Im Wahlkampf hatten alle Parteien das wachsende Misstrauen gegenüber einer europäischen Integration festgestellt, die den Sozialstaat dem ungehinderten Wettbewerb und dem institutionalisierten Spardiktat opfert, das Bankgeheimnis und den elektronischen Handel wegharmonisiert und der Abgeordnetenkammer die Kontrolle über die Staatsfinanzen entringt. Von Irland bis Bulgarien, von Finnland bis Griechenland versuchten die Wähler verschiedene Strategien, um auf diese Entwicklung zu reagieren.
Eine davon war der Verzicht auf eine Wahlbeteiligung. Am Sonntag nahmen hierzulande viereinhalb bis fünf Prozent weniger eingeschriebene Wähler teil als bei den Europawahlen 2009. Genau ist das nicht zu ermitteln, weil das Zentrale Wahlbüro die Zahl der eingeschriebenen Wähler am Freitag mit 262 873 angab und die offizielle Internetseite mit den Wahlergebnissen am Sonntag sie auf 264 433 bezifferte. Doch es begaben sich deutlich weniger Wahlberechtigte in die Kabinen als 2009. Damals schien es interessanter, hinzugehen, weil gleichzeitig die nationalen Abgeordneten gewählt wurden. 2009 gaben 90,76 Prozent der eingeschriebenen Wähler einen Wahlzettel ab, diesmal waren es nur noch 85,55 Prozent (oder 86,06 Prozent).
Eine weitere Strategie ist die Protestwahl. Doch im Gegensatz zu den Kollegen in anderen europäischen Staaten zählen sich die Zollverein- und UEBL-gewohnten Luxemburger wohl nicht ganz zu Unrecht noch immer zu den Integrationsgewinnern in Europa. Deshalb sahen sie keinen Grund zu einer politischen Radikalisierung. Die einzige Partei, welche diesmal die Europäische Union glattweg ablehnte, war die Kommunistische, sie erhielt anderthalb Prozent der Stimmen.
Nationalistische und rechtsradikale Kandidatenlisten gab es überhaupt keine. Um jedes Missverständnis zu vermeiden, hat sich die ADR deshalb artig mit den britischen Konservativen angefreundet und blieb bei siebeneinhalb Prozent Stimmen, trotz der Konkurrenz ihres Dissidenten Jean Colombera. Colomberas leicht spiritistische Pid erhielt noch fast zwei Prozent der Stimmen.
Als Reaktion auf eine als bedrohlich empfundene Entwicklung in der gleichzeitig für unumgänglich gehaltenen Europäischen Union hielten hierzulande die Wähler eher die Strategie der paternalistischen Zuflucht für die geeignete. Getreu ihrer gottesfürchtigen Nationalhymne, „O Du do uewen, deem séng Hand [...] Behitt Du d’Lëtzebuerger Land“ wählten sie konservativ und christkatholisch, um ihre Interessen in der Brüsseler Kommission vom ehemaligen Mister Euro Jean-Claude Juncker und im Straßburger Parlament von der ehemaligen Roaming-Queen der Kommission, Viviane Reding, möglichst effizient verteidigen zu lassen. Ähnlich wie 2009 bei den Nationalwahlen, als die Partei von einem weiten Sicherheitsbedürfnis in der Finanz- und Wirtschaftskrise profitierte, triumphierte die CSV bei den Europawahlen. Die drei Regierungsparteien verloren dagegen Stimmen.
Schon bei den Kammerwahlen im Oktober hatte sich gezeigt, dass die Wähler aufgehört haben, immer mehr zu panaschieren. Im Vergleich zu den Europawahlen 2009 wurden am Sonntag bei fast allen Parteien deutlich öfter über den Listen „de Rondel geschwäerzt“. Der gestiegene Anteil der Listenstimmen heißt, dass viele Wähler politischer und ideologischer gestimmt haben oder vielleicht ganz einfach einen Teil der Kandidaten gar nicht kannten. Am meisten ging der Anteil des Panaschierens bei den drei großen Parteien CSV, LSAP und DP zurück, auch wenn sie sich europapolitisch am wenigsten unterscheiden.
Kleinere Parteien, die nur über wenige bekannte Politiker verfügen, zogen einen Vorteil daraus, dass diese bei den Europawahlen landesweit in einem einzigen Wahlbezirk antreten durften. Trotz der Unvereinbarkeit der Mandate kandidierten deshalb sogar nationale Abgeordnete bei der LSAP, den Grünen, der ADR und der Linken. Doch Marc Angel, Claude Adam und Justin Turpel wurden immer nur Zweite ihrer Listen; sie brauchen also nach dem Stimmenfang ebenso wenig ein europäisches Mandat abzulehnen wie Gast Gibéryen, Fernand Kartheiser und Roy Reding.
Mit 36,65 Prozent erhielt die CSV alleine fast so viele Stimmen wie die drei Regierungsparteien zusammen und erzielte ihr bestes Ergebnis seit Beginn der Direktwahlen zum Europäischen Parlament 1979. Ihre spektakuläre Verbesserung um 6,33 Prozentpunkte erfolgte allerdings im Vergleich zu 2009, als sie im fast selben Umfang, 5,81 Prozentpunkte, verloren hatte. Damals kandidierte erstmals nicht mehr die ganze christlich-soziale Regierungsmannschaft bei den Europawahlen, um, wie gewohnt, breit Wählerstimmen für Mandate zu sammeln, die anzunehmen sie nicht im Traum daran dachte.
Mit Ausnahme der 800-Seelen-Gemeinde Fischbach legte die CSV am Sonntag flächendeckend in allen Gemeinden des Landes zu. Präsident Marc Spautz freute sich am Montag, dass bei diesem Rechtsrutsch seine 1914 gegründete Partei sogar erstmals „seit dem 19. Jahrhundert“ in dem linken Bergarbeiterstädtchen Rümelingen stärkste Partei wurde.
Dass viele Wähler CSV wählten, damit Jean-Claude Juncker durch eine Stärkung der Europäischen Volkspartei Kommissionspräsident werde, kritisierten die anderen Parteien als eine Form der Wettbewerbsverzerrung, weil die CSV so mit einem „siebten Mann“ ins Rennen gegangen sei. Dagegen meint die CSV, dass die Wähler mit ihrer Stimme für die CSV auch zeigen wollten, dass es ihrem Gerechtigkeitssinn widersprach, wie die CSV als stärkste Partei im Oktober von den Koalitionsverhandlungen ausgeschlossen wurde. LSAP-Präsident Claude Haagen wollte ein solches Wählerverhalten am Montag nicht bestreiten. Der erfahrene Diekircher tat es aber als „Revanchismus“ ab.
Die drei Koalitionsparteien kamen insgesamt auf 41,53 Prozent der Stimmen. Bei den Kammerwahlen im Oktober lag ihr Anteil noch bei 48,59 Prozent und bei den Europawahlen 2009 bei 54,96 Prozent. Im Vergleich zu den Kammerwahlen im Oktober verloren die beiden wichtigsten Regierungsparteien, DP und LSAP, während alle anderen Parteien Stimmen hinzugewannen.
Am größten ist das Fiasko der LSAP, das beinahe an dasjenige ihrer französischen Kollegen erinnert. Die Sozialisten haben fast die Hälfte ihrer Stimmen gegenüber 2009 und 2013 verloren. Sie, deren Ziel es immer war, „auf Augenhöhe“ mit der CSV die zweite Volkspartei im Land zu sein, sind erstmals nur noch vierte geworden: Nicht nur die CSV, auch die DP und sogar die Grünen erhielten mehr Stimmen als die LSAP. Waren die Sozialisten im Oktober die stärkste der drei Regierungsparteien, sind sie bei den Europawahlen die schwächste. Ihre Stärke zeigen sie vor allem bei Gemeindewahlen, nachrangig Landeswahlen.
Die LSAP scheiterte, weil sie das genaue Gegenteil der CSV war: Pries sich die CSV erfolgreich als „Kompetenzteam“ für eine paternalistische Option an, erschien die LSAP-Liste als das Inkompetenzteam, weil kein einziger der Kandidaten europapolitische Erfahrung hatte, um die Wählerinteressen in Brüssel und Straßburg effizient zu verteidigen. Die LSAP zu wählen, hieß zudem Jean-Claude Junckers deutschen Rivalen, den Sozialdemokraten Martin Schulz, zu stärken, also durch den bei Sozialdemokraten gefürchteten Vaterlandsverrat die paternalistische Option zu sabotieren. Spitzenkandidatin Mady Delvaux-Stehres ist zudem zwar als ehemalige Ministerin landesweit bekannt, aber sie hat sich mit ihren Reformversuchen in der Bildungspolitik bei vielen Lehrern und Eltern unbeliebt gemacht.
Doch die LSAP-Verluste sind in den Arbeiterstädten des Südens, historischen Hochburgen der Sozialisten, überdurchschnittlich. Weil die Bevölkerung dieser Gemeinden am meisten Interesse an der Sozialpolitik hat, scheint es, als ob die sozialistische Stammwählerschaft die Partei auch für die auf Sparmaßnahmen konzentrierte, sehr liberale Regierungspolitik bestrafen wollte. Es waren diese Südgemeinden, die der LSAP schon bei dem Referendum über den Europäischen Verfassungsvertrag 2005 die Gefolgschaft aufgekündigt hatten.
Von dieser Enttäuschung profitierte die Linke, die sich mit dem ehemaliegn Abgeordneten André Hoffmann von 3,41 Prozent 2009 auf 5,76 Prozent eindeutig, aber doch bescheiden verbessern konnte. Wobei es ihr sicher zugute kam, dass sie sich als Teil einer europaweiten Bewegung links von der Sozialdemokratie darstellen konnte, die medienwirksam von dem jugendlichen Helden der griechischen Syriza, Alexis Tsipras, verkörpert wurde.
Die DP trieb dagegen die von der CSV angebotene paternalistische Option auf die Spitze und warb, nach dem Erfolg von 2009, bloß noch mit der Größe von „de Charel“, Charles Goerens als blauem Supermann für Europa. So vermied sie ein ähnliches Fiasko wie die Sozialisten. Denn mit Ausnahme von Charles Goerens schnitten die weitgehend unbekannten DP-Kandidaten nicht besser ab als die unglücklichen LSAP-Konkurrenten.
Allerdings musste die DP die Schmach erleiden, weniger Stimmen als die Grünen zu erhalten und nur noch drittstärkste Europapartei zu sein. Goerens verlor mit 82 975 Stimmen ein Viertel seiner 112 113 Stimmen von 2009. War er damals knapp vor Viviane Reding (CSV) gekommen, liegt er nun deutlich abgeschlagen hinter ihr.
In Goerens Öslinger Hochburg fielen, mit Ausnahme von Ulflingen, die Verluste der DP meist doppelt so hoch aus wie im nationalen Durchschnitt. Vielleicht verübelten die Wähler Goerens und der DP, wie er bei den Kammerwahlen im Oktober kurz aus Straßburg zum Stimmenfang im Nordbezirk auftauchte. In der Hauptstadt, einer liberalen Hochburg, verlor die DP 4,64 Prozentpunkte ihrer Stimmen.
Im Rollenfach der paternalistischen Option gibt der Europaabgeordnete Claude Turmes seit Jahren den grünen „Charel“, der als technokratischerer „Eurofighter“ in Straßburg die Interessen seiner grüne Mittelschichtenwähler an Energie- und Klimapolitik verteidigt und so seine Partei aus der europapolitischen Bedeutungslosigkeit befreit hat. Doch obwohl die Grünen ihre beiden Koalitionspartner LSAP und DP überrunden konnten, verloren sie beim Rechtsrutsch am Sonntag Stimmen im Vergleich zu den vorigen Europawahlen. Turmes fehlten zehn Prozent seiner Stimmen von 2009.
Einen Teil ihrer Stimmenverluste kreidet die ehemalige grüne Jugendpartei wieder der neuen Jugendpartei, den Piraten, an. Sie kamen immerhin auf 4,23 Prozent. Obwohl der wichtigste Programmpunkt der Seeräuber ein Minimum von zwei Prozent Wählerstimmen war, um Anspruch auf jährlich 130 000 Euro Zuschuss aus der Staatskasse zu erhalten.