„Alle Parteien stellen fest, dass die Begeisterung für die Europawahlen nicht so groß ist“, muss der ADR-Abgeordnete Gast Gibéryen eingestehen. Deshalb ist er schon „froh, dass 20 Leute gekommen sind“. Es sind fast alle schon ältere Semester. Sie sitzen in C&A-Blusen und verwaschenen Polos in einem viel zu großen, mit Möbeln vollgestellten Saal des Sportzentrums und warten auf den Beginn der Wahlversammlung. Über dem Tresen stehen Schiffsmodelle, Sammelteller und Sportpokale. Die Kühltruhen summen den ganzen Abend unüberhörbar um die Wette. Eine Kellnerin fährt zuerst mit einem Getränkewagen umher, dann gibt es auch Käse- und Schinkenstullen.
Umso fremder wirkt der Abgeordnete Fernand Kartheiser mit Anzug und Schlips in Esch-Lallingen. Die einzige Frau auf der Liste ist Parteisekretärin Liliana Miranda. Parteipräsident Jean Schoos nehme gerade an einer Podiumsdiskussion in Wiltz teil, der Abgeordnete Roy Reding an einer in der Hauptstadt. Mit Verspätung kommt Ehrenpräsident Roby Mehlen noch schnell von einer Versammlung in Grevenmacher. Hinter sich haben die Kandidaten zwei Werbebanner mit dem Parteilogo aufgespannt. Ihnen steht ins Gesicht geschrieben, wie froh sie sind, wenn diese abendlichen Auftritte vor einer Handvoll Leuten und die lustlosen Rundfunkdebatten endlich vorüber sind. Hoffnung auf einen Sitz am Sonntag machen sie sich nicht.
Dabei hatte die ADR seit Jahren verlangt, dass die Kammerwahlen und die Europawahlen zeitlich getrennt würden, damit „Europa nicht zu kurz kommt“, erinnert sich Gast Gibéryen. Denn bisher seien die Europawahlen „so nebenbei“ behandelt worden.
Doch der Wahlkampf zeigt, dass das alles gut gemeinter Unfug war. Die Zeiten sind längst vorbei, da Schuman-Plang und Ceca mit der Versprechen von Frieden und Wohlstand in Europa sowie der Aussicht, dass das winzige Luxemburg gleichberechtigt am Tisch der Großen sitzen darf, eine ganze Generation begeistern konnte, danach die Bequemlichkeit, ohne Grenzkontrollen nach Frankreich und Deutschland zu fahren und später dort sogar ohne Devisenumtausch einkaufen zu können. Seit das Versprechen eines sozialen Europas endgültig dem ungehinderten Wettbewerb geopfert wurde, das Bankgeheimnis und der elektronische Handel aufgegeben werden mussten, hat hierzulande die Zahl der Europagegner vielleicht nur wenig zugenommen. Aber dafür wächst die Zahl der Leute, welche die Europäische Union nur noch als notwendiges Übel betrachten. So wie Luxemburg einst die Preußen nicht leiden konnte und mangels Binnenmarkts der Zollunion angehörte oder danach eine Wirtschaftsunion mit Belgien eingehen musste, nachdem es in einem Referendum Frankreich bevorzugt hatte. Dabei haben selbst jene Wähler, die sich schwertun beim Rechnen, den Verdacht, dass ihre Stimme unter rund 380 Millionen Wahlberechtigten in der Europäischen Union ebenso wenig ins Gewicht fällt wie diejenige der sechs Luxemburger Abgeordneten inmitten der 751 in Straßburg.
Einen Tag nach der ADR muss auch DP-Kandidat Jeff Feller von einer „negativen Grundhaltung in der Bevölkerung“ im Wahlkampf berichten. Dabei ist der ehrgeizige Jurastudent „überzeugter Europäer“, wie seine ganze Partei. Doch in den sauber getünchten Festsaal des Junglinster Kulturzentrums konnten die Liberalen nicht mehr Zuhörer locken als die ADR. Sportlich leger gekleidete Mittelschichtfrauen, Beamte in Sakkos sitzen reihenweise vor dem Kandidatentisch.
Die Kandidaten fummeln diskret an ihren Handys, dann beginnt die Verkaufsveranstaltung. Die Tänzerin Sylvia Camarda wirbt professionell für das Erasmus-Plus-Programm, die Ex-Direktorin der Krebsstiftung, Marie-Paule Prost-Heinisch, für einen Konvent zur Reform der europäischen Verträge, die Anwältin Claudia Monti für Eurojust und Europol, der Unternehmensberater Claude Radoux für die günstige Besteuerung immaterieller Güter.
Nach einer Dreiviertelstunde trifft der allseits erwartete Spitzenkandidat „von einer anderen Versammlung“ ein. Er ist der Berufseuropäer, der auf den Wahlplakaten keinen Familiennamen mehr hat, sondern einen Markennamen, „De Charel“. Der kein Programm hat, sondern das Programm ist. Seine bei den Wahlen einträgliche Kunst ist es, sowohl die EU-Befürworter, als auch die Kritiker der Europapolitik hinter sich zu versammeln, indem er auch über alles klagt, was in der EU nicht geht und es eben „Aufgabe der Politiker“ sei, zu ändern. Auch auf die Gefahr hin, einmal seinem auf die Marktkräfte schwörenden Kollegen Radoux zu widersprechen. Denn für Goerens funktioniert vieles in Europa schlecht, „weil Europa nicht mehr auf der Solidarität basiert“. Europa habe fast alle Mittel abgeschafft, um in den Markt einzugreifen, Sozial- und Steuerdumping herrschten in Europa, wo keine Harmonisierung, aber Mindeststandards notwendig seien.
Die DP will das Gegenteil der ADR sein und ist ihr doch nicht so fremd. So wie die ADR beim Verfassungsvertrag gezögert hatte, zögerte die DP beim Maastrichter Vertrag. Und wenn die ADR ein Europa der Nationen verspricht, so preist die DP Charles Goerens auf Plakaten an jeder Straßenkreuzung überlebensgroß als blauen Riesen an, der „Gréisst weisen an Europa“ soll, was implizit auch die Verteidigung des Zwergstaats gegen Europa bedeutet.
Die DP-Zuhörer machen sich dieselben Gedanken wie das ADR-Publikum, nur drücken sie sie anders aus. Ein Bankangestellter in der hinteren Reihe stellt sich großspurig vor: „Ich bin ein Global Player“, der 1 000 Euro brutto mehr verdiene als sein Arbeitskollege aus Deutschland, aber dieser genieße günstigere Sozialleistungen zuhause. Ein anderer versteht nicht, dass Luxemburger Erdbeeren auf dem Wochenmarkt doppelt so teuer sind wie portugiesische im Supermarkt. Ein Viehzüchter klagt, dass er derzeit denselben Kilopreis bekomme wie vor 30 Jahren und ärgert sich: „Europa ist zu weit weg von den Bürgern, und wenn man so immer wieder welche aufs Maul bekommt, rückt es noch weiter weg!“
Wenn ein Wahlkampf keinen Menschen interessiert, versuchen die Kandidaten, ihn zum Richtungswahlkampf aufzubauschen. So auch bei der ADR: Es gehe um die Wahl zwischen einem zentralstaatlichen, föderalistischen Europa, wie es die anderen Parteien befürworten, meint Gast Gibéryen, und einem Europa der Nationen, wie es die ADR verlange. Dann erklären die Kandidaten einer nach dem anderen in viertelstündigen Portionen die Positionen der ADR, von der Richtlinie über das Hausieren bis zum Postengeschacher um Jean-Claude Juncker, von der Euro-Krise, der EU-Erweiterung und der Straßburger Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformisten bis zu den Fehlern in der Ukraine und den neun oder zehn Prozent Stimmen, die für einen Restsitz nötig sind.
Die europäische Integration war immer ein Projekt von oben, von Politikern und Industriellen, das die Unterstützung von unten, der Bevölkerung, suchte. Dazu brauchte es immer eine eingängige Erzählung, um bei Interessenskonflikten die Leute trotzdem von seinem Nutzen zu überzeugen. Sogar an der Universität Luxemburg forscht seit Jahren ein Programm „Gouvernance européenne“ nach den geeigneten Techniken, um Demokratie durch Akzeptanz und Kohäsion zu ersetzen.
Die eingängige Erzählung über die Europäische Union funktionierte bis zur liberalen Radikalisierung in den Achtzigerjahren. Ihre Schwäche zeigte sich dann schon in dem knappen Ausgang des Referendums über den Europäischen Verfassungsvertrag 2005. Doch dem seit der Finanz- und Wirtschaftskrise vor einem halben Dutzend Jahren entstehenden neuen Europa, dem Europa der Schuldenkrise, der Massenverarmung von Griechenland bis Irland, der autoritären Haushaltsregeln, des Diktats des deutschen Merkantilismus, der hilflosen Politiker, der mächtigen Zentralbank- und Kommissionsbürokratie, fehlt bis heute eine Ideologie, mit der es wieder die Herzen der Massen gewinnen kann.
Die Leidtragenden sind die Kandidaten, die in diesem Wahlkampf ratlos vor ihre Wähler treten mussten und keine neue europäische Ideologie zu verbreiten wussten. Die erleben mussten, wie ihre unzufriedenen Zuhörer sich mangels Besseren eine nationalistische Gegenerklärung zusammenreimten. Der Mangel fiel umso mehr auf, als der Europawahlkampf eben nicht, wie gewohnt, im Legislativwahlkampf unterging.
„Während Jahrzehnten versprachen die anderen Parteien, dass Europa immer demokratischer, immer transparenter und immer sozialer werde, aber das Gegenteil ist der Fall,“ stellte Gast Gibéryen fest. Doch selbst wenn die ADR auf Distanz zu der jahrzehntelang von fast allen Parteien verbreiteten Europhorie geht – auch ihr Publikum interessiert das alles nicht. Als am Montag endlich Zeit für die Diskussion war, legten die Zuhörer ihre Käsestullen zur Seite und ärgerten sich darüber, dass sie beim Einkaufen französisch reden müssen. Ein pensionierter Stahlarbeiter stellte kategorisch fest: „Wer mich nicht versteht, braucht mir nichts zu verkaufen.“ Und meinte nicht einmal die Europapolitik. Da schien es keine Rolle mehr zu spielen, ob bei der ADR Gast Gibéryen seine Zuhörer einlud, sich Stullen mit nach Hause zu nehmen, „damit sie nicht liegen bleiben“, oder während Charles Goerens Schlusswort bei der DP die Sektkorken knallten.