Nach dem Scheitern der Tripartite vor einem Jahr als der während Jahrzehnten gepriesenen Sakralisierung des Sozialdialogs in nationaler Eintracht hatten sich viele von der diesjährigen Erklärung zur Lage der Nation eine neue Erzählung versprochen: Der begnadete Geschichtenerzähler an der Spitze der Regierung sollte dem Parlament von der Zukunft eines winzigen Landes in einer riesigen Welt nach der großen Krise erzählen.
Das brave Wahlvolk war dafür sogar bereit, eine Periode der Mühsal in Kauf zu nehmen, wenn er ihm als Happyend eine glückliche Heimkehr dorthin verspräche, wo alles ist, wie es nie war. Die Unternehmer erwarteten die Geschichte von einem neuen Land, in dem sie so ungehindert wie nie Handel treiben könnten und das ihnen stets einen sicheren Hafen zur Eroberung fremder Märkte bieten würde.
Aber alle wünschten sie sich nichts sehnlicher als eine schöne, abgerundete und zusammenhängende Erzählung. Sie sollte in all dem Gejammer über Krise, Sparen und Kosten Aufbruchstimmung verbreiten und einen nach einer Stunde Zuhören ein wenig weiterträumen lassen von einem ordentlichen und sauberen Großherzogtum, in dem die Wirtschaft ebenso rasant wie naturverbunden wächst, das zu seinen Kindern, Alten und Ausländern nett ist, wenn diese es auch sind.
Dabei hatte der Premierminister keine neue Regierungserklärung versprochen, so wie er es bauernschlau nach den Gemeindewahlen 2005 getan hatte. Aber vielleicht kommt die nach den Gemeindewahlen im Herbst. Er hatte lediglich angekündigt, dass er seine Erklärung „über die wirtschaftliche, soziale und finanzielle Lage des Landes“ einen Monat vorverlegen würde, um sie ins „europäische Semester“ der Haushaltsvorbereitung einpassen zu können. Aber nicht einmal über den nächsten Staatshaushalt war viel zu erfahren. Außer vielleicht der Ankündigung, dass es der Regierung nicht gelingen werde, ihr Versprechen ausgeglichener Staatsfinanzen bis zum Ende der Legislaturperiode zu erfüllen. Denn 2014 sollen die Staatsfinanzen in der „günstigsten Hypothese“ mit einem Fehlbetrag von 200 Millionen Euro abschließen.
Folglich klagten selbst aus dem Mehrheitslager der Luxemburger-Wort-Leitartikler: „Pragmatismus statt Visionen hat diese Regierung offensichtlich dem Land ausschließlich zu bieten“, und sein Tageblatt-Kollege: „Von der erhofften Zeitenwende demnach keine Spur.“
Doch statt einer neuen Erzählung fiel Jean-Claude Juncker sonst nichts ein, als erneut die soziale Frage hinter sozialen Fragen zu kaschieren. So begann er seine Erklärung teilnahmsvoll mit verstörten Kindern und obdachlosen Alten, um sie dann wenig später als „soziale Restsorgen“ abzutun. Wie serbische Zigeuner zwar „unglückliche Menschen“ seien, es aber „im Interesse der serbischen Menschen“ sei, spätestens nach drei Monaten mit 250 Euro je Erwachsenem und 100 Euro je Kind im „Gratisbus“ abgeschoben zu werden.
Die Gëlle Fra der sozialen Frage ist der Index. Deshalb konnte der Premier auf die Forderungen hin der Unternehmer und internationalen Finanzorganisationen nach einer Abschaffung des Inflationsausgleichs nur versprechen, dass sich die Regierung weiter von einer Manipulation zur nächsten durchmogeln will. Wie bereits mit den Gewerkschaften abgemacht, soll die Tripartite im September zusammenkommen, um auch die für Frühjahr 2012 erwartete Tranche auf Oktober 2012 aufzuschieben. Wobei der Ausfall für Kleinverdiener vorübergehend kompensiert werden soll.
Wie aber die „Modalitäten, die wir finden müssen“, um das Indexsystem an sich strukturell zu „modulieren“, aussehen sollen, wusste Jean-Claude Juncker auch nicht, seit er vor einem Jahr mit seinen Vorschlägen gescheitert war, die Indexanpassungen auf den doppelten Mindestlohn zu beschränken oder die Erdölprodukte aus dem Warenkorb zu entfernen. Und wie er diese Modalitäten doch noch finden kann, sagte er nicht: in einer anderen Koalition – DP und Grüne bewerben sich seit Monaten mit Vorschlägen für einen „nachhaltigen Index“.
Erstaunlich allgemein blieb der Premier auch beim Thema Rentenreform. Er erinnerte daran, dass er mit der „Rentenmauer“ und dem „700 000-Einwohnerstaat“ schon immer Recht gehabt hatte, und verwies auf das geplante Prinzip: länger arbeiten oder weniger Rente. Um den Rest soll sich der zuständige LSAP-Minister kümmern. Die laut gewordenen Zweifel an der praktischen Durchführbarkeit des höheren Renteneintrittsalters wies er phantasievoll mit dem Verweis auf die stärkere Bezuschussung der betrieblichen Weiterbildung zurück. Sie war noch vor vier Monaten den Unternehmern als Kompensierung für die Indextranche des vergangenen Jahres zugesagt worden.
Im Dezember hatte die Regierung den Unternehmern auch die Verkürzung der Dienstwege bei Bau- und Betriebsgenehmigungen versprochen. Das verspricht sie zwar seit einem Jahrzehnt, doch nun soll es plötzlich so einfach gehen: Mit einem großherzoglichen Reglement sollen vor allem mittelständische Betriebe im Kommodo-Gesetz von der Klasse eins in die Klasse drei versetzt werden, so dass sie eine Betriebsgenehmigung ohne vorherige öffentliche Erhebung erteilt bekommen können. Die nun als lästige Schikanen abgeschafften Prozeduren waren einst als Gipfel fortschrittlicher Umweltpolitik eingeführt worden.
Weil aber nach jeder Ölpest und jedem Reaktorunfall die Popularität der Grünen in den Meinungsumfragen schlagartig steigt, forderte auch der Premier von der französischen Regierung die Schließung der Atomzentrale von Cattenom, wenn sie keinen Absturz „eines vollgetankten Jumbo“ aushalten sollte. „Raus aus der Abhängigkeit von fossilen Energieträgern, hinein in die neuen Energien“ heißt nämlich die euphorische Devise. So euphorisch, dass dabei kein Wort über den Tanktourismus verloren wird. Gleichzeitig übernimmt die Regierung die Vorschläge des Handwerkerverbands, mit der Konzentrierung auf das Energiesparen die Wohnungsbaupolitik von einer sozialen zu einer umwelttechnischen Frage zu machen. Aber es sind immerhin schon elf Jahre her, dass das Wort „Nachhaltigkeit“ 22 Mal in einer Erklärung zur Lage der Nation gefallen und dann wieder verschwunden war. Noch 2003 hatte der Premier in seiner Erklärung gemeint, dass das Wirtschaftswachstum gedrosselt werden müsse.
Die Schuld daran, dass er nicht mit einer schönen, neuen, abgerundeten Erzählung dienen konnte, schob Jean-Claude Juncker anderen in die Schuhe, jenen, die den aufrecht gesinnten Reformern wie ihm „ständig andere Absichten unterstellen“, Lehrern und anderen Beamten, der übergroßen Zahl von „Gruppenegoismen“ und dem mangelnden „Sinn für das allgemeine, das heißt, das nationale Wohl“.
Aber in Wirklichkeit hat es vielleicht damit zu tun, dass CSV und LSAP sich nicht mehr auf eine gemeinsame Erzählung einigen können. Denn, wie das gemeinsame „S“ in ihren Parteinamen nahelegt, müsste die gemeinsame Erzählung irgendwie vom Sozialen handeln. Vor einer Generation nannten sie das sogar noch „sozialer Forschritt“. Doch dafür steht endgültig kein Geld mehr bereit.