Als Montagabend im Limpertsberger Tramschapp die Front aus sieben Gewerkschaften zu ihrer Protestkundgebung gegen die Pensionsreform gerufen hatte, stand die Stimmung auf Kritik, nicht auf Konfrontation. Zwar war der abgedunkelte Saal voll genug, dass die Luft zum Schneiden war, und es waren längst nicht nur Rentner und ältere Gewerkschaftler gekommen. Doch das Publikum wie die sieben Gewerkschaftspräsidenten auf dem Podium warteten geduldig ab, bis der Pausenschlager verklungen war, in dem Francis Cabrel von der Liebe sang, ehe die Protestansprachen begannen. Und nach Ende der Veranstaltung gingen alle recht gut gelaunt ihrer Wege.
Das konnte schon überraschen – wo doch etwa die OGBL-Spitze vor zwei Monaten von ihrem Nationalvorstand das Mandat erhalten hatte, den Reformentwurf der Regierung „mit allen gewerkschaftlichen Mitteln zu bekämpfen“. Doch die Kundgebung am Montag war vor allem als Piquet gedacht, um ein Zeichen zu setzen, ehe gestern morgen die drei größten Gewerkschaften OGBL, CGFP und LCGB zur Anhörung in den parlamentarischen Sozialausschuss eingeladen waren.
Und wie die Ansichten zur Reform dort liegen, teilt allenfalls der einsame Abgeordnete von déi Lénk den Standpunkt, keinerlei Verschlechterungen an den Renten zuzulassen; auch nicht an denen, die erst nach der Reform fällig würden. Deshalb bemüht sich vor allem der OGBL, gestützt auf das über hundert Seiten lange Gutachten der Arbeitnehmerkammer zur Reform, zu zeigen, dass die Rentenversprechen erst einmal bleiben könnten, wie sie sind, und zunächst an anderer Stelle nachzubessern wäre.
Diese Liste ist lang: Bessere Modelle für den „gleitenden Übergang“ aus dem Erwerbsleben in die Pension als die bestehende Retraite progressive müssten her. Die Beschäftigungsmöglichkeiten für Ältere gehörten verbessert, die Jobs Älterer müssten sogar regelrecht geschützt werden. Die Individualisierung der Rentenrechte sei zu konkretisieren. Die Möglichkeiten zum Nachkauf von Rentenrechten müssten nicht nur für Frauen mit unterbrochener Beitragslaufbahn verbessert werden, sondern auch für Arbeitnehmer, die lange Studien absolviert haben. Außerdem müsse die Reform der „Peniblität“ verschiedener Berufe besser Rechnung tragen und der Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz verstärkt werden.
Solche Forderungen sind nicht nur objektiv berechtigt – etwa, weil vielen Unternehmen ältere Mitarbeiter zu teuer sind oder weil in den Nachbarländern mit statistischer Genauigkeit nachgewiesen wurde, dass die Lebenserwartung von Geringverdienern kürzer ist als die von Empfängern hoher Gehälter und die Behauptung, in den kommnden Jahrzehnten könnten „alle“ ihre Rente länger genießen, folglich relativiert werden muss. Ganz abgesehen davon hat, was die Gewerkschaften da einfordern, zum Teil die Regierung versprochen. Etwa, dass „phasengleich“ mit der Pensionsreform ein „Beschäftigungspakt“ für Ältere verabschiedet werde, wie Premier Jean-Claude Juncker (CSV) am
16. Dezember in seinem Maßnahmenkatalog zur Beruhigung der Gemüter nach dem Beschluss zur erneuten Index-Modulierung angekündigt hatte. Oder dass die Individualisierung der Rentenrechte „studiert“ werde, wie im Pensionsreformentwurf zu lesen ist, oder dass Vorschläge für den gleiten-den Übergang aus dem Erwerbsleben in die Pension „später“ nachgereicht würden, wie Sozialminister Mars Di Bartolomeo (LSAP) erklärt hat.
Doch genauso, wie die Regierung noch keine Modelle über „Teilrente plus Teilzeit“ unterbreitet hat, ist unklar, was aus der Rentenrechte-Individualisierung wird. Zum „Beschäftigungspakt für Ältere“ liegt bisher lediglich eine drei Seiten lange Notiz von Arbeitsminister Nicolas Schmit (LSAP) an das Ständige Beschäftigungskomitee vor, und die Idee, eine öffentliche Zusatzrentenversicherung einzuführen, steht nach wie vor nur als Vorhaben im Reformentwurf, über das „eine Studie“ in Auftrag gegeben werden soll.
So viel noch offene Bringschuld erleichtert den Gewerkschaften die Argumentation, der Reformentwurf sei noch längst nicht komplett, und so lange dem so sei, dürfe auch nicht an die Rentenleistungen gerührt werden: Einerseits, weil das ungerecht wäre, andererseits, da man nicht wissen könne, zu wie viel zusätzlichen Beitragseinnahmen die beschäftigungspolitischen Vorkehrungen für Ältere führen. Die politisch spannende Frage ist, ob dieser Ansatz auch bei den Abgeordneten und der Regierung greift. Falls ja, und falls zunächst über Beschäftigungspolitik und eine Modernisierung der Rentengesetzgebung diskutiert würde, könnte ohne Weiteres so viel Zeit vergehen, dass der nächste Wahltermin nahe genug rückt, um auf die Rentenleistungen doch lieber erst in der nächsten Legislaturperiode zurückzukommen. Dass die Gewerkschaften noch nicht zum Kampf geblasen haben, liegt letzten Endes vielleicht sogar vor allem daran, dass die Säumigkeit der Regierung ihnen erlaubt, auf Zeit zu spielen. Und hat nicht Bildungsministerin Mady Delvaux-Stehres (LSAP) am Montag erklärt, die Sekundarschulreform könne bis nächstes Jahr warten und in der Zwischenzeit seien Alternativ-Vorschläge willkommen (siehe S. 5 dieser Ausgabe)?
Andererseits aber hat Finanzminister Luc Frieden (CSV) vorgestern die Vorschau eines Expertengremiums zu den öffentlichen Finanzen bis 2015 veröffentlicht. Die geht davon aus, dass das Luxemburger Haushaltsdefizit nächstes Jahr das Maastricht-Kriterium von drei BIP-Prozent verletzen könnte, und Frieden will eine Spar-Runde einleiten, die auch die Sozialausgaben betreffen soll. Das sind nicht nur keine guten Rahemnbedingungen, um noch ein paar Jahre auf die Elf-Milliarden-Reserve der Pensionskasse zu verweisen und abzuwarten, ob sich die Beschäftigung Älterer steigern lässt. Es wäre unter diesen Bedingugen auch schwieriger, jene „alternativen“ Einnahmequellen anzuzapfen, auf die die Arbeitnehmerkammer vorige Woche in ihrem Gutachten zur Pensionsreform aufmerksam gemacht hat.
Denn ganz gleich, ob man die Taxe d’abonnement, die Solidaritätssteuer oder die Quellensteuer auf Zins-erträge erhöhen oder im Privatsektor die Beitragsbemessungsgrenze zur Rentenversicherung abschaffen würde, ohne gleichzeitig die Maximalrente aufzuheben: Jede dieser Maßnahmen würde den Fiskalanteil an der Rentenversicherung erhöhen. Zwar könnte man, wie OGBL-Präsident Jean-Claude Reding es diese Woche in einem Rundtischgespräch in Chamber TV angeboten hat, behaupten, dass sich auf diese Weise eine allgemeine Beitragserhöhung verschieben ließe, durch die automatisch auch die staatlichen Transfers an die Rentenkasse wüchsen. Der Finanzminister ist jedoch bekannt dafür, dass ihm der Staatsanteil an der Sozialversicherung schon jetzt zu weit geht. Bereits in der vorigen Legislaturperiode streute er gezielt Ideen von einer progressiven Defiskalisierung der Sécurité sociale. Wenngleich nicht zu erwarten ist, dass die Regierung sich darauf einigt: die Zweckbindung bestimmter Steuereinnahmen allein für die Mitfinanzierung der Rentenkasse dürfte ebenfalls schwer konsensfähig sein.
Für zusätzlichen Druck, sehr wohl jetzt schon die Ausgaben der Rentenkasse zu senken, sorgen die Beschäftigungsprognosen aus Friedens Expertenbericht: Die Binnenbeschäftigung werde dieses Jahr voraussichtlich um 1,3 Prozent, nächstes Jahr um 0,4 Prozent und 2014 und 2015 wohl um 1,4 Prozent beziehungsweise 2,8 Prozent wachsen. Solche Krisendaten scheinen all denen Recht zu geben, die die langfristigen Basisannahmen der Regierung zur Pensionsreform für viel zu optimistisch halten – etwa die Hoffnung auf einn im Schnitt 1,5-prozentigen Beschäftigungszuwachs Jahr für Jahr, durch den sich die Zahl der beruflich aktiven Beitragszahler von derzeit rund 360 000 bis zum Jahr 2050 ungefähr verdoppeln würde.
In Wirklichkeit aber ist nicht der Beschäftigungszuwachs als solcher ausschlaggebend für die Finanzlage der Pensionskasse, sondern die Entwicklung der Durchschnittslohnmasse, auf die die Sozialbeiträge erhoben werden. Diese Entwicklung ist nicht gut: Nach der Jahrtausendwende lag der jährliche Zuwachs bei über vier Prozent, sank trotz Dotcom-Krise nie unter 2,8 Prozent und hielt sich bis zum Ausbruch der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise bei über drei Prozent jährlich. In den letzten beiden Jahren aber lag er bei nur einem Prozent – und das obschon die Beschäftigung 2010 um 1,9 Prozent und 2011 um 2,8 Prozent wuchs. Robert Kieffer, der Präsident der Pen-
sionskasse, hat Anfang der Woche auf diesen Trend hingewiesen.
Was sich da auswirkt, sind zwar auch verschobene Index-Tranchen. Ebenso jedoch die Zunahme von Teilzeitarbeit, Interim-Jobs, der Trend zur Lohnmoderation, aber auch weggefallene Hochlohn-Stellen durch Umstrukturierungen in der Finanzbranche. Das Problem ist nur: Je langsamer die Lohnmasse wächst, desto schneller nähert sich das Pensionssystem jenem Punkt, an dem bei gleichzeitig immer weiter zunehmenden Rentenausgaben das Verhältnis von Einnahmen und Ausgaben die magische Schwelle erreicht, an der eigentlich eine Erhöhung der seit 1976 unveränderten Beiträge fällig würde. Um die vielleicht aus Rücksicht auf die heimische Wirtschaft nicht so mechanisch vornehmen zu lassen, wie es derzeit noch im Gesetz vorgesehen ist, soll die Pensionsreform festschreiben, dass die automatische Anpassung der laufenden Renten an die Reallohnentwicklung künftig nur zur Hälfte oder in noch kleinerem Umfang erfolgen kann.
Doch: Wachsen die Löhne weniger stark und bleibt die Inflation verhältnismäßig hoch, der Index aber noch eine Weile moduliert, dann könnte die Reallohnentwicklung so gering werden, dass es kaum noch etwas gibt, woran die laufenden Renten anzupassen wären. Längerfristig wird sich das wohl wieder ändern. Die Kürzung des Ajustement aber ist in der Pensionsreform als eine Art Geheimwaffe gedacht, zu der schon in fünf Jahren gegriffen werden könnte. Doch womöglich würde sie stumpf, noch ehe sie zum ersten Mal zum Einsatz käme. Dann beginnt die Kasse von ihrer Reserve zu zehren. Und die Frage ist eigentlich die, ob man sich diesen Aussichten schon jetzt stellt oder das lieber bis in die nächste Legislaturperiode verschieben will. Wobei schon allen Prognosen vom letzten Jahr zufolge um 2018 oder 2019 entweder eine Beitragserhöhung oder eine Leistungskürzung oder eine Kombination aus beiden nötig wäre.