Hierzulande wurde er bisher kaum zur Kenntnis genommen, der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty, der nach dem Erfolg seines 970 Seiten starken, sehr didaktischen und an Wiederholungen reichen Werks Le capital au XXIe siècle in den USA schon als Rockstar der Ökonomie gefeiert wurde. Professor Piketty gehört zu der wunderbaren und sehr seltenen Gattung von Wirtschaftswissenschaftlern, die Ökonomie für eine empirische Sozialwissenschaft halten. Er sammelt seit Jahren historische Datenreihen zur volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, die im Fall Frankreichs und Großbritanniens bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen. Daraus konstruiert er die bisher höchst entwickelten Modelle über die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums in den Industrieländern.
Bei allen Vorbehalten und Kritiken, die zum Wesen jedes wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses gehören, in Pikettys Fall aber aus verständlichen Gründen als politische Keulen benutzt werden, liest sich aus seiner Arbeit eine Tendenz heraus, die er auf die knappe Formel r > g bringt: Der Kapitalertrag wuchs immer schneller als die Gesamtwirtschaft. Es war und ist bis heute immer erträglicher, von seinen Zinsen, Dividenden und Mieten zu leben als von seiner Arbeit. Erben oder wenigstens reich Heiraten ist rentabler als Studieren und Arbeiten. Piketty illustriert das an klassischen Romanfiguren wie Balzacs Père Goriot. Im 20. Jahrhundert stellt er zwar fest, dass der Unterschied zwischen dem Wachstum von Kapitalerträgen und der Gesamtwirtschaft vor allem als Folge des Wertverlusts von Wertpapieren und Immobilien in den beiden Weltkriegen geringer wurde, aber inzwischen hat die Differenz wieder den Stand der vorigen Jahrhundertwende, der Belle Époque, erreicht. Geht die Entwicklung so weiter, könnte die Differenz wieder den Stand des 19. Jahrhundert erreichen, jenes der Propriétaires, Industriels und Rentiers, wie sich die Kapitalbesitzer hierzulande nannten, und der flexibel eingesetzten Tagelöhner.
Auch wenn der Titel seines Buchs an den großen Klassiker der politischen Ökonomie anspielt, ist Piketty alles andere als ein Umstürzler. Er zieht das schwache demografische Wachstum politischen Erklärungen vor und will als braver Sozialdemokrat den wachsenden sozialen Unterschieden, der Ungerechtigkeit, dass Erben mehr lohnt als Leistung, durch höhere Steuern beikommen. Trotzdem fand er hierzulande bisher kein Gehör, was nicht nur damit zusammenhängt, dass die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung im Großherzogtum eine sehr junge Kunst ist und sich noch niemand die Mühe gemacht hat, die ab 1889 veröffentlichen historischen Statistiken für eine Einkommensstudie auszuwerten. Denn soziale Unterschiede wurden lange hinter dem idyllischen Bild der kleinen einträchtigen und gottesfürchtigen Volksgemeinschaft versteckt. Betrachtungen über Arm und Reich beschränken sich auch heute noch auf zweifelhafte mikroökonomische Meinungsumfragen wie die Luxembourg Income Study oder den vom Statec errechneten Gini-Koffezienten, dem Piketty die Vermischung von „des choses très différentes et notamment les inégalités face au travail et celles face au capital“ vorwirft (S. 385). Komplizierter werden die Verhältnisse noch dadurch, dass sich das Gros des Kapitals in ausländischem Besitz befindet, wie auch ein großer Teil der Arbeitskräfte im Ausland lebt.
Aber so außerordentlich ist das Großherzogtum auch wiederum nicht, dass es gegenläufige Entwicklungen zum Rest der Welt aufweisen könnte. Und wie lehrreich Pikettys Forschung sein kann, zeigt sich schon, wenn die Jungen gegen die Alten zum Klassenkampf um die Altersversicherung mobilisiert werden sollen und ein BIP des Glücks eingeführt werden soll. Oder die LSAP die Festsetzung des 1990 noch 56 Prozent betragenden Spitzensteuersatzes auf 45 Prozent als Reichensteuer darstellt.