ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Totem und Tabu

d'Lëtzebuerger Land du 03.01.2025

Finanzminister Gilles Roth hatte es im März angekündigt. Vor zwei Wochen bestätigte er im Parlament: „Mir wëllen eis och fir d’Zukunft een nationalen OMT ginn“ (18.12.24).

Das mittelfristige Haushaltsziel (Objectif à moyen terme, OMT) ist seit Jahrzehnten Teil des Stabilitätspakts der Europäischen Union. Seit dem Bankenkrach dient es als Totem. Schamanen mit Aktenkoffern zaubern fiktive Salden hervor aus „Produktionslücken“, „potenziellem BIP“, dem Bruttoinlandsprodukt im Rentenjahr 2070. Zur ökonomischen Disziplinierung der besitzlosen Klassen.

Politische Willkür wird mathematisch verbrämt: DP, LSAP und Grüne kündigten 2013 „un solde structurel des finances publiques d’au moins +0,5% du PIB“ an (Regierungsprogramm, S. 21). Um die Austerität ihres „Zukunftspak“ als unumgänglich darzustellen. Bei den Europawahlen 2014, dem Referendum 2015 protestierte die Wählerschaft. 2016 senkte die Regierung ihr Haushaltsziel auf ein Defizit von –0,5 Prozent. Ab 2020 erhöhte sie es wieder auf +0,5 Prozent. Bis zu den Covid-Schulden. Nun liegt es etwas albern bei null Prozent.

Dann überfiel der „Ennemi“ die Ukraine. Die Wirtschaft lahmte. Der Stabilitätspakt wurde zum Bumerang. Im Frühling beschlossen die EU-Regierungen seine Flexibilisierung. Als Kompromiss zwischen der deutschen Exportindustrie und ihren klammen Kunden. Das mittelfristige Haushaltsziel schafften sie ab.

Die CSV will sich nicht vom OMT trennen: „Dofir passe mir och eis Budgetsgesetzer un.“ Versprach der Finanzminister. Er wolle die „Chamber nach am éischte Semester hei mat abannen“.

Der Conseil national des finances publiques (CNFP) schlägt vor, „d’adapter la méthodologie de calcul de l’OMT à des spécificités nationales“ (Haushaltsgutachten 2025, S. 44). Geplant ist ein nationales OMT. Im Insularismus des „Indice des prix à la consommation national“, des Modux- und Comlux-Bruttoinlandsprodukts, der nationalen Covid- und Arbeitslosenraten, der vier strukturellen Salden, des Rüstungsanteils am Bruttonationaleinkommen.

Die CSV sehnt sich zurück nach ihren besseren Jahren: Das nationale OMT soll die 1967 erfundene „Budgetnorm“ wiederbeleben. Als die magische Formel Wirtschaftswachstum + Inflationsrate + „Elastizitätsfaktor“ den stabilen „Werner-Frang“ ergab. Seine Stabilität war kurzlebig.

Das nationale OMT soll die politische Funktion der deutschen Schuldenbremse übernehmen. Zusammen mit dem Triple-A soll es technokratische Sachzwänge schaffen zur Umgehung von Parlament, Sozialpartnern.

Wenn die Staatsschuld tabu ist, die Unternehmensbesteuerung gesenkt wird, soll das OMT Einsparungen am Sozialstaat rechtfertigen. Etwa an den Renten: „[L]’OMT prend en effet en compte un tiers des coûts futurs estimés liés au vieillissement de la population.“ So der CNFP (ibid.). Pünktlich zur angekündigten Rentenreform soll es Rentenanrechte wieder zu einer „impliziten Schuld“ erklären. Eine neue Rentenmauer vorrechnen.

2017 suchte die Zentralbank die „dépenses budgétaires liés au vieillissement“ im OMT. Doch „[l]e chiffre devant être inséré dans le tableau demeure confidentiel“ (Bulletin 2017/3, S. 208, 210). Das Geschäft der Schamanen ist das Mysterium.

Geplant sind weitere buchhalterische Kunststücke, in Berlin „Sondervermögen“ genannt, „telle que l’exclusion d’une partie des investissements du calcul du solde structurel“ (CNFP, ibid.). Um die expliziten Schulden für Rüstungsausgaben aus dem nationalen OMT herauszurechnen. So können sie ungestört weiter erhöht werden.

Derzeit droht die Steueroase, dem Staat zu viel einzubringen. Die Schamanen müssen Angst vor dem Ruf nach Umverteilung verbreiten. Mit dem OMT beschwören sie Fatzers Gespenster aus der Zukunft.

Romain Hilgert
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