Für unsere Verteidigungspolitik bräuchte es heute mehr denn je einen „Plan“, eine strategische Perspektive

An den Hebeln der Macht

Premier und Verteidigungs- minister mit Abgeordneten beim Tag der offenen Tür  der Armee im  Juli 2022
Foto: Olivier Halmes
d'Lëtzebuerger Land vom 28.04.2023

In einem „Superwahljahr“ erwartet man eigentlich eine Belebung der politischen Streitkultur, insbesondere, da mannigfaltige Schieflagen – Stichwort „Polykrise“ – jede Menge Reibungsflächen bieten. Wohnraumkrise, Klimakrise, Energie- und Mobilitätswende, Wachstumsfalle, Steuergerechtigkeit und Wohlstandsverteilung, Demokratiedefizit, aber auch strategische Bedrohungen unserer Lebensweise und unseres Gesellschaftsmodells stellen den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Nachhaltigkeit unseres Wirtschaftsmodells auf die Probe. Es ließen sich also vielerlei kritische Bilanzen ziehen und, entsprechenden Mut vorausgesetzt, neue Perspektiven aufzeigen. Eigentlich stellte dies ein gefundenes Fressen dar für Parteien, die ihr Profil schärfen möchten, um sich von der politischen Konkurrenz abzusetzen, indem sie dem Wähler überzeugende Lösungsansätze anbieten.

Wie steht es nun um die politische Streitkultur am Beispiel der Verteidigungspolitik? Eine kürzlich stattgefundene parlamentarische Debatte zum A400M-Transportflugzeug1 verdeutlicht die in einem breiten Teil des politischen Spektrums vorherrschende Scheu, sich öffentlich mit ungeschminkten Stellungnahmen zu den Grundsätzen einer Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu exponieren. Dies zeigt sich in der gängigen Praxis, kostspielige Rüstungsprojekte mit vorgeschobenen Argumenten, wie etwaigen humanitären Nutzungsmöglichkeiten oder einem wirtschaftlichen Mehrwert, rechtfertigen zu wollen. Für den nicht gänzlich auszuschließenden Ernstfall wird dann auf Ausstiegsklauseln aus internationalen Vereinbarungen verwiesen, ohne jedoch einen präzisen politischen Rahmen aus grundsätzlichen Werten und Interessen als Auslöser für solche Entscheidungen zu definieren. Letztendlich untergräbt diese konzeptuelle Schwammigkeit die Glaubwürdigkeit einer Politik.

Der Aufbau einer militärischen Fähigkeit sollte aus verteidigungspolitischen Beweggründen erfolgen, die es offen zu besprechen gilt. Dazu bedarf es jedoch des Willens zur sachlichen Auseinandersetzung, wie der souveräne Luxemburger Staat seine Interessen wahren und seinen Verpflichtungen innerhalb einer europäischen und atlantischen Sicherheitsarchitektur gerecht werden kann. Ein Staat, der Streitkräfte unterhält, sollte seinen Bürgern stets reinen Wein einschenken zu deren Bestimmung im Einsatz. Es ließe sich anfügen, dass dies auch ein präzises Rollenverständnis der Streitkräfte im Dienst des demokratischen Rechtsstaats bedingt.

Zu einer Bilanz politischen Handelns gehört auch eine Bewertung, in welchem Maße unsere Institutionen lernfähig sind. Sind die Verantwortlichen mit der nötigen Führungsstärke ausgestattet, um aus der Vergangenheit Lehren ziehen zu wollen und daraus die richtigen Schlüsse für heutiges und künftiges Handeln abzuleiten? Oder bewegen wir uns nur führungslos im Kreis ausgetretener und bequemer intellektueller Rundwege, unfähig, uns aus den Fängen von Ideologie, Bürokratie, Konventionen, Routine, Korporatismus, Überforderung, Einfallslosigkeit und Mutlosigkeit zu befreien?

Einige Denkanstöße hierzu lassen sich aus der Entwicklung der Argumente ableiten, welche zu politisch-militärischen Beschaffungsentscheidungen angeführt werden, wie etwa im Fall eines neuen Aufklärungsfahrzeugs für die Armee2. Praktisch geht es darum, ob die getroffenen Entscheidungen einen nachhaltigen Beitrag zur Erfüllung von Sicherheitsverpflichtungen darstellen, aber auch, was sie für die langfristige Aufstellung unserer Verteidigung bedeuten.

Die Begründung der 2008 getätigten Anschaffung des aktuellen Aufklärungsfahrzeugs Dingo 2-PRV ergibt sich aus dem damaligen sicherheitspolitischen Kontext. Das Fahrzeug sollte insbesondere Schutz gegen leichten Beschuss, Splitterwirkung, Sprengfallen und Minen bieten, entsprechend den Anforderungen aus den in der damaligen Sicht wahrscheinlichsten Einsatzszenarien. Seine eingeschränkte Eignung für intensive Gefechtseinsätze im Nato-Bündnisfall war angesichts der geltenden Einschätzung zur Sicherheitslage in Europa ein akzeptabler Kompromiss.

Mit dem Eagle 5-CLRV soll jetzt ein ähnliches Fahrzeug beschafft werden, was nahelegt, dass die Planungen teilweise auf den gleichen Annahmen beruhen. Dies mag verwundern angesichts eines radikal veränderten Kontexts, der die Fähigkeit zur Bündnisverteidigung in den Vordergrund stellt. Hierfür geeigneter ist die mit freundlicher Unterstützung der Nato beschlossene Aufstellung eines Gefechtsaufklärungsbataillons zusammen mit Belgien.

Unsere beiden Nachbarn Belgien und Frankreich sind zusätzlich eine strategische Partnerschaft ihrer Landstreitkräfte eingegangen. Darunter muss man eine langfristig angelegte vertiefte Zusammenarbeit verstehen, die gemeinsame Einsätze erleichtern soll. Sie umfasst daher nicht nur die gemeinsame Anschaffung von – wohl oft französischem – Material, sondern auch Einsatzkonzepte und Ausbildung. Der von Luxemburg bei passender Gelegenheit praktizierte verbale Gleichklang mit Belgien und Frankreich zu europäischen Sicherheitsanliegen könnte hier also das Tor zu einer praktischen Dimension öffnen, auf die man nicht unvorbereitet treffen sollte.

Der Einstieg in Fähigkeiten zur Gefechtsaufklärung mit schwer bewaffneten Kampffahrzeugen wäre 2008 weder politisch vermittelbar, noch mit den personellen Mitteln einer Freiwilligenarmee machbar gewesen. Die Nutzungsphase des Dingo 2 sollte demnach offene Fragen klären und den Weg für Entscheidungen zum Einsatzkonzept und zum Nachfolgegerät ebnen. Der jetzt scheinbar diskussionslos erfolgte Schritt ist daher bemerkenswert.

Ebenso bemerkenswert ist jedoch das gleichzeitige Festhalten am Konzept der leichten Aufklärung, unter Verwendung teilweise des gleichen Personals, an unterschiedlichen Standorten in Belgien und Luxemburg. Dieses zweigleisige Vorgehen wird zweifelsohne nicht ohne politische und militärische Priorisierungen auskommen, deren Ausgestaltung oder Ausbleiben ebenfalls in ein Glaubwürdigkeitsproblem ausarten könnten. Auf absehbare Zeit wird beides gleichzeitig kaum möglich sein. Es wirft auch ein Schlaglicht auf ungelöste strukturelle Fragen.

Immer komplexere Fähigkeiten erfordern einen Grad der Professionalisierung, der mit dem Prinzip einer Freiwilligenarmee immer unvereinbarer wird. Der Spagat zwischen aktuellen Anforderungen und dem Festhalten an überkommenen Vorstellungen zur nationalen Rolle der Armee lässt sich nicht unbegrenzt halten. Strukturelle Probleme verlangen nach strukturellen Lösungen. Einhergehend mit einer weitreichenden Professionalisierung schiene es mir daher naheliegend, die Prioritäten noch deutlicher zugunsten des Aufbaus von relevanten Fähigkeiten in Zusammenarbeit mit europäischen und atlantischen Partnern zu verschieben.

Die Verteidigungsausgaben haben seit der Armeereform von 2007 erheblich zugenommen. Von etwa 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausgehend sollten es zunächst (2014) 0,7 Prozent werden, dann (2022) ein Prozent bis 2028, was bei wachsendem BIP etwa einer Vervierfachung der Summe in Euro entspricht. Der diesjährige Nato-Gipfel, der am 11. und 12. Juli im litauischen Vilnius stattfindet, wird zumindest verbindlichere Worte zum eigentlichen Zwei-Prozent-Ziel der Allianz finden. Der Druck zu strukturellen Anpassungen wird sich also weiter erhöhen. Sollten sie ausbleiben, birgt das Tempo der Beschlüsse zur Erhöhung der Ausgaben die Gefahr des Rückfalls in Scheckheftpolitik. Über eines sollte man sich nämlich im Klaren sein: Streitkräfte, die ein Prozent unseres BIP oder mehr nachhaltig in einen verteidigungspolitischen Mehrwert umsetzen sollen, werden sich in ihrem Wesen deutlich von der heutigen Armee unterscheiden.

Dabei ist unklar, in welchem Maße die am 24. Februar 2022 eingeleitete „Zeitenwende“ die nationale Verteidigungspolitik langfristig prägen wird. Anreize zu Zeitenwenden gab es eigentlich schon seit den Balkankonflikten und den Rufen nach einer eigenständigeren europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Im Rückblick auf die verhaltenen Schritte in den Gesetzen zur Armeereform von 1997 und 2007 blieb der erforderliche strukturelle Wandel jedoch größtenteils aus, wohl aufgrund möglicher politischer Kosten und auch mangels belastbarer strategischer Zielvorgaben3.

In ihrer Gesamtheit lassen sich alle hier aufgezählten Schieflagen nicht unabhängig voneinander bereinigen. Sie verlangen nach abgestimmten strukturellen Reformen, wobei komplexe Zusammenhänge Vorsicht gebieten. Es ist jedoch befremdlich, wenn gleichzeitig der politische Gestaltungsspielraum auf das Bedienen von altbekannten Stellschrauben und Hebeln reduziert wird, als reichten behutsame Optimierungsschritte an der Steuerung einer ansonsten zufriedenstellend funktionierenden Maschinerie. Zeigt nicht zuletzt die Wohnraumkrise, dass die Hebel am Anschlag, die Schrauben ausgeleiert sind oder die Maschine gar schadhaft ist? Diese Erkenntnis zwänge einen jedoch, die vertrauten intellektuellen Rundwege zu verlassen. Wenn Sprache Ohnmacht und Unsicherheit ausdrückt, dann wohl hier, wenn sie sich veralteter Bilder bedient, die es nicht vermögen, dem Ernst einer Lage Ausdruck zu verleihen.

Für unsere Verteidigungspolitik bräuchte es heute mehr denn je einen „Plan“, eine strategische Perspektive, wie es weitergehen soll. Ein solcher Plan dürfte sich nicht auf eine reine Einkaufsliste beschränken, nur um die finanziellen Zielvorgaben zu erfüllen. Er müsste auch auf grundsätzlichere Prinzipienfragen eingehen. Leider ist ein solcher Plan ebenso wenig zu sehen, wie auch die Wahrscheinlichkeit täglich sinkt, dass das im September 2021 eingereichte Gesetzvorhaben zur Organisation der Armee noch vor den diesjährigen Parlamentswahlen spruchreif sein könnte – wohl nicht die einzige Hypothek, die diese Koalition hinterlassen wird..

Patrick Fautsch ist Colonel honoraire der Armee, der er bis März 2018 angehörte. Er war unter anderem im Generalstab sowie in den Militärkomitees von Nato und EU tätig und wirkte in der Verteidigungsdirektion im Außenministerium an der Fertigstellung der 2017 veröffentlichten „Lignes directrices de la défense luxembourgeoise à l’horizon 2025 et au-delà” mit.

1 Peter Feist, „Frigoe fir Afrika“. d’Lëtzebuerger Land, 20.01.2023. www.land.lu/page/article/033/340033/FRE/index.html

2 Reiner Hesse, „Rollende Särge“. d’Lëtzebuerger Land, 18.11.2022. www.land.lu/page/article/828/339828/FRE/index.html

3 Pit Scholtes, „Zeitenwende à la luxembourgeoise“. Reporter.lu, 02.01.2023. www.reporter.lu/fr/luxemburg-analyse-aussen-und-sicherheitspolitik-zeitenwende-a-la-luxembourgeoise/

Patrick Fautsch
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