d’Land: Frau Reiff, der Verband der Médecins salariés hospitaliers (MSH) wurde Ende November 2021 gegründet. Wieso gerade da, und wieso ein eigener Verband für die angestellten Ärzt/innen?
Monique Reiff: Zum einen, weil seit zwei Jahren diskutiert wird, wie die medizinische Versorgung im Land strukturiert sein sollte. Da geht es aber um ambulante Ärztehäuser, nicht um die Krankenhausmedizin. Und zum anderen, weil die Salariatsmedizin auf Teamgeist und Multidisziplinarität abzielt. Das wird unseres Erachtens in der öffentlichen Debatte zum Gesundheitswesen nur ungenügend thematisiert.
Die meisten Luxemburger Spitäler arbeiten mit freiberuflichen (liberalen) Belegärzten. Meinen Sie, dass es dort an Teamgeist und Multidisziplinarität mangelt?
Die sollten auch dort möglich sein. Schließlich geht es überall um die bestmögliche Versorgung der Patienten. Der Punkt ist aber: Alle Arztleistungen am Krankenhaus werden nach der Gebührenordnung der Ärzte abgerechnet, der Nomenclature des médecins. Das ist am CHL, wo die meisten Ärzte angestellt sind, genauso der Fall wie an den drei anderen großen Akutkrankenhaus-Gruppen, die nur Belegärzte haben. Die Tarife sind für alle Ärzte dieselben. Der liberale Arzt behält sein Honorar für sich. Am CHL dagegen fließen alle Honorare zunächst in einen gemeinsamen Topf. Daraus werden später für die angestellten Ärzte Gehälter bezahlt.
Will die MSH mehr Gehalt für die Angestellten?
Die Finanzierungsfrage ist wichtig. Es geht uns aber nicht nur um mehr Gehalt. Sondern wir stellen fest, dass in allen Spitälern die Zwänge größer werden. Es landen immer komplexere Fälle im Spital. Diese Patienten gut zu versorgen, ist oft zeitaufwändig. Man braucht multidisziplinäre Teams dafür. Es sind team-interne Beratungen nötig, eventuell auch team-interne Fortbildungen. Besonders wichtig ist das für die Services nationaux, in denen nationale Kompetenzen gebündelt werden. Das CHL beherbergt 80 Prozent der Services nationaux. Für solche Dinge aber sieht die Gebührenordnung nichts vor. Genauso wenig für Qualitätsbemühungen, die die Klinikärzte unternehmen sollen, oder für ihre Beteiligung an der Ausbildung junger Mediziner. Wir meinen, die Nomenclature wird der modernen Klinikmedizin nicht gerecht. Sie reizt nur zur Jagd nach Behandlungsakten und den Honoraren dafür an.
Wird dann, was Sie als so wichtig aufgezählt haben, von den Ärzt/innen aus Idealismus mit gemacht?
In der Spitalmedizin sind die Arbeitsbedingungen tatsächlich schwierig. Wir stellen fest, dass es am CHL eine Fluktuation von Ärzten gibt. Diese Fluktuation war einer der Anlässe zur Gründung unseres Verbands. Angestellte CHL-Ärzte machen Krankenhausmedizin, aber auch ambulante Medizin. Wir arbeiten auf den Klinikstationen und wir bieten Sprechstunden für Patienten an. Außerdem leisten wir nachts und an Wochenenden Bereitschaftsdienste. Ideal ist diese Vermischung aus Krankenhausmedizin und ambulanter Medizin sicherlich nicht. Hinzu kommen die Zwänge aus den Bereitschaftsdiensten. Mein Sprechstunden-Kalender zum Beispiel ist bereits jetzt voll bis Februar/März 2023. Was die Patienten natürlich nicht freut.
Und dann machen davon frustrierte CHL-Ärzte lieber irgendwo eine Praxis auf und schließen einen Vertrag mit einem Belegarzt-Krankenhaus ab, weil dort weniger Bereitschaftsdienste anfallen?
Wir haben nicht genau verfolgt, wer weshalb wohin gegangen ist. Es wandern aber sicherlich mehr Ärzte aus der Salariatsmedizin in den liberalen Bereich ab als umgekehrt. Die Bereitschaftsdienste sind an allen Spitälern ein großes Thema. Es gibt Diskussionen, sie zu bezahlen. Da tut sich was, wir begrüßen das und ziehen in diesen Diskussionen an einem gemeinsamen Strang mit dem Ärzteverband AMMD. Aber noch ist nichts entschieden.
Gibt es Versuche von Belegarzt-Kliniken, Ärzt/innen aus dem CHL abzuwerben?
Permanent! Es ist kein Geheimnis, dass sich im liberalen Bereich mehr verdienen lässt als im Salariat. Wir Ärzte waren zunächst alle im Ausland, wurden dort ausgebildet und haben an Universitätskliniken gearbeitet. Kommt man nach Luxemburg und stellt fest, wie das System hier funktioniert, sagen sich offenbar nicht wenige Kollegen: Dann möchte ich zumindest mehr verdienen.
Ist es denn im Ausland überall besser?
Klar gibt es überall gute und schlechte Aspekte, aber es ist vor allem anders im Ausland. Ich habe eine deutsche Ausbildung und war anschließend in Deutschland geblieben. Ich war angestellt und reine Klinikmedizinerin. Ich hatte keine Sprechstunden zu geben und konnte mich den ganzen Tag um meine Station und meine Notaufnahme-Patienten kümmern. Bereitschaften hatte ich auch. Alle Ärzte an diesem Krankenhaus haben so gearbeitet. Es gab deshalb mehr Routine in der Zusammenarbeit. Die Zahnräder griffen ineinander. Man wusste, mit wem man zu tun hatte; das war eine Teamarbeit, die funktionierte. Probleme gab es natürlich auch.
Wenn Sie eine Behandlung in einem Spital brauchen würden – würden Sie sich einem Luxemburger Krankenhaus anvertrauen oder lieber dorthin gehen, wo Sie früher gearbeitet haben?
Ich würde mich schon in Luxemburg behandeln lassen. Es gibt ganz engagierte und gute Leute hier, wie überall. Ich würde mich auch nicht nur ans CHL wenden, sondern je nachdem. Ein Vorteil ist nach wie vor, dass hierzulande der Zugang zur Medizin für alle gut ist. Absolut nicht mehr zufriedenstellend sind die Wartezeiten auf einen Termin bei einem Spezialisten. Sie sind mitunter katastrophal. Das ist der Ärztemangel, der sich nach und nach zeigt.
Gab es an dem deutschen Spital, an dem Sie waren, genug Ärzte?
Es war anders organisiert. An deutschen Krankenhäusern gibt es Chefärzte, Oberärzte, Assistenzärzte. Ich war an einem, das gar nicht groß war. Es war ein akademisches Lehrkrankenhaus der Universitätsklinik Homburg im Saarland. Ich war nach meiner Zeit als Assistenzärztin dortgeblieben, wurde Oberärztin, später leitende Oberärztin. Ich machte nur Klinikmedizin. Ich hatte ein Gehalt, das nicht zu vergleichen war mit dem hier. Fragen zum Gehalt aber stellte sich niemand. Wir unterlagen alle dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes. Allerdings hatte ich mit meinem Gehalt eine höhere Lebensqualität. Es ging mir gut mit meinem für Luxemburger Verhältnisse bescheidenen Salär. Hier dagegen muss man nah beim CHL wohnen, um schnell vor Ort zu sein, wenn man Bereitschaft hat. Da muss man schon richtig gut verdienen. Für junge Ärzte geht das kaum.
Sie sagen: Ich machte nur Klinikmedizin. Dann hätte die AMMD recht, wenn sie sagt, die Spitäler sollten sich auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren, und ambulante Aktivitäten sollten aus den Spitälern ausgelagert werden?
Sie hat schon recht. Ich bin Neurologin und gebe am CHL Sprechstunden wie eine Neurologin draußen in ihrer Praxis. Als Krankenhausärztin habe ich mit Schlaganfällen zu tun, mit epileptischen Anfällen und anderen komplizierten Fällen. Da muss ich mich auf ein ganzes Team stützen. In der Sprechstunde dagegen sehe ich zum Beispiel Migräne-Patienten. Die könnten auch in einem Praxiszen-
trum versorgt werden, das leichter zugänglicher wäre als das CHL in Luxemburg-Stadt. Aber: Wenn man auslagert, müsste man vorher schauen, wie man die Spitäler organisiert und vor allen Dingen finanziert. Die Auslagerungen dürfen die Spitäler nicht schwächen.
Braucht es letzten Endes vor allem viel mehr Ärzte in Luxemburg? In Deutschland existiert die „doppelte Facharztschiene“: Krankenhausärzten ist es sogar untersagt, Patienten weiter zu betreuen, die aus der Klinik entlassen wurden. Es sei denn, sie sind privatversichert. Folglich bestehen in Deutschland zwei Facharzt-Welten nebeneinander, eine ambulante in Praxen und eine in den Kliniken.
Ich weiß nicht, ob man das auf Luxemburg übertragen könnte. Man müsste bei allen Spezialitäten schauen, was für Zwänge es gibt. Dass Patienten, die im Spital waren, weiterbetreut werden müssen, ist immer wieder nötig. Aber bei uns sind mittlerweile die Sprechstunden so voll mit ambulanten Patienten, dass ich einen, der im Spital liegt und den ich nach zwei oder drei Monaten wiedersehen müsste, gar nicht wiedersehen kann, weil ich das nicht schaffe. Das ist kein gutes System. Ich sehe zumindest in meinem Fach im Moment die einzige Chance in einer organisierten Zusammenarbeit mit Ärzten draußen.
Haben Sie die AMMD schon getroffen?
Wir hatten Kontakt und haben freundschaftlich miteinander gesprochen.
Die MSH stellt den Alleinvertretungsanspruch der AMMD infrage.
Wir suchen nicht den Konflikt mit ihr, meinen aber, dass sie die Interessen der angestellten Klinikärzte nicht ausreichend vertritt. Unverständlich ist das nicht, denn angestellte Spitalmediziner sind eine kleine Minderheit und haben unter Umständen entgegengesetzte Interessen zu liberalen Medizinern. Die MSH hat es aber fertiggebracht, in wenigen Monaten die Hälfte der rund 300 angestellten Spitalmediziner hier im Land für sich zu gewinnen. Einfach ignorieren kann uns niemand mehr, auch die AMMD nicht.
Sie hatten zu Beginn gesagt, dass eingespielte multidisziplinäre Teams für die Services nationaux besonders wichtig sind. Die meisten nationalen Dienste sind am CHL angesiedelt. Das löst das Problem der Abgänge von Ärzt/innen aber offenbar nicht. Berechtigt ein nationaler Dienst nicht zu mehr finanziellen Mitteln?
Bessergestellt sind die Service nationaux nicht. Hinzu kommt, dass das CHL noch immer abwechselnd mit dem Hôpital Kirchberg nachts und am Wochenende Bereitschaftsdienst hat. Hat das CHL keinen Bereitschaftsdienst, hat es dennoch „kleine Bereitschaft“ für die nationalen Dienste. Denn die gibt es nur einmal im Land. Dann aber ist unsere Poliklinik geschlossen, es ist weniger Personal da, der Empfang ist weniger besetzt, es sind weniger OP-Schwestern präsent und weniger Radiologen. Ruft dann zum Beispiel Ettelbrück in unserer Stroke Unit an und kündigt einen Schlaganfall-Patienten an, müssen wir damit klarkommen, auch wenn weniger Personal vor Ort ist. Dann stehe ich da und frage mich: Wie kriege ich den Patienten angemeldet und ins Computersystem? Wo bekomme ich eine Blutanalyse her und ein EKG? Dann basteln wir. Das ist sehr schade, denn die Idee einer Bündelung von Kompetenzen in einem Service national ist unseres Erachtens der richtige Ansatz. Als Land müssen wir uns aber die Mittel geben, um eine gute Idee auch gut und richtig umzusetzen.
Das dürfte eine politische Frage sein.
Das denken wir in der MSH auch. Deshalb gibt es uns. Das kann nur die Politik lösen.
Sind Sie schon eingeladen worden?
Ja. Es sollen Gespräche stattfinden.
Lassen Sie uns noch einmal auf den Ärztemangel zurückkommen. Er wird immer wieder eine Bedrohung für das Gesundheitssystem genannt. Dann wird oft gesagt, Luxemburg müsse attraktiv bleiben oder attraktiver werden. Auch weil junge Mediziner/innen andere Vorstellungen vom Beruf und von der Work-Life-Balance hätten. Was könnte die Jungen interessieren?
Unsere ASBL macht sich vor allem Gedanken um das Statut des Klinikarztes: Was soll er machen können, wie funktionieren? Multidisziplinär, mit den Kollegen, hatte ich schon gesagt. Wir sehen seine Rolle aber auch in der Spezialausbildung von Assistenzärzten, beim so genannten „compagnonnage“. Forschung ist ein weiteres wichtiges Thema. Zurzeit läuft sie nebenher. Sie hängt von engagierten Ärzten ab, die Forschung aus Interesse neben der Spitalmedizin betreiben. Es müsste ein Statut „médecin-chercheur“ geben, das es vom Gehalt her erlaubt, zum Beispiel 50 Prozent Krankenhausmedizin und 50 Prozent Forschung zu machen. Nötig wären dann auch Teams, die überlegen, worüber geforscht werden sollte. Ein anderes großes Thema ist die Qualität: Will ich Qualitätssicherung, muss ich zunächst ein Register der Resultate anlegen. Das ist der Ausgangspunkt, um zu erfahren, wie wir im internationalen Vergleich dastehen. Zu vielen Pathologien gibt es in Luxemburg gar nichts; es ist unbekannt, wie viele Patienten wir mit welchen Resultaten behandeln und was das im internationalen Vergleich bedeutet. Was in unseren Augen ebenfalls wichtig wäre, ist eine gewisse Hierarchie ...
Sie meinen, Oberärztinnen und Chefärzte?
Da Spitalmedizin immer Teamarbeit ist (mein Kollege ersetzt mich nach einem Wochenenddienst, in den Ferien, bei Krankenausfall), ist es wichtig, dass das Team dieselbe Sprache spricht, die Therapien also kohärent und von jedem im Team gleich angewandt werden. Das geschieht über gemeinsame Behandlungsprotokolle, die man gemeinsam ausarbeiten kann. Die Funktion eines Chefs kann es vereinfachen, einen klaren roten Faden zu vermitteln. Natürlich ist es schön, dass in Luxemburg alle Ärzte gleichberechtigt sind und auf derselben Ebene arbeiten. Aber das nicht-hierarchische System bei uns hat auch seine Grenzen. Und wenn ich Hierarchie sage, dann folgt daraus auch, dass man jungen Ärzten damit eine Karriereperspektive anbieten und sagen könnte: Wenn du motiviert bist, dann arbeite dich hoch. Dir stehen diese und jene Funktionen offen, du machst diese oder jene spezielle Ausbildung und hast dann vielleicht Aussichten auf einen Posten wie „Oberarzt“ oder „Chefarzt“. So etwas gibt es hier nicht. Es wäre aber ein Anreiz, Verantwortung zu übernehmen und für eine Qualität von Medizin einzustehen.
Für wie konsensfähig halten Sie das?
Im liberalen Bereich wäre das wahrscheinlich schwer umzusetzen. Ich halte das dort für fast nicht möglich. Die Mehrheit der Luxemburger Ärzte funktioniert anders als die Salariatsmedizin. Dessen sind wir uns in der MSH auch bewusst und wissen, dass wir eine Minderheit sind. Ich bin aber überzeugt, dass auch in anderen Spitälern Kollegen arbeiten, die ähnlich denken wie wir.