eingeschränkt. Die Richter wiesen die Klage ab, da in dieser Versammlung keine Aussprache vorgesehen sei und damit kein Rederecht bestehe. Die Bundesversammlung wird lediglich zur Wahl des Bundespräsidenten einberufen und setzt sich aus den Abgeordneten des Bundestags zusammen sowie einer gleichen Anzahl von Mitgliedern, die von den Landesparlamenten entsandt wird. Eine Bühne, die von der NPD zu gerne genutzt würde, schickt sie doch zur jeden Wahl eines Bundespräsidenten einen eigenen Kandidaten ins Rennen.
Die Urteile von Karlsruhe werfen ein Licht auf den Umgang mit extremistischen, vor allem rechtsextremistischen Positionen. Eine Auseinandersetzung, die in den kommenden Jahren in Europa an Bedeutung gewinnen wird, da die Europawahl Ende Mai zahlreichen Rechtsaußen-Parteien Sitze im Brüsseler Parlament einbrachte. Noch zucken die Politikerinnen und Politiker der etablierten Parteien mit ihren Schultern und geben sich ratlos. Dabei geht es um den Umgang mit dem politisch Andersdenkenden. Gauck mag diese Spinner nennen dürfen. Aber wie sieht es mit deren Freiheitsrechten aus?
„Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit“, formulierte die deutsch-polnische, sozialistische Politikerin Rosa Luxemburg in ihrem Werk über die russische Revolution. Und weiter: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden, sich zu äußern.“ Nicht wegen des Fanatismus der ‚Gerechtigkeit’, führt Luxemburg aus, sondern weil all das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hänge und seine Wirkung versage, wenn die ‚Freiheit’ zum Privilegium werde.
Die Freiheit des Andersdenkenden. Die Gesellschaft gibt sich da durchaus kämpferisch. Unter dem Deckmantel von Freiheit, Verständigung und Weltoffenheit steht sie gegen rechtsextremistische Parteien und Gruppierungen sowie gegen deren menschenverachtendes Menschenbild ein. Besonders Streitbare organisieren Sitzblockaden, veranstalten Pfeifkonzerte oder schreien die Rechten nieder. Dass sich die Gegner der Rechtsextremisten dabei der gleichen Mittel und Methoden bedient, wie seinerzeit die Nazis zu Beginn und während der Dreißigerjahre, übersehen sie – auch, dass sie den politisch Andersdenkenden in seinen Grundrechten – insbesondere in seinem Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit – einschränken. Rechte, die sie für sich in Anspruch nehmen, möchten sie dem politisch Fernstehenden nicht zu billigen. Die Politik mag sich zu oft diesen Reflexen anschließen, über Andersdenkende und deren Meinungen und Weltanschauungen zu Gericht sitzen. Damit geht einher, dass über politische Ansichten geurteilt wird – heute über diese, morgen über jene.
Aber auf welcher Basis erfolgt dieses Urteil? Gerade in europäischem Kontext sind die historischen Erfahrungen mit dem Extremismus höchst unterschiedlich, woraus auch unterschiedliche Bewertungen des Extremismus resultieren. Dennoch muss es zu einer weitest gehenden Absicherung von – politischen – Menschenrechte kommen, etwa einer verpflichtenden freiheitlich-demokratischen Grundordnung, die möglichst weit gefasst ist, aber das unbedingte Bekenntnis zu gemeinsamen, europäischen Werten enthält. Als Basis dafür kann etwa die Charta der Grundrechte für die Europäische Union dienen. Auf dieser Grundordnung müssen sich Parteien und politische Gruppierungen verpflichten. Es ist daher unabdingbar, dass der Vertrag über eine Verfassung für Europa, so wie zu Beginn des Jahrtausends ausgehandelt und Ende Oktober 2004 in Rom unterzeichnet wurde, weiterentwickelt und schließlich von allen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ratifiziert werden muss.
Mit der Wahl zum Europäischen Parlament Ende Mai hat ein Paradoxon an Kraft gewonnen. In Brüssel sitzen nun Abgeordnete, die für ihre eigene Abschaffung stimmen werden müssen – aber dies aus naheliegenden Gründen nicht tun werden, sei es aus machttaktischen, ökonomischen Gründen oder Motiven der persönlichen Eitelkeit. So kann der Zugewinn der europafeindlichen und rechtsextremistischen Parteien bei der jüngsten Wahl letztendlich zu einem Sieg für Europa werden. Denn durch diese Konfrontation mit dem extremistisch Andersdenkenden werden sich die etablierten Parteien des Europaparlaments auf einen Kanon an Werten verständigen müssen, um das bisher Erreichte zu bewahren. Ob es dabei in seiner bisherigen Form konserviert oder reformiert wird, ist dann ein Diskussionsprozess – und eine Auseinandersetzung mit dem Andersdenkenden.