Hier würden „Belegschaften unter Generalverdacht gestellt“, meinte LCGB-Vize-Generalsekretär Joe Spier am Montag vor einer Woche. Und OGB-L-Präsident Jean-Claude Reding warf diesen Dienstag nach der Sitzung des Nationalkomitees der Gewerkschaft „immer mehr Arbeitgebern“ vor, „das Arbeitsgesetz in ihrem Sinne“ zu interpretieren.
Zweieinhalb Monate nach seiner Einführung wird nicht nur darüber gestritten, wie das Einheitsstatut administrativ weiter auszugestalten wäre. Es geht auch um die Essenz des „Jahrhundertwerks“, das im Privatsektor seit Anfang des Jahres vor allem die zeitweilige Lohnfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber auch auf die früheren Arbeiter ausgedehnt hat.
Denn wenn etwa der LCGB beklagt, dass „immer systematischer“ ein Krankenschein bereits für den ersten Krankheitstag verlangt werde, ist das Arbeitsrecht allgemein berührt. Krankenschein-Strenge herrscht zum Beispiel in verschiedenen Handwerks- und Mittelstandsunternehmen. Die Handwerkerföderation meinte in der jüngsten Ausgabe ihrer Mitgliederzeitschrift d’Handwierk, den „mythe du droit du congé de maladie sans certificat médical“ aufklären zu müssen. Denn laut Sozialrecht ist ein Krankenschein nicht nötig „pour les incapacités de travail ne s’étendant que sur un ou deux jours ouvrés“. Der Code du Travail dagegen verpflichtet Erkrankte zur Vorlage eines Krankenscheins beim Arbeitgeber „le troisième jour de son absence au plus tard“.
Während der christliche Gewerkschaftsbund hofft, dass der christlichsoziale Arbeitsminister François Biltgen kurzfristig das Arbeitsrecht dem Sozialrecht angleichen werde, möchten die Arbeitgeberverbände den Spielraum nicht aufgeben, der sich daraus ergibt, dass „spätestens am dritten Tag“ auch „schon am ersten Tag“ heißen kann: Ein Arbeitgeber könnte zum Beispiel von Mitarbeitern, die selten fehlen, tatsächlich erst am dritten Tag einen Krankenschein verlangen, sagt Romain Schmit, Direktor der Handwerkerföderation. Häufig krank Geschriebene dagegen könnten ihn gleich am ersten Fehltag vorlegen müssten. So, sagt Schmit, sei es „schon immer“ gehandhabt worden, und er versteht nicht, was der LCGB plötzlich entdeckt zu haben glaubt.
Man könnte es so nennen: Die Gewerkschaften versuchen – vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Rezession zumal –, politischen Boden gut zu machen, den sie vor zwei Jahren aufgegeben hatten. Damals hatten sich die Arbeitgeberverbände dem Projekt Einheitsstatut, auf das die Tripartite sich im Frühjahr 2006 geeinigt hatte, wieder versperrt. In der Tripartite war noch keine eindeutige Verbindung zwischen dem Einheitsstatut und dem Kampf gegen einen zu hohen Krankenstand hergestellt worden. Im Sommer 2006 aber verstand der Patronatsdachverband UEL unter der Senkung des Krankenstands das eigentliche Ziel des statut unique. Weil es die UEL zunächst mit der Einführung zweier unbezahlter Karenztage wie etwa in Frankreich erreichen wollte, dann mit einem Abschlag auf das Krankengeld, überließen die Gewerkschaften die Verhandlungen mit dem Patronat lieber der Regierung, um nicht an einer Lösung, die sie für schlecht halten würden, beteiligt zu sein. Aus dem Grund war die Krankenscheindebatte vorhersehbar. Aber auch, weil die Gesundheitskasse CNS nun für alle Beschäftigten im Privatsektor Krankengeld erst ab dem Monatsersten zahlt, der auf den 77. Krankheitstag folgt. Für Betriebe mit hohem Anteil ehemaliger Arbeiter sind dadurch die Arbeitgeberanteile zur Krankengeldversicherung der CNS stark gefallen. Die Beiträge der Unternehmen zu der neu eingeführten Krankengeld-Mutualität, die vier Fünftel des weiter zu zahlenden Gehalts im Krankheitsfall erstattet, sind allerdings in vier Risikoklassen eingeteilt. In Klasse 4, die einem hohen Krankenstand im vergangenen Jahr entspricht, sind sie so hoch, dass für den betreffenden Betrieb die Lohnnebenkosten sich kaum von denen im Arbeiterregime unterscheiden. Werden viele Mitarbeiter krank, kann das eine Fünftel „Selbstbehalt“ einer Firma an der Lohnfortzahlung teuer werden.
Dass es Betriebe gibt, die das zur Repression veranlasst, ist günstigenfalls nur Ausdruck normaler Startschwierigkeiten des Systems Einheitsstatut. Erst im Laufe dieses Monats wird es Zahlen über die Krankenstände seit Anfang des Jahres geben. Dass es bislang viele Missbräuche gegeben haben könnte, deuten die auf Anfrage der Arbeitgeber von der CNS durchgeführten so genannten administrativen Kontrollen nicht an: Seit 1. Januar wurde 253 Mal kontrolliert, sagt CNS-Präsident Jean-Marie Feider, darunter 114 Mal im Februar. 40 der 114 Kontrollierten seien nicht daheim angetroffen worden, aber nur 20 hätten dafür keinen triftigen Grund gehabt. „Kein schlechtes Resultat“, sagt Feider, „wenn man bedenkt, dass in allen 114 Fällen der Arbeitgeber eigentlich Missbrauch vermutete.“
So dass viel Aufregung um den absentésime in den Betrieben eigentlich fehl am Platze scheint. Weitere Kontroll-Handhabe kündigt sich an. Die CNS ist dabei, „Kontroll-Algorithmen“ aufzustellen, mit denen aus der Krankenstands-Geschichte jedes Versicherten sich Vorladungen beim ärztlichen Kontrolldienst der Sozialversicherung ergeben sollen. Bis zum Sommer sind „Branchen-Benchmarks“ für den Krankenstand der Betriebe zu erwarten; dann würden diese „weniger stark aus dem Bauch heraus argumentieren“, ist Romain Schmit überzeugt. Bis dahin könnte auch jenes Zehntel der Betriebe näher untersucht sein, das 2007 rund 80 Prozent aller Krankheitsfälle auf sich vereinigte, wie eine Erhebung des Sozialforschungszentrums Ceps-Instead für die Hochrangige Arbeitsgruppe der Tripartite ergab. „Unternehmen aus allen möglichen Sektoren, vom Bauwesen bis zur Finanzbranche, fallen darunter“, sagt Pierre Bley, Generalsekretär des Patronats-Dachverbands UEL und Präsident der Krankengeld-Mutualität. Zu guter Letzt hat die CNS die Verschreibungsprofile der 12 Ärzte erfasst, die besonders viele Krankenscheine ausgestellt haben.
Doch die Auseinandersetzung dreht sich mittlerweile auch um den Geltungsbereich der Lohnfortzahlung. Es sei „klar im Arbeitsgesetz geregelt“, erklärte OGB-L-Präsident Reding am Dienstag, dass auch Angestellte im Krankheitsfall nicht nur Anspruch auf den Grundlohn, sondern „auch auf die Zuschläge“ hätten. Reding spielte damit auf die Firma Hyosung an, die erkrankten Mitarbeitern im Schichtdienst keine Nachtschichtzuschläge auf das Krankengeld auszahlt. Für die Betroffenen mache das 300 bis 700 Euro weniger aus, sagt OGB-L-Sozialsekretär Carlos Pereira. Mittlerweile gebe es noch andere Betriebe, die das Einheitsstatut so handhaben wollen. Darunter sei auch ein Krankenhaus.Doch so klar geregelt ist die „Zuschlags-Frage“ anscheinend doch nicht. Sie wurde, wie die Krankenschein-Frage, schon erörtert, nachdem der Gesetzentwurf zum Einheitsstatut vorlag. Zu den Krankschreibungen verlangten die damalige Arbeiter- und die Angestelltenkammer wie heute LCGB und OGB-L, im Arbeitsrecht die Möglichkeit zu streichen, dass schon am ersten Krankheitstag ein Krankenschein verlangt werden könnte.Zur Berechnung der Zuschläge traten Handwerks- und Handelskammer dafür ein, das Sozialrecht zu ändern: Würde die CNS nach 77 Tagen für einen Einheits-Statutler Krankengeld zahlen, hätte er Anspruch auf ein Basis-Krankengeld, das dem höchsten Monats-Grundgehalt in einem der drei vorangegangenen Monate entspricht. Plus dem 12-Monats-Durchschnitt an Zuschlägen. So hält es heute das Sozialversicherungsbuch fest. Die beiden Patronatskammern dagegen wollten, dass das CNS-Krankengeld anhand des Code du Travail berechnet werde: „Le salarié incapable de travailler a droit au maintien intégral de son salaire et des autres avantages résultant de son contrat de travail (...).“ Die Handelskammer insistierte: Das Patronat habe mit der Regierung vereinbart, dass „exclusivement“ dieser Artikel herangezogen werde. Mit der Handwerkskammer erklärte sie sich immer wieder „konsterniert“, dass die Regierung darauf nicht einging. Heute versucht der OGB-L mit einem von der Salariatskammer verfassten juristischen Gutachten zu beweisen, dass das im Code du Travail festgeschriebene Recht auf die Lohnfortzahlung auch die Zuschläge einschließt. UEL-Generalsekretär Bley sieht das nicht so: „Nur für den ehemaligen Arbeiter galt das Prinzip, so viel Krankengeld zu erhalten, wie falls er gearbeitet hätte, nicht aber für den ehemaligen Angestellten.“ Das gehe aus der einschlägigen Rechtssprechung hervor.
Ausgeschlossen ist es nicht, dass in all diesen Fragen Gerichte entscheiden müssten – ob der Arbeitsminister für Klärung sorgt, ist zumindest unsicher. Er werde an das Arbeitsrecht „nicht rühren“, sagt der vom Land kontaktierte Minister. „Sonst würden alle möglichen Forderungen laut.“ Die Sorge hatte er schon, als das Einheitsstatut entworfen wurde und er darüber wachte, dass die Änderungen am Arbeitsrecht so klein wie möglich blieben.Denkbar ist allerdings ebenfalls, dass nach den Wahlen alle diese Fragen in der Tripartite zur Sprache kommen. So dringend, wie die Gewerkschaften vom Arbeitsminister erwarten, dass er für Klärung bei den Krankenscheinen und den Zuschlägen sorgt, so lange warten die Arbeitgeberverbände, vor allem UEL und Fedil, auf Flexibilisierungsschritte im Arbeitsrecht. Das 109-Punkte-Programm der UEL zur Überwindung der Krise und ihrer Langzeitfolgen enthält einige solcher Forderungen des Patronats.
Und so sind vielleicht die Auseinandersetzungen um das Einheitsstatut die Vorboten größerer Debatten im Herbst und zugleich Tests, wessen Einfluss größer ist.